Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ein Band von meinem Herzen bricht: Geistlicher Missbrauch - Hintergründe, Irrwege und mein Weg in die Freiheit
Ein Band von meinem Herzen bricht: Geistlicher Missbrauch - Hintergründe, Irrwege und mein Weg in die Freiheit
Ein Band von meinem Herzen bricht: Geistlicher Missbrauch - Hintergründe, Irrwege und mein Weg in die Freiheit
eBook225 Seiten3 Stunden

Ein Band von meinem Herzen bricht: Geistlicher Missbrauch - Hintergründe, Irrwege und mein Weg in die Freiheit

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Elke Schmidle will mehr von Gottes Gegenwart – doch sie gerät in den Bann einer geistlichen Leiterin. Die Spirale der Abhängigkeit führt immer tiefer bis hin zu systematischer Freiheitsberaubung. Dann der Ausstieg, vorsichtiges Heilwerden und das Aufdecken der Prägungen, die solchen Missbrauch erst ermöglichten. Elke Schmidles Buch macht Mut für ein neues Christsein und die Aufarbeitung der Familiengeschichte, die besonders in Deutschland oft vom Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit verdunkelt ist.

Elke Schmidle beleuchtet Aspekte von Missbrauch, sie zeigt die Persönlichkeitsmerkmale, die einen Menschen anfällig machen für Abhängigkeit. Sie lässt tief in ihr Herz hineinschauen und dabei macht sie deutlich: Missbrauch kommt nicht "einfach so" über einen Menschen; Beziehungen zerbrechen nicht deshalb, weil man leider die falschen Menschen getroffen hat; und auch der böse Mensch wird nicht als solcher geboren. Alles hat eine Geschichte, hat Ursachen. Und die gute Nachricht ist: Veränderung und Korrektur sind möglich.

Elke Schmidle hat am eigenen Leib erlebt, wie man Bereitschaft zur Hörigkeit entwickelt; sie kennt die verhängnisvolle Liaison mit geistlichen Zielen und Wünschen wie dem nach Erweckung; und schließlich entdeckt sie, wie die Nazi-Vergangenheit mit ihren Idealen und Zielsetzungen sowie die Nachkriegszeit unsere Erziehung und Lebensführung über Generationen hinweg getrübt hat und es teilweise immer noch tut. Einzigartig ist der Weg, den Gott mit ihr gegangen ist: Trotz allem und in alledem ist sie ihm nähergekommen.
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum18. Dez. 2017
ISBN9783885091486
Ein Band von meinem Herzen bricht: Geistlicher Missbrauch - Hintergründe, Irrwege und mein Weg in die Freiheit

Ähnlich wie Ein Band von meinem Herzen bricht

Ähnliche E-Books

Christentum für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ein Band von meinem Herzen bricht

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ein Band von meinem Herzen bricht - Elke Schmidle

    Elke Schmidle

    Ein Band

    von meinem Herzen bricht

    Geistlicher Missbrauch – Hintergründe, Irrwege und mein Weg in die Freiheit

    Ruhland Verlag

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten

    sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich

    geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des

    Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,

    Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und

    Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Die Bibelzitate sind in der Regel der Lutherbibel 1964 entnommen,

    © Württembergische Bibelanstalt Stuttgart; Abweichungen sind

    gekennzeichnet durch:

    elb – Revidierte Elberfelder Bibel © 1985/1991/2006 Brockhaus Verlag Wuppertal, Witten 2006.

    Hoffnung für alle – Die Bibelstelle ist der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen, © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel.

    eü – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, © 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

    Die Ereignisse in diesem Buch habe ich so beschrieben, wie ich sie erlebt und in Erinnerung behalten und verstanden habe. Die Bezeichnungen fast aller Gemeinden sowie die Namen der jeweiligen Leiter und Gemeinde- bzw. Gruppenmitglieder sind geändert, die Änderungen wurden gekennzeichnet durch ein Sternchen bei der ersten Nennung.

    Elke Schmidle

    ISBN 978-3-88509-124-0

    ISBN 978-3-88509-148-6 (epub)

    ISBN 978-3-88509-149-3 (mobi)

    Copyright © Ruhland Verlag, Bad Soden 2017

    Elke Schmidle, Ein Band von meinem Herzen bricht.

    Geistlicher Missbrauch – Hintergründe, Irrwege

    und mein Weg in die Freiheit

    Lektorat: Gabriele Pässler, BGP

    Umschlagbild: © jimmyan / istockphoto LP

    Alle Rechte vorbehalten.

    www.ruhland-verlag.de

    Zum Titel

    Der Buchtitel stammt aus einem Märchen der Gebrüder Grimm: Der treue Diener des Königssohns muss miterleben, wie der Prinz in einen Frosch verwandelt wird, und schützt sein Herz mit Eisenbändern, „damit es ihm nicht vor Weh und Traurigkeit zerspränge. Nach der Erlösung des Prinzen ist lautes Krachen zu hören, und der „eiserne Heinrich erklärt ihm:

    Es ist ein Band von meinem Herzen,

    das da lag in großen Schmerzen,

    als Ihr in dem Brunnen saßt

    und in einen Frosch verwandelt wart.

    Auch mein Herz war wie in Eisenringen gefangen, jetzt aber kann es leben und lieben.

    Teil 1

    Diese Vergangenheit nicht zu kennen, heißt, sich selbst nicht zu begreifen.

    Raul Hilberg

    Noch ein Krüppel mehr zu versorgen!

    Bevor ich meine eigene Lebensgeschichte beginne, möchte ich die Geschichte meiner Eltern skizzieren, weil ich heute weiß, wie sehr meine Geschichte mit der ihren verwoben ist.

    Meine Mutter wurde 1921, mein Vater 1920 geboren. Beide wuchsen in Endingen auf, einem Winzerstädtchen am Kaiserstuhl, zwischen Schwarzwald und Rhein gelegen, etwas nördlich von Freiburg.

    Es war eine Zeit, in der Deutschland politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich in der Krise war. Inwieweit die Politik, der Überlebenskampf der jungen Republik nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, Thema war in ihrem Zuhause, das weiß ich nicht. Von meinem Vater weiß ich allerdings, dass sein Vater ein Sozialdemokrat war und sich später nicht ohne Weiteres einreihen ließ in die Machtstrukturen Hitlers.

    Zunächst aber ging es einfach ums Überleben. Der Alltag war hart und kostete die ganze Kraft. Besonders schlimm wurde es, als mein Vater mit 16 Jahren die Mutter verlor: Seine Stiefmutter sorgte dafür, dass er und sein jüngerer Bruder bald aus dem Haus kamen, um bei Bauern zu leben – und natürlich zu arbeiten. Aus dieser Zeit erzählte mein Vater später so manche herzzerreißende Geschichte. Etwas Zuflucht fand er bei der Familie seiner späteren Frau, die auch in Endingen wohnte.

    1933 begann die Zeit des NS-Regimes, und sie machte natürlich auch vor den beschaulichen Kaiserstuhldörfern nicht halt. Mein Vater erzählte mir, dass sein Vater als überzeugter SPD-Anhänger nicht wollte, dass er in die Hitlerjugend eintrat. Ob mein Vater sich der HJ auf Dauer entziehen konnte, weiß ich nicht; 1936 wurde die Mitgliedschaft ja Pflicht – aber ich bin dankbar zu wissen, dass er zumindest kein begeisterter Hitlerjunge war.

    1941, mit 21 Jahren, zog er als Sanitätssoldat in den Krieg, an die Ostfront; dort wurde er 1944 von einer Granate getroffen. Es folgten Monate in Lazaretten: Lüben, Glogau, Bad Wildungen – die Feldpostbriefe von damals habe ich noch.

    Kurz vor Kriegsende kam im März 1945 sein Vater bei einem der wenigen Bombenangriffe auf Endingen ums Leben. Nun hatte mein Vater nur noch die Stiefmutter, doch dort fand der 25-Jährige kein Zuhause, und auf dem Rathaus empfing man ihn mit den Worten: „Noch ein Krüppel mehr zu versorgen!" Die Granatsplitter im Gesäß ließen ihn zeitlebens humpeln; als Kind bestaunte ich immer ehrfürchtig seinen Stützapparat und seine Spezialschuhe.

    So wurde er von seinen späteren Schwiegereltern aufgenommen.

    Das sind die wenigen Fakten, die ich von meinem Vater aus dieser Zeit kenne. Was die NS-Weltanschauung, die Kriegserlebnisse, die Schicksalsschläge mit ihm machten, kann ich nur vermuten aufgrund dessen, wie ich ihn erlebt habe. Darüber gesprochen hat er so gut wie nie.

    Der Glanz des Besonderen

    Meine Mutter wurde als uneheliches Kind geboren; ein Makel, den sie vermutlich zeitlebens gutzumachen versuchte. Erst als sie fünf Jahre alt war, heiratete ihre Mutter; so bekam sie einen Stiefvater und dessen Namen – und mit der Zeit kamen vier Geschwister dazu. Als ich das zum ersten Mal hörte, spürte ich so etwas wie einen „Glanz des Besonderen" – ein besonderer Mann (auch wenn er die Oma im Stich gelassen hatte), eine besonders traurige Geschichte, eine besonders tapfere Oma …

    Über die Jugendzeit meiner Mutter weiß ich kaum etwas – ähnlich wie bei meinem Vater: War sie auch dabei im „Bund Deutscher Mädchen, im „Jungmädelbund? 1933 war sie 13 Jahre alt, und spätestens 1936 wäre es auch für sie Pflicht gewesen, hier Mitglied zu werden. Darüber hinaus gab es viele weitere Möglichkeiten zu lernen, wie man eine „gute deutsche Mutter" wird.

    War sie da jemals dabei? Hörte auch sie die Botschaft: „Muttertum ist etwas Stahlhartes, nichts Weiches, Sentimentales? Das sagte Gaureferentin Tschernig 1937.I – Nie hat meine Mutter darüber gesprochen. Wie in vielen anderen Familien lag auch bei uns über dieser Zeit die unausgesprochene Beteuerung „Wir haben da nicht mitgemacht oder die Relativierung „Es war ja nicht alles schlecht!"

    Während des Krieges arbeitete meine Mutter als Erzieherin. Ob sie dafür eine Ausbildung gemacht hat, weiß ich nicht; aber spätestens jetzt wurde sie wohl intensiv mit dem nationalsozialistischen Gedankengut konfrontiert. „Dem Führer die Jugend, so heißt es auf einem Plakat aus dieser Zeit: Eine Mutter hält dem „Führer ihr kleines Kind entgegen.

    Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut

    Bereits 1934 erschien das Buch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind von der Ärztin Johanna Haarer; für tausende Mütter wurde es zu dem Erziehungs- und Pflegeratgeber, und es war Pflichtlektüre für alle, die erzieherisch tätig waren. Am Anfang des Buches formuliert Johanna Haarer ganz klar ihre Absicht, dem „Führer" eine starke deutsche Jugend für seinen Feldzug heranzubilden.

    Die preußischen Tugenden, deren Verherrlichung schon im 19. Jahrhundert zu einer strengen Erziehung geführt hatte, bekamen nun einen geradezu grotesken Stellenwert: Ordnung, Disziplin, Gehorsam bis zur Selbstaufgabe, Tapferkeit – „Ein deutscher Junge weint nicht –, all das sollte die deutsche Jugend lernen. Und zwar von der Geburt an. Was in Haarers Erziehungsbuch gelehrt wird, nennt der Journalist Jan Feddersen „eine Anleitung zu Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut.II

    Und genau das war auch das Ziel. Es ging nicht nur um Drill, man wollte möglichst bindungslose, beziehungsunfähige Menschen heranziehen, die sich später nahtlos einfügen sollten in die große Masse; Menschen, die abgehärtet sind, kein Mitleid haben mit sich selbst und anderen; die nicht selbständig denken, sondern gehorchen.

    Auf die Bedürfnisse des Babys, die es durch „Schreien" einfordert, sollte in keiner Weise eingegangen werden. Möglichst wenig Körperkontakt und Emotionen, das war die Richtschnur. Die Frauen, die ja nicht an der Front kämpfen, sollten den Kampf mit dem Kind, ja gegen das Kind aufnehmen, vom ersten Tage an. Darauf schwor Johanna Haarer die Frauen ein.

    Wie tief meine Mutter dieses Gedankengut verinnerlicht hatte, kann ich nur vermuten; wenn sie sieben Jahre lang bis 1945 in dieser Spur gelebt und gearbeitet hat, ging es wahrscheinlich nicht anders, als dass sie sich diese Ideen zur Richtschnur machte. Gewiss gab es auch in dieser Zeit Mütter – und Großmütter – , die sich weigerten, Kinder so zu behandeln. Doch Johanna Haarer hatte hier eine klare Haltung: „… dann, liebe Mutter, bleibe hart!"

    Was wir später als Familie erlebten, spricht dafür, dass meine Mutter sehr ernst nahm, was man sie lehrte. Und es erklärt mir vieles: Erzählungen meiner Geschwister; so manches, was die Mutter auf keinen Fall duldete; und schließlich die schrecklichen Feststellungen „Mutter war eine böse Frau und „Ich musste euch Kleinen vor der Mutter beschützen (so meine ältere Schwester Esther*). Auf diesem Hintergrund kann ich das alles endlich einordnen, deshalb gehe ich hier so ausführlich darauf ein.

    Dabei will ich keine Schuldzuweisungen vornehmen; mir ist es wichtig, Zusammenhänge zu verstehen und aufzuzeigen.

    Johanna Haarers Erziehungsbuch erreichte bis 1987 eine Gesamtauflage von ca. 1,2 Millionen; 1996 erschien eine angeblich „Völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Natürlich war nicht mehr vom „Führer die Rede, es wurde von nationalsozialistischem Sprachgebrauch und hoffentlich auch verborgenem NS-Gedankengut gereinigt. Auch einzelne „Empfehlungen" wurden im Laufe der Zeit von Johanna Haarer relativiert, so die Anweisung, nach der Geburt das Neugeborene 24 Stunden lang von der Mutter fernzuhalten.

    Aber das meiste in dieser „Anleitung zu Beziehungsstörungen" blieb erhalten – und hat über Generationen hinweg und bis heute großen Schaden angerichtet.

    Ein falsches Leben im Falschen

    – Der Versuch, weiterzuleben

    Als der Krieg zu Ende war, brach das NS-Regime mit seinen grotesken Zielsetzungen zusammen. Aber wer hatte Zeit und Kraft, sich um seelische Verletzungen zu kümmern und um die inneren Lebensüberzeugungen, die man Eltern und Kindern bis dahin eingeprägt hatte? Es waren Zeiten von Leid, Verlust und Entbehrung; und das Leben musste weitergehen.

    Die „deutschen Tugenden" halfen, die Trümmer wegzuräumen, Neues aufzubauen und nicht zu weinen, sondern anzupacken. Aber die inneren Trümmer blieben; jahre- und jahrzehntelang, manche bis heute.(1)

    Und so glaube ich, dass auch meine Mutter nie in der neuen Zeit ankam. Die Vorstellung von Muttersein und Erziehung und wie ein Mädel und wie ein Bub zu sein hat, das hatte sie verinnerlicht; und „die Fahne musste weitergetragen werden", auch wenn es keinen Führer mehr gab, dem sie Kinder gebären und zuführen konnte. Diese ganze Welt war Vergangenheit. Jahre ihres Lebens war sie einer Idee gefolgt, die nun nicht einmal mehr erwähnt werden durfte.

    Ich wünschte, da wäre jemand gewesen, der ihr aus diesem Dilemma hätte helfen können. Aber es war eine Generation, die schwieg und weitermachte; eine Generation, die verworrene, fehlgeleitete Vorstellungen von Elternschaft an die nächste weitergab samt der Unfähigkeit, gute, stabile Beziehungen zu entwickeln.(2)

    Aber nun der Reihe nach.

    Die kranke Mutter, 1946–1966

    Meine Eltern heirateten 1946, und ein Jahr später kam Klaus zur Welt. Zwei Jahre später, 1949, wurde Esther geboren, das zweite Kind. Und dann stellte man bei meiner Mutter Lungentuberkulose fest. Nun begann eine Zeit von Klinik- und Sanatoriums-Aufenthalten; Klaus hat mir einmal gesagt, an ein ganz normales Familienleben könne er sich nicht erinnern. Und obwohl man damals eine Tuberkulose eigentlich schon recht gut therapieren konnte, bekam man die Erkrankung meiner Mutter nicht in den Griff.

    Nach allem, was ich heute verstanden habe, konnte oder wollte meine Mutter den Kampf mit dieser Krankheit auch gar nicht gewinnen. Obwohl sie sich an das Leben klammerte, wie meine Geschwister betonten, war es für sie wohl doch nicht mehr lebenswert, dieses Leben, in dem ja alles, was sie gelernt hatte und was ihr wichtig gewesen war, nichts mehr zählte.

    Es war „ein falsches Leben im Falschen", wie es Jan Feddersen in jenem Artikel ausdrückt. Viele Zeitgenossen zerbrachen daran, nicht nur meine Mutter.(3)

    Die Ärzte warnten vor weiteren Schwangerschaften, sie könnten für die Mutter lebensbedrohlich sein; trotzdem kam nach acht Jahren meine Schwester Klara* zur Welt und zwei Jahre später, 1959, ich. Da war Mutters Krankheit schon so weit fortgeschritten, dass ich nur bruchstückhafte Erinnerungen an sie habe.

    Meistens war Mutter nicht zu Hause; ich erinnere mich an Sonntage, an denen wir sie in unseren schönsten Kleidchen in der Klinik besuchten: Wir standen unten auf dem Rasen, sie oben auf dem Balkon, und wir winkten uns zu. Oder sie lag zu Hause im Bett, und ich spielte bei ihr oder begleitete sie – als fünfjähriges Kind! – zur Toilette. So lernte ich ihre Persönlichkeit erst im Nachhinein ein wenig kennen, durch Bilder und aus den Erzählungen meiner Geschwister.

    Vor allem meine ältere Schwester Esther litt sehr unter dem strengen Wesen der Mutter. Auch vom Krankenbett aus wollte diese ihre Erziehungsideale verwirklichen; mit eiserner Strenge, Schlägen wegen Kleinigkeiten und demütigenden Schimpftiraden wollte sie vorbildliche (deutsche?) Kinder aus uns machen.

    In Zeiten, in denen die Mutter mit am Tisch saß, mussten Klaus und Esther auch schon mal eine Zeitung zwischen Oberarm und Oberkörper pressen, um zu lernen, wie man ordentlich sitzt und isst. War es der eingangs erwähnte „Glanz des Besonderen" oder ein Überbleibsel irrigen Nationalstolzes, der sie zu solchen Maßnahmen antrieb?

    Der Vater geriet immer wieder zwischen die Fronten. Sie spannte ihn für ihre Erziehung ein, er sollte in ihrem Auftrag zum Beispiel Esther schlagen, weil sie nicht alles so machte, wie die Mutter es wollte. Sicher wurde durch die Krankheit noch manches verstärkt; die eigene Kraftlosigkeit zu spüren, die Angst davor, die Kontrolle gänzlich zu verlieren, das alles machte sie wahrscheinlich nur noch härter. Mutters wenige Aufenthalte zu Hause wurden für uns zum Schrecken.

    Bevor ich die weiteren Entwicklungen unserer Familie beschreibe, möchte ich näher beleuchten, wie es mir als der Kleinsten erging. Heute weiß ich, dass ich die Erziehungstheorien, die meine Mutter vermutlich verinnerlicht hatte, schon als Neugeborenes zu spüren bekam.

    Wenn ich das Bild anschaue, auf dem meine Mutter in ihrer gestärkten weißen Schürze mich auf dem Arm hält, ich bin vielleicht eine Woche alt, dann fallen mir die Mütter ein, die in Johanna Haarers Buch genau so abgebildet sind. Ich spüre den Anspruch auf saubere, wohlriechende, gehorsame Kinder. Ich spüre die Distanz, die sie mit der reinweißen Schürze schuf.

    Und ich spüre, wie mein Herz den Entschluss fasste, ein braves Kind zu sein: Um mir das Wohlwollen der Mutter zu sichern, legte ich mir innere Bandagen an; sie sollten verhindern, dass ich Dinge tat, die die Mutter ärgerten. Vielleicht hatte ich damals bereits gelernt, dass Schreien nichts nützt, jedenfalls beschloss mein kleines Herz schon früh: Ich werde nicht schreien, nicht sagen, was mir weh tut, nicht sagen, was ich mir wünsche, und ich will lieb sein, recht, recht lieb sein …

    Esther erzählte mir später oft, wie sie Klara und mich vor den Launen und Ansprüchen der Mutter schützte (Klaus kam wohl besser weg, wahrscheinlich, weil er ein Junge war; meine Mutter wollte eigentlich sowieso nur Buben haben). Esther war zehn, und sie hatte aus ihren eigenen bitteren Erfahrungen wohl den Schluss gezogen, bei uns manches anders zu machen, als die Mutter es verlangte. Dafür bin ich ihr sehr dankbar; trotzdem spürte ich natürlich die Unzufriedenheit und Launenhaftigkeit der Mutter und die bedrohliche Stimmung, die bei uns herrschte, wenn sie da war.

    Meine Reaktion war: Mund zu! Ich werde nicht schreien, nicht sagen, was mir weh tut, nicht sagen, was ich mir wünsche! – Das Schweigen zog ein in mein Leben, der Beschluss, den Mund zu halten und ihn nur dann zu öffnen, wenn ich etwas absolut Wichtiges und Richtiges zu sagen weiß. Mit diesem Schweigen brachte ich später Lehrer, Vorgesetzte, auch Freunde und Kollegen an den Rand der Geduld.

    Wie Eisenringe legten sich diese Beschlüsse um mein Herz, und erst viele Jahre später merkte ich, wie sehr sie mich einschränkten und meine Fähigkeit, zu lieben und Liebe empfangen zu können. An die Stelle von Neugier auf alles, was das Leben bietet, traten bei mir Lebensangst, Unsicherheit und Scham; darin war ich gefangen, auch wenn ich Kontakt zu anderen Menschen aufnehmen wollte, Beziehung leben wollte.

    Die inneren Bandagen hielten mich bewegungslos: Wenn ich keine Gefühle zeigte, konnte ich auch nicht zurückgewiesen und verletzt werden. Dieses Unterdrücken meiner Gefühle und eigener Wünsche brachte natürlich eine große

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1