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Durch Krieg und Frieden: und siehe, wir leben: Biografie
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eBook555 Seiten8 Stunden

Durch Krieg und Frieden: und siehe, wir leben: Biografie

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Über dieses E-Book

Ein deutsches Schicksal im Wechsel der Zeiten: Der Autor blickt auf ein bewegtes Jahrhundert, im Nationalsozialismus beginnend, folgen die vaterlosen Jahre des 2. Weltkrieges mit ihrem katastrophalen Ende. Er erlebt danach den Einmarsch der Sowjetarmee, die Sowjetzone, die DDR. Es folgt die Flucht in den Westen, der Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, das andere deutsche System, für das er sich entscheidet - und ein bürgerliches Leben mit Studium in verschiedenen Universitäten, "Wanderjahre“ in den USA und schließlich Familienleben als Hochschullehrer und Arzt in einer norddeutschen Hanse- , Hafen- und Universitätsstadt.
Axel Fenner zieht es jedoch weiter: Ausstieg aus dem gesicherten Leben durch eine Einladung in den politisch instabilen Süden Afrikas nach Salisbury, Rhodesien, heute Harare, Simbabwe. Als Arzt arbeitet er an einer multirassischen Universitäts-Kinderklinik für ein Jahr. Durch die Geburt von Zwillingstöchtern wächst die Familie in Salisbury von 5 auf 7 Personen, ein weiteres Kind folgt bald. Zurück in Deutschland folgen die Stürme der Hochschulreform der siebziger Jahre, schließlich das hautnahe Erleben der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in der Grenzstadt Lübeck 1989/90. Erntejahre als Hochschullehrer und Wissenschaftler. Im Ruhestand Ausbildung zum C-Kirchenmusiker, Ausübung des nebenamtlichen Berufes bis Ende 2018, seitdem schriftstellerische Tätigkeit. Die Betrachtungen auf ein Leben in Kriegszeiten, Teilung, Wiedervereinigung eines deutschen Hochschullehrers - fallbeispielhaft wird ein ganzes Jahrhundert Geschichte erzählt.
SpracheDeutsch
HerausgeberOmnino Verlag
Erscheinungsdatum30. Nov. 2020
ISBN9783958941656
Durch Krieg und Frieden: und siehe, wir leben: Biografie
Autor

Axel Fenner

Axel Fenner wurde 1935 geboren. Studium der Medizin in Kiel, Freiburg, Wien, Heidelberg 1955-60. Promotion zum Dr. med. an der Universität des Saarlandes 1961. Tätigkeit in Universitäts-Kinderkliniken seit 1962: Cincinnati (Ohio, USA), Baltimore (Maryland), Lübeck, Deschapelles (Haiti), Harare (Simbabwe). Habilitation für das Fach Kinderheilkunde 1969 in Lübeck, Professur für Kinderheilkunde seit 1972. Ruhestand ab 2000. Ehe mit der Musiklehrerin Hete Nolte seit 1966, 3 Töchter, 3 Söhne, 8 EnkelInnen.

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    Buchvorschau

    Durch Krieg und Frieden - Axel Fenner

    Frühe Kindheit

    Phase I: Neustrelitz 1935-1937

    Es war eine scheinbar heile Welt, in die ich 1935 hinein geboren wurde! Meine Eltern Irmgard und Helmuth Fenner hatten zehn Monate vorher geheiratet, sie waren ein glückliches, optimistisches junges Ehepaar, beide fertig ausgebildete Ärzte, die sich in Neustrelitz angesiedelt hatten, nachdem Vater Helmuth dort eine Anstellung zur Ausbildung im Fach Chirurgie am sogenannten Carolinenstift angenommen hatte. Damals war es unüblich, dass beide Partner eines Ehepaares einer Erwerbstätigkeit nachgingen: die alte Ordnung galt noch: der Mann arbeitet und verdient das Geld für die Familie, die Frau besorgt Haushalt und Kinder.

    Adolf Hitler war seit zwei Jahren Führer des Deutschen Volkes, mit seinem Regierungsantritt war das Volk in einen Strudel des Glückes geraten: die Arbeitslosenquote war rapide gesunken, die Situation der Wirtschaft war in einem ständigen Aufstieg begriffen, eine allgemeine Begeisterungswelle hatte das Land erfasst – nur wenige kluge Leute, zu denen meine Eltern nicht zählten, sahen die Gefahren, die mit diesem starken Mann in der Führung verbunden sein konnten, wenn er sich nach und nach zum Diktator entpuppte und mit seinem Führungsanspruch die ganze Welt in einen chaotischen Krieg führte. Auch international war die Politik Hitlers zunächst nicht als gefährlich erkannt worden: nach den Schmähungen, die das deutsche Volk mit dem Versailler Friedensvertrag von 1919 hatte hinnehmen müssen, nach dem diesem Frieden folgenden Niedergang durch Massenarbeitslosigkeit und Inflation hatte er wieder Hoffnung für Deutschland wecken und internationale Anerkennung gewinnen können – glänzender Beweis war zum Beispiel die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin …

    Meinen Eltern war ich hoch willkommen: sie wünschten sich eine Familie, die Schwangerschaft war unkompliziert verlaufen, ich kam zum erwarteten Termin an, nachdem meine Eltern noch am Abend zuvor an einem Tanzfest am See teilgenommen hatten.

    Phase II: Waren-Müritz (1937 bis 1950)

    Meine Erinnerung setzt in unserem nächsten Wohnort Waren-Müritz ein: das ist eine an der Müritz und anderen Seen landschaftlich sehr reizvoll gelegene kleine Stadt – damals Kreisstadt – , in der sich meine Eltern knapp zwei Jahre später ansiedelten, nachdem sie sich entschlossen hatten, eine Praxis zu eröffnen: Helmuth hatte zwar den Facharzt für Chirurgie erworben, wollte aber gerne Allgemeinarzt (damals hieß das praktischer Arzt) sein und konnte in Waren einen vakanten Kassenarztsitz antreten. Das Haus, das wir bezogen, lag an der Hauptstraße – damals gab es noch wenig Autoverkehr, es war zweigeschossig und bot Platz für die Praxisräume, Wohnzimmer und Küche im Erdgeschoss, Schlaf- und Badezimmer im Obergeschoss, darüber war ein großer Boden, in dem zwei kleine Zimmer ebenfalls ausgebaut waren, dazu ein großer Trockenboden zum Aufhängen der nassen Wäsche, viel Stauraum. Dem Wohnzimmer in den Garten hinein vorgebaut war eine große Veranda, voll überdacht, auf der sich ein großer Teil unseres Sommerlebens abspielte. Im Winter diente sie hauptsächlich für mich – und bald auch für meine Brüder – in der Säuglingszeit zum Schlafen während des Tages, warm eingepackt im Kinderwagen. Ein wunderbarer Garten befand sich hinter dem Haus, in den man von der Veranda aus über eine Treppe gelangte – er war zweigeteilt in einen Spiel- und einen Nutzgarten, letzterer wurde in der bald folgenden Zeit der knappen Nahrungsmittel überlebenswichtig. Dieser Garten reichte bis an den Tiefwarensee, von dem er nur durch einen Spazierweg getrennt war. Sehr oft ging meine Mutter am Morgen im Badeanzug mit Bademantel durch den Garten zur nahegelegenen Badeanstalt, um vor Tagesbeginn schnell ins Wasser zu springen und ein paar Bahnen zu schwimmen.

    Sehr bald nach unserem Einzug in dieses Haus, das meine Eltern nicht kauften sondern mieteten, wurde mein Bruder Klaus geboren, als ich fast zwei Jahre alt war. Er gehört, so lange ich denken kann, in mein Leben, ist im Wesen sehr anders als ich und mir ein lebenslanger Vorwurf geblieben, weil er immer unter mir gelitten hat: als älterer war ich ihm natürlich in allen Künsten des Kinderlebens voraus – und später, als der Altersunterschied sich nivellierte, war ich in meinen wie in seinen Augen immer das Glückskind : ich machte die äußerlich glänzendere Berufskarriere, ich hatte die größere Kinderschar, war und bin glücklich mit der einen und einzigen Frau meines Lebens verheiratet – er dagegen musste bei seiner Frau ihren Suizid nach weniger als einem Ehejahrzehnt verkraften … Wenn ich an die Kinderzeit denke, waren wir als Brüder immer und überall gemeinsam unterwegs, dabei fühlte ich mich für ihn verantwortlich, wurde aber auch immer wieder zu Geduld und Toleranz vermahnt, da er mich oft herausforderte durch seinen so anderen Charakter. „Er ist doch der Kleine, er versteht das noch nicht", waren Worte meiner Mutter, die ich oft hören musste.

    Die ersten beiden Jahre in Waren waren Zeiten großen Glücks: meine Eltern fühlten sich wohl, Vater Helmuth war ein geborener Arzt in seinem freundlichen, warmherzigen, gütigen Wesen, das sich den Menschen öffnete und sie anzog. So wuchs die Praxis in erstaunlicher Geschwindigkeit – auch unter den Kollegen war er beliebt, da er fair und kollegial war. Schnell wurde er im Warener Beleg-Krankenhaus mit seinen chirurgischen Fähigkeiten zum Chefarzt gewählt, ein primus inter pares, der die Gelegenheiten zum Operieren gerne zusätzlich wahrnahm. Mutter Irmgard war eine glückliche Mutter und Hausfrau, und wurde zur leidenschaftlichen Gärtnerin in ihrem neuen Ambiente. Bevor sie dann, als das dritte Kind dazukam, immer ein Mädchen als Hilfe hatte – das Wort Dienstmädchen war auch damals schon nicht mehr gebräuchlich, obwohl diese hilfreichen Geister im wahrsten Sinne des Wortes dienstbar waren und sein mussten – hatte sie ein Pflichtjahrmädchen zur Hilfe im Haus: die Nazis hatten für jeden Jungen nach der Schulzeit den Arbeitsdienst alternativ zum Dienst an der Waffe als Soldat eingeführt, für die Mädchen ein Jahr sozialen Dienst, so würde man es heute nennen. Mit ihr arbeitete sie besonders gerne zusammen, weil sie eine junge Frau zwischen Schulabschluss und Studium war, der sie auf gleicher Bildungsstufe begegnen konnte: die späteren Mädchen kamen überwiegend aus sozial niedrigeren Kreisen, waren zudem auch erst 15 oder 16 Jahre alt – nach Abschluss des achtjährigen Volksschulbesuches.

    Als sich das dritte Kind angekündigt hatte und kurz vor seiner Geburt stand, kam mit der Kriegserklärung Hitlers die große Zäsur in unserm Leben: Vater Helmuth wurde gleich zu Beginn eingezogen, wie man das nannte: d.h. er wurde Soldat und kam sofort an die Front. Als Arzt war er von Beginn an Offizier, sehr bald wurde er Stabsarzt – dem Range des Hauptmanns entsprechend. Seine Erfahrungen als Arzt und Chirurg waren ideale Voraussetzungen für die Leitung einer Sanitätskompanie, die zunächst in Polen, dann in Holland und Frankreich und schließlich im Russlandfeldzug mit ihrem Hauptverbandsplatz immer unmittelbar hinter der kämpfenden Front zur Versorgung der Verwundeten eingesetzt war. Heimaturlaube in der Familie waren zu Beginn zwei- bis dreimal im Jahr, ab 1943 seltener, Mitte 1944 geriet er in russische Gefangenschaft – davon wird später zu berichten sein.

    Auch die dritte Geburt eines Sohnes, Jost, erfolgte ohne Komplikation mit der Hilfe der Hebamme Schwester Gertrud, die nach und nach für Mutter Irmgard eine enge Freundin wurde. Ja, Mutter war nun vor allem auf Freundinnen angewiesen, seitdem das Leben mit Helmuth sich überwiegend auf dem Weg der Feldpost abspielte. Schwester Gertrud, später deren Kollegin Schwester Erika, Frau Trudchen Schmidt – Ehefrau von Helmuths Berufskollegen und Bundesbruder Walter Schmidt, Frau Margarete Sick, ebenfalls Kollegenfrau und Mutter von zunächst drei, dann vier Töchtern – sie waren Irmis Freundinnen in den männerlosen Kriegsjahren. Der einzige Mann in der Freundesgruppe war Werner Sick: er war Oberarzt in Amsee, der Tuberkulose-Heilstätte nahe Waren, der immer mehr zum vertrauten Berater für Mutter Irmi wurde. Jost war ein temperamentvolles, unkompliziertes Kind von sehr heiterem Wesen – für mich ist er lebenslang der beste Freund unter meinen Brüdern geblieben.

    Die Zeitläufte erzogen meine Mutter zur Selbständigkeit: sie war die allein erziehende und bestimmende, sie war die Organisatorin der Familie, sie musste in Zeiten größer werdender Knappheit alles ranschaffen, was für die Familie wichtig war, sie musste alle Entscheidungen alleine treffen. Mit diesem Schicksal stand sie nicht allein da – Männer in wehrfähigem Alter , sofern sie noch in der Heimat waren, mussten jeden Tag damit rechnen, ihre Berufstätigkeit aufzugeben, um diese mit dem Soldatendasein zu tauschen. Was die Frauen in diesen Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit geleistet haben, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Gegen Ende des Krieges kam dann noch für viele Frauen die Evakuierung dazu – vor allem Familien aus den stark bombardierten Industriegegenden waren davon betroffen – Waren blieb von Bomben weitgehend verschont. Und die Frauen und Mütter in Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien sahen sich zum Schluss gezwungen, die Flucht vor der anrückenden sowjetischen Front mit furchtbaren Erlebnissen von Hunger und Kälte zu wagen, Wochen und Monate im strengen Winter 1944/45 voller Gefahren, ohne Obdach, ohne Nahrung, manchmal zu Verwandten, oft auch ohne festes Ziel – nur weg von den Russen...

    Schulzeit in Waren 1941 bis 1950

    Gerne und lebhaft erinnere ich mich an meine Einschulung im Herbst 1941: eine große Schultüte erhielt ich, und ich weiß wie heute, dass mein erster Lehrer, Herr Weide, von Beginn an meine große Zuneigung hatte: er war ein junger, freundlicher Mann, der so gar nicht dem Bilde des strengen, älteren Herrn mit dem Stock entsprach, das ich von einem Lehrer hatte. Solche bekam ich später auch. So war das erste Schuljahr für mich eine Zeit des großen Kenntnisgewinns! Das Wichtigste: ich lernte lesen und schreiben! Irgendwie war schreiben meine Welt – das wusste ich natürlich damals nicht, doch ich habe es das ganze Leben hindurch geliebt und eifrig betrieben, wo immer ich mich aufhielt – zu Beginn vor allem durch Briefe: an meinen Vater, an meine Großeltern in Dortmund, an meinen Großvater in Magdeburg, an meine Patentante und meinen Patenonkel. In der Erinnerung scheint es mir, als ob meine Adressaten auch immer geantwortet hätten – jedenfalls pflegte ich schon als Schulkind in den ersten Jahren eine lebhafte Korrespondenz. Ich lernte zunächst die alte Sütterlinschrift, erst im zweiten Schuljahr wurden wir umgepolt auf die lateinische Schrift. Und ich erwartete auch von meinen BriefpartnerInnen, dass sie mir anfangs in der Sütterlinschrift antworteten – später war es mir gleichgültig, welche Buchstaben sie wählten, weil ich beide Schriftarten lesen konnte.

    Ich war wohl das, was man ein Musterkind nennt: ob das in meinen Erbanlagen lag oder durch die besonderen Umstände bedingt war, weiß ich nicht: vielleicht hat beides zusammen gewirkt: als dem ältesten von uns Brüdern übertrug Mutter Irmi mir viel Verantwortung – später bedauerte sie immer, mich zu früh überfordert zu haben, vor allem so ab dem 10. Lebensjahr in der Phase des Kriegsendes und der Nachkriegszeit, in der mein Vater zunächst vermisst war und ihr nicht einmal mehr als brieflicher Gesprächspartner zur Verfügung stand. Wir drei Brüder waren jeweils im Abstand von zwei Jahren geboren worden. Nun kam 1943, nach fast vierjähriger Pause, noch Uwe dazu, dessen Fürsorge mir vor allem in der Zeit der Berufstätigkeit meiner Mutter, die ja nach dem Kriegsende einsetzte, anvertraut wurde. Ihn brachte ich abends zu Bett – vorher wusch ich ihn, dann kam er als erster ins Bettchen, ich betete mit ihm, wie ich es von Mutter Irmi gelernt hatte. Sie war beileibe keine fromme Frau – sicher hatte der Nationalsozialismus mit seiner antikirchlichen Ideologie dazu beigetragen, sie der Kirche zu entfremden; doch das abendliche Gebet war ein Ritus, den sie immer gepflegt und uns gelehrt hatte.

    Meine Schulzeit verlief vom Anfang im Herbst 1941 bis zum Januar 1945 weitgehend problemlos. Meine Volksschule für Jungen war 8-klassig, ich hatte mit dem Lernprogramm keine Schwierigkeiten. Ich war ein gesitteter, braver Junge, der wenig Kontakt zu seinen Mitschülern außerhalb der Schule hatte – sie waren mir großenteils zu raubeinig und wild. So wurde ich auch nie Opfer der damals in Jungenschulen noch viel praktizierten körperlichen Züchtigungen durch die Lehrer. Nur einmal, in der zweiten Klasse, erhielt ich eine schallende Ohrfeige: wir hatten ein Diktat zurück bekommen, in dem ich 0 Fehler hatte. Als Hausaufgabe sollten wir die Fehler berichtigen und das Diktat von Mutter oder Vater unterschreiben lassen. Nach der Pause ging ich mit strahlendem Gesicht und meinem Heft in der Hand zu Lehrer Meinke, gab es ihm zurück mit den Worten „ich muss ja nichts berichtigen und habe auch gleich für meine Mutter unterschrieben". Platsch – das saß! Verständnislos und mit Tränen in den Augen guckte ich ihn fragend an: die Unterschrift der Mutter, du? Das ist Urkundenfälschung, Erwachsene kommen dafür ins Gefängnis, das ist unglaublich... Ich hatte mit meinen sieben Jahren nicht verstanden, was die Unterschrift bedeutete, hatte diese gefälschte Unterschrift auch nicht mit den Schriftzügen meiner Mutter, sondern in meiner eigenen kindlichen Handschrift vorgenommen, um meiner Mutter die Mühe zu ersparen – es musste für den Lehrer offensichtlich sein, dass ein Täuschungsversuch meinerseits nicht vorlag; es war ohnehin meine Gewohnheit, alles aus der Schule zuhause zu erzählen. So lernte ich schlag-artig die Bedeutung einer Unterschrift verstehen. Aus meiner heutigen Sicht war Herr Meinke ein ebenso dummer wie unpädagogischer Lehrer! Heute würden Eltern für ihr Kind nach solchem Vorgang auf die Barrikaden gehen – damals war die Schule eine Autorität, deren Methoden man nicht hinterfragte.

    Ab Januar 1945 war es mit der Schule vorbei. Die Lehrer wurden großenteils in dieser letzten Phase des Krieges noch eingezogen und an die Front geschickt, das Schulgebäude wurde Lazarett. Nach dem Kriegsende wurden in unserer russisch besetzten Zone organisatorische und inhaltliche Veränderungen nach dem Vorbild des sowjetisch-kommunistischen Systems vorgenommen, erst im August ging es mit dem Unterricht weiter, nunmehr in der 8-klassigen Einheitsschule, bei der die Gymnasialausbildung nicht mehr nach dem 4. Schuljahr wie vorher, sondern erst nach dem Ende der Einheitsschulzeit, also nach 8 Jahren, erfolgte. Natürlich war Russisch ein wichtiges Lehrfach als erste Fremdsprache, das fing schon in der 4. Klasse an, in der ich damals saß. Von da an lief der Schulbetrieb wieder regelmäßig, wobei man viele Mängel auf sich nehmen musste: neue Schulbücher waren noch nicht fertig – die alten durften aus ideologischen Gründen nicht weiter verwendet werden. Es gab keine Hefte, es gab kein Schreibmaterial – ich erinnere mich, dass ich die unbedruckte Rückseite von einer Milchreklame benutzte, weil kein Schreibpapier vorhanden war. Und wir hatten Schichtunterricht: die Schülerzahl war am Ende des Krieges in Waren enorm angewachsen, weil so viele Flüchtlingsfamilien aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien auf ihrer Flucht nach Westen von den russischen Truppen überholt worden waren und nun bei uns eine erste neue Heimat gefunden hatten; doch der zur Verfügung stehende Schulraum hatte sich nicht vergrößert, deshalb gab es Vormittags- wie Nachmittagsunterricht, meist im wöchentlichen Wechsel. Doch allmählich pendelte sich alles wieder ein, mehr und mehr Lehrer wurden entnazifiziert und durften in ihre Posten zurückkehren, ein weiterer Pool von Lehrern waren die Heimkehrer aus der Gefangenschaft: als Soldaten waren sie – je nach Front – in russische, englische oder französische Gefangenschaft geraten, nun kehrten sie nach und nach in ihre Heimat zurück. Im Laufe der Jahre nahm die Indoktrination durch das kommunistische System in der Schule zu – das merkten die Eltern stärker als wir Schüler selbst, die wir noch unpolitisch waren.

    Großeltern in Waren

    Im Mai 1943 ereignete sich ein schwerer Bombenangriff auf Dortmund, der meine Großeltern Frieda und Karl Fenner obdachlos werden ließ. Sie hatten im Osten der Stadt ein schönes Haus bewohnt, in dem die Arztpraxis von Großvater Karl im Souterrain lag, darüber waren zwei Stockwerke Wohn- und Schlafräume für die Familie. Das Haus brannte völlig nieder, die Außenmauern blieben stehen. Wie es möglich war, dass viele Möbel gerettet werden konnten, weiß ich nicht: doch die Großeltern zogen für die Zeit eines guten Jahres mit einem kleinen Teil ihrer Möbel zu uns nach Waren. Meine Mutter konnte die Praxisräume von Vater Helmuth, die ja seit Kriegsbeginn nicht gebraucht wurden, ausräumen und den Großeltern zur Verfügung stellen. Sie bewohnten zwei große Räume und eine kleine Kammer, groß genug zum Schlafen für sie beide, Küche und Badezimmer benutzten sie mit bei uns. Meinen Großvater, der damals kurz über 70 Jahre alt war, habe ich als alten Mann in Erinnerung, immerhin nahm er uns Kinder – ich war 8 Jahre alt, noch zwischendurch auf seine Schultern, um mit uns reiten zu spielen. Scha-ritt...- Te-rapp... – im abgekürzten Tempo Galopp – das waren die Kommandos, die er sich selbst als unserem Pferd gab, entsprechend dann seine Bewegungen. Natürlich war das dritte Kommando für uns Kinder das schönste. Er hatte bis zum Tag der Bombardierung Dortmunds seine Praxis als praktischer Arzt betrieben. Meine eigene Zuneigung galt vor allem meiner Großmutter, die wir Omi nannten: Omi und Großpapa, so redeten wir Kinder die beiden an. Omi hatte einen schwungvollen Schritt, wirkte gar nicht alt auf mich, sie liebte mich sehr, was ich herzlich erwiderte. Gern nahm sie mich auf ihre Einkaufs- und Spaziergänge mit, dann trug sie stets einen Hut mit einem Netz vor dem Gesicht, Schleier genannt, von dem sie behauptete, dass er ihr Gesicht wärme, was mir gar nicht einleuchten wollte, da er ja nur aus Löchern bestand. Wir hakten uns dann ein, sie lehrte mich den Wechselschritt, der uns ins gleiche Schrittmaß brachte. Gern saß sie am großen Schreibtisch ihres Mannes, der immer las, und schrieb Briefe: dann saß ich ihr gegenüber auch am Schreibtisch und schrieb ebenfalls: Briefe, Hausaufgaben für die Schule... Schon damals hatte ich eine erstaunlich ausgedehnte Korrespondenz, in erster Linie mit meinem Vater im Feld – so sprach man von den Soldaten, aber auch mit Onkeln und Tanten, die ich teilweise nur aus Erzählungen kannte. Zwischendurch spielten wir Mühle: noch ein Mühlchen, Axel?, pflegte sie zu sagen.

    Mutter Irmi war nicht glücklich über diese räumliche Nähe zu ihren Schwiegereltern, aus naheliegenden Gründen: sie war ja eine unwillkommene Schwiegertochter gewesen. Doch die Haushalte liefen einigermaßen getrennt – Streit zwischen den beiden Frauen gab es gelegentlich in der Küche, die von beiden benutzt wurde. Die Großeltern wollten auf Dauer nicht bei uns bleiben und freuten sich, als sich nach einem Jahr etwa eine Wohnmöglichkeit in Neukirchen (Hessen) für sie auftat: das war die kleine Stadt, in der Großvater Karl sein Elternhaus gehabt und die beiden sich kennen gelernt hatten: so verband beide eine schöne Vergangenheit mit diesem kleinen Ort, und dorthin zogen sie, zumal in Dortmund nach der 90 prozentigen Zerstörung der Innenstadt an eine Wohnmöglichkeit nicht mehr zu denken war. Großpapa verstarb dort 1946, Omi lebte allein dort weiter bis über ihr 90. Lebensjahr hinaus, zuletzt war sie in einem Dortmunder Altersheim. Die Grabstätten der beiden auf dem Neukircher Friedhof sowie auch die der Fenner´schen Ahnen sind erst in den ersten Jahren des 3. Jahrtausends aufgelöst worden.

    Schwere Zeiten für die Familie

    Die große Katastrophe in unserem Familienleben kam im Sommer 1944.

    Irmis Welt geriet in Unordnung! Am 30. Juni 1944 war alles anders geworden: an dem Tage hatte die Post ihr ein winziges Briefchen gebracht, das ihre innere Orientierung zerstörte: Helmuth war – vermutlich – in russische Gefangenschaft geraten. In dem Briefchen hatte er ihr mitgeteilt, dass seine Kompanie eingekesselt war bei Mogilew, dass er angesichts der feindlichen Übermacht keine Möglichkeit mehr sah, mit seinen Leuten auszubrechen aus der Umzingelung, dass er im Interesse aller beschlossen hatte, sich zu ergeben. Er sah dies als die bessere Überlebenschance für sich und seine Soldaten, besser als die Verteidigung bis zum letzten Mann, bei der sie vermutlich alle zu Tode gekommen wären.

    Ihr blieb die Ungewissheit! War alles nach seinem Plan gelaufen? Hatte es bei der Gefangennahme doch noch Schießereien gegeben, bei denen einige der Männer – vielleicht auch ihr Helmuth – verwundet oder erschossen worden waren? Wie gingen die Sowjet-Soldaten mit deutschen Gefangenen um? Ihr Ruf war erschreckend: Hunger, Kälte, Folter, Verhöre, Misshandlungen – all dies wurde ihnen nachgesagt. Würde sie Helmuth je wiedersehen, ihr gemeinsames Leben fortsetzen können? Sollte sie weiter auf den Sieg der deutschen Soldaten vertrauen oder auch nur hoffen?

    Der einzige kleine Trost: er war – sie konnte hoffen: nicht tot! Es war möglich, dass er am Leben war, es konnte sein, dass er eines Tages nach Kriegsende aus der Gefangenschaft entlassen und zu ihr und uns vier Söhnen zurückkommen würde. Wie würde das Leben für sie jetzt weiter gehen, wie würde sie die Ungewissheit über sein Schicksal ertragen können?

    Sie hatte keine Wahl: da waren die vier Söhne: Axel, 9, Klaus, 7, Jost, knapp 5 Jahre alt – schließlich Uwe, der soeben das erste Lebensjahr hinter sich hatte. Ihn hatte Helmuth nur einmal erlebt bei seinem letzten Fronturlaub Weihnachten 1943 – da war Uwe 7 Monate alt. Die Kinder brauchten sie, und so lebte sie weiter wie bisher – von außen gesehen, doch in ihre Seele war die Ungewissheit eingedrungen.

    Rückblende I: Biographie der Mutter

    Irmi war 1944 36 Jahre alt, hatte schon ein wechselvolles Leben hinter sich. Geboren in Trakehnen an der Grenze des großdeutschen Reiches zu Russland, als zweites Kind ihrer Eltern Hildegard und Max. Hildegard kam aus einer alten Adelsfamilie, war durch den Tod der Mutter früh Halbwaise geworden – der Vater hatte die Kinder zu Verwandten gegeben, weil er selbst beruflich viel unterwegs sein musste und seine Kinder gut versorgt wissen wollte. Max kam von der Zainhammermühle in Eberswalde, wo sein Großvater und sein Vater als Besitzer dieser Wassermühle zu Wohlstand gelangt waren. Als Nachfolger für das Betreiben der Mühle war sein älterer Bruder Fritz vorgesehen – so studierte Max Pharmazie und konnte die Apotheke in dem kleinen Ort Trakehnen übernehmen, die mehr mit der Herstellung von Medikamenten für Pferde als für Menschen befasst war – die berühmten „Trakehner bildeten die Grundlage für den Reichtum in der kleinen Stadt. Irmi hatte dort das Licht der Welt erblickt, war bis zum Alter von knapp 10 Jahren behütet aufgewachsen, hatte eine Vorschule in der Kreisstadt Stallupönen (später: Ebenroda) besucht, in der sie durch ihren guten Verstand aufgefallen war. Sie musste erleben, wie die väterliche Apotheke, in der die Familie auch wohnte, im Jahre 1917 im Rahmen der Kriegshandlungen von russischen Soldaten abgefackelt wurde, die Familie siedelte dann nach Magdeburg um, wo Vater Max die „Nordfront-Apotheke in der Pfälzer Straße kaufen konnte – weitgehend finanziert von dem Erbe seine Frau Hildegard. Irmi war in Magdeburg aufs Mädchenlyzeum gekommen, das sie gerne und ohne Schwierigkeiten durchlief. Just als sie kurz vor dem Abschluss war, wurde den Schülerinnen die Möglichkeit eröffnet, nach der mittleren Reife auf ein Jungengymnasium zu wechseln mit dem Ziel, Abitur zu machen: Irmi nahm diese Möglichkeit wahr, hatte viel Latein nachzuholen, kam ansonsten aber gut mit und bestand mit 19 Jahren die Reifeprüfung an der Studienanstalt zu Magdeburg. Ihr Vater ermutigte sie, zu studieren – sie wählte Medizin und erlebte eine Studienzeit an den Universitäten Freiburg, Bonn, Rostock und Heidelberg, aus der viele Fotos von sportlichen Unternehmungen, Festen, Freiheit und einem sorglosen Studentendasein zeugen. Als Studentin war sie damals nicht mehr unbedingt eine Ausnahmeerscheinung, aber deutlich in der Minderheit. Doch die Männergesellschaft mochte sie, den Anforderungen des Studiums war sie gewachsen, sie verfolgte ihr Ziel mit Konsequenz, die Hürden der Prüfungen im Physikum und Staatsexamen bestand sie ohne Probleme. Auch ihre Dissertation in Heidelberg meisterte sie – überwiegend noch im Rahmen des Studiums.

    Rückblende II: Biographie des Vaters

    Helmuth, 2 ½ Jahre älter, begegnete ihr in Heidelberg. Er war im Studium der Medizin wenig weiter als sie, weil er zunächst ein Jurastudium begonnen hatte und erst später auf Medizin umgesattelt war. Er kam aus Dortmund, in seinen Adern mischten sich hessisches und rheinisches Blut – letzteres manifestierte sich in seiner Frohnatur, die ihn zum beliebten Mittelpunkt im Kreis der Studenten machte. Die beiden kamen sich näher, wurden Freunde, Verlobte … Helmuths Familie war nicht begeistert: seine Mutter hatte im reichen Ruhrgebiet eine Industriellentochter für ihn ausgeguckt – er hatte sie gemocht, sich aber nie in sie verliebt – das war bei Irmi anders. Für seine konservativen Eltern war Irmgard zu modern: sie studierte, sie hatte einen Bubikopf, wie man die Damenfrisur nannte, wenn die Haare relativ kurz geschnitten waren, sie rauchte Zigaretten, sie gab sich emanzipiert – nein: das war nichts für Helmuth: seine Mutter reiste zu seinen Chefs in seiner Zeit als junger Assistenzarzt an der Klinik, warnte die Herren Professoren vor der Verbindung ihres Sohnes mit Irmgard Lorenz – Helmuth wich geographisch nach Osten aus, nahm eine Stelle in der Chirurgie am Carolinenstift in Neustrelitz (Mecklenburg) an, um weit vom Schuss zu sein: seine Mutter fuhr auch dort im Mercedes mit Chauffeur vor, um diese Verbindung nicht zu fest werden zu lassen. Es half nichts: die beiden jungen Menschen blieben bei ihrem Entschluss, gemeinsam durchs Leben zu gehen – die Familie musste schließlich nachgeben. Irmis Vater Max ließ sich nicht lumpen: er richtete von Magdeburg aus ein wunderbares Hochzeitsfest 1934 auf der Huysburg aus.

    Rückblende III: Junge Familie in Friedens- und Kriegszeiten

    So war in Neustrelitz ihr erstes Nest – Helmuth ließ sich zum Chirurgen ausbilden, Irmi wurde gerne Hausfrau, und im nächsten Jahr auch Mutter von mir, ihrem ersten Sohn Axel. Eine glückliche junge Familie, die an freien Wochenenden die schöne Umgebung der Mecklenburgischen Seenplatte im offenen DKW er-fuhr, ihre Tagesreisen dehnten sich nach Norden bis zur Ostsee aus. Helmuth wollte Hausarzt werden. Mecklenburg war ihm in zwei Jahren zur Wahlheimat geworden. In Waren an der Müritz eröffnete er eine Praxis mitten in der kleinen Stadt, mietete dazu ein Einfamilienhaus, in dem Praxisräume und Wohnung Platz hatten. Der Umzug erfolgte kurz vor Irmis Niederkunft mit Klaus, dem zweiten Sohn. Der jungen Familie ging es gut, die dunklen Wolken am Horizont der Politik unter der Herrschaft Adolf Hitlers waren noch weit weg.

    1939 – es war kurz vor der Geburt des dritten Sohnes Jost, erklärte Hitler den Krieg an Polen. Unpolitische Menschen wie Irmi und Helmuth sahen die Gefahren nicht – sie ließen sich von der allgemeinen Welle der Euphorie tragen, die damals die meisten Menschen in Deutschland erfasst hatte. Helmuth war in den vergangenen Jahren immer zwischendurch militärisch ausgebildet worden – er meldete sich sogleich freiwillig für den Kriegsdienst als Arzt, durfte zunächst im Range eines Oberarztes (dem Oberleutnant entsprechend) verantwortliche Aufgaben als Chirurg wahrnehmen im Polenfeldzug, danach in Holland und Frankreich, wo er zum Stabsarzt avancierte. Er sah die Entwicklung von der positiven Seite: Deutschland als dominierende Nation in Europa – das schien doch ein guter Plan zu sein. Irmi war realistischer, skeptischer: immer mehr Länder stiegen in den Krieg mit ein, insbesondere England war ein starker Gegner: es war gut ausgerüstet, hatte eine potente Industrie durch die Rohstoffe, die es aus seinen Kolonien in der ganzen Welt importierte und die unschwer zu einer Kriegsindustrie umfunktioniert werden konnte. Die USA schlossen sich dem Krieg als Feinde Deutschlands an. Doch Hitler, berauscht von seinen anfänglichen Erfolgen, erklärte schließlich sogar dem riesigen Sowjetrussland den Krieg. So konnte es nicht ausbleiben, dass die Gespräche zwischen Irmi und Helmuth – in ihren Briefen und während seiner Heimaturlaube, einen ernsteren Charakter annahmen: Helmuth blieb optimistisch – der Glaube an die in Entwicklung befindlichen Wunderwaffen erhielt die Hoffnung auf den Sieg der Deutschen aufrecht, mehr und mehr wurden Presse- und Redefreiheit eingeschränkt, so dass man auch in den privatesten Kreisen vorsichtig sein musste, wenn man eine von der offiziellen Meinung abweichende Idee äußerte.

    Zwei Entwicklungen wurden den Deutschen zum Verhängnis: der Bombenkrieg aus der Luft – und die unendliche Weite der russischen Gebiete. Den Bombenkrieg führte vor allem England: Ziel waren die kriegswichtigen Industrieanlagen, die Transportwege – Eisenbahn- und Straßenverbindungen, im späteren Stadium der totalen Kriegsführung wurden auch die Wohnbereiche angegriffen, so dass eine enorme Völkerwanderung innerhalb des deutschen Reiches einsetzte: Menschen, die ihr Haus verloren hatten, brauchten neuen Wohnraum – meist waren es die Menschen aus den großen Industriestädten des Westens, die in die östlichen Gebiete geschickt und dort zwangseinquartiert wurden; die zweite Entwicklung war der Krieg im Osten: die russische Bevölkerung floh vor den eindringenden deutschen Soldaten weiter nach Osten, oft steckten die Leute vor ihrem Auszug die Dörfer in Brand, so dass deutsche Soldaten ins Vakuum marschierten, wo sie dann weder Behausungen noch Nahrung vorfanden. Die Winter waren sehr kalt – schon in Deutschland, aber erst recht im Osten, allmählich erstarkte die russische Armee, so dass die Gefechte heftiger und für beide Seiten verlustreicher wurden...

    Russische Kriegsgefangenschaft für Vater Helmuth 1944 bis 1948

    In diese Situation hinein, die Irmi immer pessimistischer hatte werden lassen, kam nun noch die Nachricht von Helmuths Ende – das Ende seines Soldatenlebens – und hoffentlich nicht auch sein Lebensende. Und noch ein Schlag kurz zuvor ebenfalls im Juni: die Landung der westlichen Feinde in der Normandie, also auf dem europäischen Festland. Damit wendete sich das Kriegsglück der Deutschen: nun drangen alliierte Truppen von Frankreich aus nach Osten auf Deutschland zu, und auch die Stoßrichtung im Osten kehrte sich mehr und mehr um: die deutschen Truppen mussten vor der Übermacht des russischen Heeres zurückweichen, der Krieg bewegte sich auf Deutschland zu – nun also von Westen und von Osten.

    Irmis Verzweiflung war groß. Das ungewisse Schicksal von Helmuth, die näher rückende Kriegsgefahr, ihre Verantwortung für vier Kinder: 1943 war als 4. Sohn noch Uwe dazu gekommen, wieder ein schönes, gesundes Baby, für das sie nun die alleinige Verantwortung tragen musste. Wer sprach mit ihr, wer tröstete sie? In ihrer Neustrelitzer Zeit hatten Helmuth und sie die Familie Josephi kennen gelernt und sich freundschaftlich mit ihr verbunden: Herr Josephi war Chefredakteur der lokalen Zeitung und wurde wegen eines körperlichen Handicaps nicht zum Kriegsdienst verpflichtet – Folge einer Verwundung aus dem ersten Weltkrieg. Irmi suchte die Gesellschaft dieser Freunde, fuhr per Eisenbahn immer mal wieder zu ihnen – oft nur zu einem Tagesbesuch, von dem sie am Abend zurückkehrte: hier konnte sie ihre Sorgen äußern, sich anvertrauen, hier stieß sie auf Verständnis und Empathie.

    Wie stellt ihr euch die Zukunft vor? Fred Josephi blieb optimistisch: „wir stehen kurz vor der Fertigstellung der V2 – sie wird den Kriegsverlauf umkehren und uns Deutschen den Endsieg bringen. Aber ist es denn vorstellbar, dass eine einzige Waffe, auf London gerichtet, das ganze komplexe Kriegsgeschehen ändern kann? Seht Euch die Landkarte an: wir werden von Osten und Westen in die Zange genommen, immer mehr deutsche Soldaten fallen und werden verwundet, die Industrie kann die erforderliche Menge an Munition nicht mehr liefern – das ist doch ein Wahnsinn, das kann nicht mehr gut gehen." „Wenn die V 2 erstmal gefeuert wird, werden sich neben London auch andere Ziele finden: Moskau, Paris …" Und persönlich weiß ich nicht mal, ob ich mir noch einen Sieg der Deutschen wünschen soll – was wird dann aus Helmuth? Werden die Russen nicht alle Gefangenen töten, wenn sie erneut in Not geraten sollten?" Ach Irmi, wir können das alles nicht voraussehen – uns bleibt jetzt nichts anderes übrig als von Tag zu Tag das beste aus unserem Leben zu machen. Du hast deine Kinder, lebst in einem schönen Haus, dem auch keine Bombe droht, da Waren einfach zu unbedeutend ist in den Augen der Feinde..." Fuhr sie getröstet von solchen Besuchen nach Hause? Zumindest hatte sie Verständnis gefunden, ihre Sorgen einmal abladen können und sich in der warmen Atmosphäre der Freunde gut gefühlt.

    Ein anderer guter Freund war Herr Sick, Oberarzt der Tuberkulose-Heilstätte etwas außerhalb von Waren, am Tiefwarensee idyllisch gelegen. Er war wegen einer eigenen Tuberkulose, die zum Stillstand gekommen war, nicht in den Kriegsdienst eingezogen worden sondern verrichtete seine Tätigkeit als Arzt an akut an Tuberkulose erkrankten Patienten. Im Winter lief er die 3 km in die Stadt per Schlittschuh, dann besuchte er Irmi gern zu einem Kaffee – in der knappen Kriegszeit meist ein Muckefuck genannter Ersatzkaffee, und zu einer gemütlichen Zigarette. „Verlassen Sie Waren, Frau Fenner, sagte er am Ende des Krieges oft zu ihr: „Sie sind als Frau den Horden der sowjetischen Soldaten schutzlos ausgeliefert, Sie müssen sich mit ihren Kindern nach Westen orientieren. „Wie soll das gehen, Herr Sick, ich kann doch hier nicht alles im Stich lassen und ins Blaue hinein fahren, ich habe keine Verwandtschaft, die mich aufnehmen könnte. „Sind denn nicht der Bruder ihres Mannes und seine Familie in Dortmund? „O nein, mein Schwager ist selber Soldat, und seine Familie ist nach Thüringen evakuiert – wegen der Bedrohung durch die Luftangriffe: Dortmund ist für die Feinde ein wichtiges Bombenziel, in Dortmund ist es viel zu gefährlich. Und eigene Verwandte?: meine Schwester ist mit ihren drei Kindern ebenfalls aus der Großstadt München in eine Kleinstadt in Oberbayern evakuiert worden, weil auch München immer wieder bombardiert wird. Sie lebt in einer kleinen Wohnung sehr beengt und kann nicht noch weitere fünf Personen beherbergen. Und wie soll es technisch gehen? Die Züge sind überfüllt mit Flüchtlingen, außerdem fahren sie unzuverlässig, weil auch die Schienen aus der Luft ständig zerstört werden. „Aber haben Sie nicht noch ein Auto in der Garage aus der Vorkriegszeit? „Ja, das steht dort auf Holzböcken, es wäre mobilisierbar, doch denken Sie mal: wir haben Temperaturen von minus 10° und niedriger: ich hätte Angst, der Motor würde am Morgen nicht anspringen – und ich käme auf den Straßen nicht vorwärts, weil alle Straßen verstopft sind von Trecks mit Flüchtlingen auf dem Wege nach Westen und von Militärfahrzeugen. Nein, das ist unmöglich".

    Ihre schlaflosen Nächte. Im Zigarettenrauch versuchte sie, ihre Grillen zu vertreiben: von Helmuths Tod – war er bei der Gefangennahme doch noch einem finalen Schusswechsel zum Opfer gefallen? Lebte er in einem Gefangenenlager – wie schlief er dort, wie arbeitete er, bewegte er sich unter seinen Mitgefangenen, durfte er als Arzt tätig sein oder musste er Bäume fällen oder Eisenbahnschienen verlegen? Was kriegte er zu essen? Gab es in seiner Behausung eine Heizmöglichkeit...? Ihr klares Hirn mochte sich nicht beruhigen – immer wieder wachte sie aus dem Schlaf auf und lief dann rauchend im Zimmer auf und ab.

    Die Sirene vom Rathaus – in der Nacht schien sie soviel lauter zu sein: dreimal ertönte sie – das bedeutete: alle Menschen in die Keller und Bunker. In dem großen Vorratskeller waren schon lange Lagerstätten für uns Kinder errichtet worden: nun wurden wir geweckt – schlaftrunken zogen wir die bereitliegenden Matrosenanzüge über unsere Nachthemden, dann Schuhe an und im Licht der Taschenlampe in den Keller gestolpert – Uwe musste getragen werden, er war noch ein Baby. Natürlich schrie er – doch in seiner warmen Kiste, die ihm mit entsprechender Auspolsterung als Kellerwiege gezimmert worden war, schlief er schnell weiter. Im Treppenhaus Leben: auch die Mitbewohner kamen aus ihren Zimmern und suchten im wechselnden Halbdunkel den Weg nach unten. Wenige Minuten später Klingeln und Rütteln an der Haustür: Irmi guckte in eine Taschenlampe, die von einem Mann mit Stahlhelm ins Hausinnere gerichtet war: Heil Hitler, alle Mann im Keller? Ja. Danke, Heil Hitler. Auf Wiedersehen, sagt Irmgard. Schon nach 28 Minuten wieder die Sirene vom Rathaus: Entwarnung – die Gefahr vorüber. Es ist 2 Uhr 40. Soll man die Kinder im Keller schlafen lassen oder alles rückgängig machen in der Hoffnung, das dies die letzte Störung der Nacht war? Offenbar waren feindliche Flieger auf dem Weg zu einem anderen Ziel über Waren hinweg geflogen, ohne eine Bombe abzuwerfen... Das war nur einmal passiert – eine Luftmine war abgeworfen worden und in die Müritz gefallen – in der Stadt hatte es gewaltig geklirrt, Fensterscheiben waren allenthalben zu Bruch gegangen. Beim Gang durch die Stadt bei Tageslicht sah man es: Schaufenster ohne Glas, die Scherben und Splitter auf dem Gehweg verstreut, bei vielen Geschäften und bei einigen Wohnhäusern: der gewaltige Luftdruck hatte die Scheiben platzen und zu Bruch gehen lassen. Ansonsten blieb Waren von Bomben verschont – die Luftmine in diesem Sommer 1944 war wochenlang Stadtgespräch. Es war nicht leicht, Ersatz zu beschaffen, die Industrie war auf die Produktion von Rüstungsgütern umgestellt worden, für die Bedürfnisse der Zivilbevölkerung gab es nur wenige Produktionsstätten, die ihrerseits knapp mit dem nötigen Material beliefert wurden: in diesem Falle war Glas vonnöten – aus Mangel blieb manches Fenster lange mit Holzbrettern vernagelt, bevor das nötige Glas geliefert werden konnte. Und nicht nur an Material mangelte es, sondern auch an Fachleuten, die Scheiben zurechtschneiden und einsetzen konnten: überall in der Heimat waren die Männer zum Militär eingezogen worden, vielfach sprangen mehr oder weniger gut ausgebildete Kriegsgefangene für sie ein: bei uns vor allem die Polen, die auch den Friseurladen unter der Leitung der Ehefrau des im Felde kämpfenden Ladeninhabers am Laufen hielten. „Na, kleinerr Otto?" – so begrüßte der polnische Friseur uns Jungen, wenn wir zum Haareschneiden in den Laden kamen.

    Der letzte Kriegswinter 1944/45 sehr kalt! Zentralheizungen mussten mehr und mehr stillgelegt werden – Koks war nicht mehr zu bekommen. Also Öfen in einzelnen Zimmern. In unserem Haus waren in einigen Räumen noch riesige Kachelöfen aus der Zeit vor der Zentralheizung stehen geblieben – welch ein Glück! Lange musste man auf den einzigen Schornsteinfeger warten, der nachprüfte, ob die Öfen noch einen funktionierenden Anschluss an den Kamin hatten, der in Zimmern, in denen kein Ofen stand, einen Kanonenofen aufstellen und anschließen musste – wenn man denn einen abgestellten auf dem Speicherboden fand – selbstverständlich gab es keine Öfen zu kaufen. Und Heizmaterial?: überwiegend Holz, das man mit viel Glück in genügender Menge beim Förster bestellen konnte, der es, meist als meterbreit geschnittene dünne Baumstämme lieferte. Säge und Axt wurden vom Boden geholt, man musste das Holz selbst zerkleinern und dann in Mieten draußen lagern. Kinder wurden von ihren Eltern in den Wald geschickt zum Sammeln von Anfeuerholz, Zweige vom Waldboden, möglichst trocken. Kleine Lieferungen von Briketts gab es manchmal – solche Möglichkeiten breiteten sich per Mundpropaganda in Windeseile aus: bei Kreye gibt es jetzt Briketts auf Bezugschein, schnell hin. Dann fand man eine Schlange vor, in die man sich geduldig einreihte. Manchmal waren dann wenige Leute vor einem in der Schlange die letzten, die von dem Vorrat was bekamen – alle anderen mussten mit leeren Händen nach Hause gehen, immer auf eine nächste Gelegenheit hoffend.

    Auch mit Lebensmitteln lief es so, die eine Besonderheit außerhalb des normalen Bedarfs darstellten. Bei Schmidt gibt es heute Gänse – eine Weihnachtsgans – ist das die Möglichkeit? Natürlich war man schnell bei dem Fleischerladen, bei dem es ansonsten überwiegend Hackfleisch und auch mal Schweinefleisch auf Lebensmittelkarten gab. Eine Weihnachtsgans – ein Traum! Diesmal war man unter den Glücklichen, die noch eine abkriegten, noch im vollen Federkleid. So musste sie zuhause erstmal gerupft werden – das passierte in der Waschküche im Keller, die nicht jeden Tag zum Waschen benutzt wurde. Die Federn?: natürlich sammelte man sie in einen Sack – alles konnte man brauchen damals – wer weiß, wann und zu welchem Zweck... Der nächste Akt war das Ausnehmen: was konnte man von den Innereien essen? Leber, gebraten mit Apfelstücken – ein Hochgenuss für Irmi, seit langem entbehrt. Axel und Klaus durften probieren: uh wie komisch, ne, schmeckt nicht. Umso mehr genoss Mutter die seltene Fleischmahlzeit. Suppe aus Gänseklein – eine erste Mahlzeit. Der Braten wurde zum Feiertag im Backofen bereitet – wenn man Glück hatte ohne Stromsperrstunden. Aber längst hatte auch ein alter Herd in der Küche Einzug gehalten – bei Stromsperrstunden musste man den Herd mit Holz beheizen, das war umständlicher, aber möglich. War noch Rotkohl im Keller? Ein Mahl wie in Friedenszeiten – so sagten die Erwachsenen unter sich. Die Friedenszeiten – sie waren für uns Kinder ein Zauberwort: in Friedenszeiten kann man alles kaufen, sagte Mutter, da gibt es keine Bezugscheine oder Lebensmittelkarten. Auch ein neues Fahrrad oder einen Ball – einfach so? Einfach so: man geht in den Laden, sucht sich einen aus und bezahlt dann an der Kasse, das ist alles. Das Paradies... Würden sie je wieder kommen, die Friedenszeiten? Der Krieg währte nun schon länger als fünf Jahre – am Anfang waren wenige Monate vorausgesagt worden, so tüchtig und schlagkräftig sollte das deutsche Heer sein...

    Kriegsende 1945

    Trecks begannen durch die Straßen zu rollen: Planwagen, langsam von Ackergäulen gezogen, die aus dem fernen Osten seit Wochen unterwegs waren auf der Flucht vor der herandrängenden russischen Armee. Im Wagen saßen die Menschen, die dazu gehörten: Großeltern, Mutter, Kinder – Männer im mittleren und jüngeren Alter gab es nicht, sie kämpften an den Fronten für Deutschlands Sieg! Sieg? Allmählich erwachte man zu der Erkenntnis, dass ein Sieg immer unwahrscheinlicher wurde: von Westen drängten die Truppen der Alliierten auf Deutschland zu – noch spielten sich die immer erbitterter werdenden Kämpfe in Frankreich ab, verlustreiche Schlachten, die viele Todesopfer, viele Verwundete und viel Material forderten, und für alles gab es kaum noch Nachschub: doch, die Behörden fanden hier und da noch einen Mann, der Kriegsdienst leisten konnte und prompt aus der Heimat abgezogen und an die Front geschickt wurde. Ein Notabitur wurde an Schulen eingerichtet, damit man Schüler ab 17 Jahren rekrutieren konnte. Die Munitionsfabriken produzierten noch Waffen und Schussmaterial – dort arbeiteten Kriegsgefangene und junge Frauen, die nötiger da als in einem zivilen Beruf gebraucht wurden. Aber auch das Material zur Herstellung von Waffen und Munition wurde knapper, Fabriken mit deren Produktion wurden durch Luftangriffe zerstört. Und doch durfte offiziell niemand einen Zweifel am Erfolg des deutschen Heeres laut äußern – die hervorragende Propaganda sorgte dafür, dass in den Meldungen alle Kriegsberichte aufbereitet und als Sieg für die deutschen Truppen verbrämt wurden. Dennoch breitete sich Pessimismus aus: immer wieder kamen Meldungen über gefallene Soldaten: hier ein Familienvater, da ein Sohn – die Trauer der Hinterbliebenen konnte nicht verborgen bleiben. Wie informierte sich Irmgard? „Dadadada---dadadada" – der Anfang von Beethovens

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