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Im Hintergrund der schöne Fritz
Im Hintergrund der schöne Fritz
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eBook272 Seiten3 Stunden

Im Hintergrund der schöne Fritz

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Über dieses E-Book

Bernt Olshagen ist ein erfolgreicher Berliner Geschäftsmann Mitte der 20iger Jahre, aber er steht nach dem Tod seiner Frau auch mit seinen beiden Kindern alleine da. Dazu hat er es noch mit den Frauen, zunächst Paula aus Stettin und insbesondere Marion. Wie würde er sein Leben und das der Kinder organisieren können, gebe es in seinem Haushalt nicht die "kleine Mie", die sich zum guten Geist des Hauses entwickelt. Die Situation verschärft sich, als Bernt durch Fritz von Dette, Marions Bruder, in große finanzielle Schwierigkeiten gerät. Jetzt erst begreift Bernt, was er an Mie hat. Zum Autor: Paul Oskar Höcker, geboren 1865 in Meiningen, gestorben 1944 in Rastatt, war ein deutscher Redakteur und Schriftsteller. Höcker verfasste Lustspiele, Kriminalromane, Unterhaltungsromane, historische Romane und auch etliche Jugenderzählungen. Er galt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als überaus erfolgreicher Vielschreiber. Einige seiner Romane wurden verfilmt. -
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum10. Juli 2015
ISBN9788711445471
Im Hintergrund der schöne Fritz

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    Buchvorschau

    Im Hintergrund der schöne Fritz - Paul Oskar Höcker

    Saga

    1

    Wie, wann und wo er Marion kennengelernt hat, wie, wann und wo die kleine Mie (denn es sind zwei grundverschiedene Frauenzimmerchen, diese beiden Mariannen, die Bernts Schicksal bedeuten), das lässt sich wohl am besten darstellen, wenn man sich entschliesst, zuvor die Geschichte mit Paula zu erzählen. Bernt gegenüber kommt das einem kleinen Verrat gleich, weil er sich ja so’lächerlich viel Umstände gemacht hat, diese unschuldige Liebschaft zu verheimlichen. Lassen wir aber jede Rücksicht beiseite. Gerade diese fast knabenhafte Scheu ist nämlich für Bernt besonders bezeichnend, entspringt sie doch jenem peinlichen Sauberkeitsgefühl, das ihn von Kindheit an beherrscht hat.

    Bernt war knapp 22 Jahre, als er Sibylle heiratete, die damals 19 zählte. In Sportkreisen hiess sie „der grosse Preis von Schlesien". Die Kriegstrauung fand im letzten Frühjahr des Völkerschlachtens statt. Bei der Geburt des zweiten Kindes starb Sibylle. Das ist jetzt vier Jahre her. Und seit dem Tod seiner jungen Frau ist Bernt seines Lebens nicht wieder froh geworden. Die Arbeit wuchs, mit ihr die Verantwortung. Das Riesengeschäft seines Schwiegervaters, die Waggonfabrik in Heinersbach, hat sich in ungeahnter Weise entwickelt. Nun sind auch noch die Werke in der Neumark und in Stettin hinzugekommen. Bernt ist der gehetzteste Mitteleuropäer — sein Tag eine einzige Flucht. Auch die ganze Auslandsvertretung hat er sich aufpacken müssen, denn der alte Droeseke, ebenso geizig wie misstrauisch und eigenbrötlerisch, gönnt den Verdienst ja keinem Aussenseiter. So geht für Bernt seit Jahren das Hin und Her zwischen Büro und Haus, Lager- und Verladeplätzen und zwanzig, dreissig fremden Städten. Er hat keine Zeit für seine Kinder — er hat keine Zeit für sich selbst.

    Und erst recht keine Zeit für Paula.

    Aber Paula genügte es schon längst nicht mehr, ihn nur ab und zu einmal über Wochenend bei sich zu sehn, wenn er die Stettiner Werke besuchte. Gewiss, sie hatte sich eine nette kleine Wohnung in der Braungasse nehmen können, er beschenkte sie reichlich, schickte sie im Sommer ins Bad nach Schweden, und ihre Kolleginnen im Warenhaussalon beneideten sie alle um ihren freigebigen Kavalier. Aber hatte sie’s nötig, sich von ihm hier dauernd verstecken zu lassen? In diesem Klatschnest? Sie mit ihrem Schick, mit ihren hübschen Tanzbeinen? In Berlin konnte sie damit Karriere machen. Warum sperrte er sich dagegen, dass sie nach Berlin kam? Wollte er sich etwa wieder verheiraten und fürchtete, dass sie ihm dort im Wege sein würde? Er lachte sie aus: er denke nicht im entferntesten an eine zweite Ehe. Aber sie wusste doch, was für eine glänzende Partie er war — und dass in seinem ganzen Dunstkreis alle Schürzen in Bewegung gesetzt wurden, um ihn einzufangen. Schliesslich: lag es denn so ganz ausser jeder Möglichkeit, dass sie selbst —?

    Und so fuhr sie eines Tages kurz entschlossen nach Berlin, um ein paar Wohnungen im Bayrischen Viertel zu besichtigen, deren Adressen ihr die Agentur besorgt hatte.

    Bei dieser Gelegenheit kam sie in das kokette Nestchen, das Marion dort in der Münchner Strasse besass.

    „v. Dette-Dubois" stand auf dem kleinen Bronzeschild. Eine Jungfer in kurzem, schwarzem Seidenkleid und operettenmässig grosser weisser Haube öffnete. Marion war im Begriff, zu einem Tanztee zu gehn, steckte schon in ihrem kostbaren Breitschwanz, empfing das Fräulein aus Stettin aber sehr liebenswürdig und zeigte bereitwillig die ganze Wohnung, nannte auch gleich die erschreckend hohe Abstandssumme, die sie verlangen musste.

    Paula spielte sich nicht als selbständige Grosskapitalistin auf, sondern erklärte der eleganten Wohnungsinhaberin sofort, dass die erforderlichen Mittel nicht von ihr, sondern von — nun, von einem Verwandten aufgebracht werden würden, nebenbei gesagt, einem Grossindustriellen aus dem schlesischen Fabrikadel. Die Drei-Zimmer-Wohnung mit Bad, Diele, Wintergarten, Fernsprecher und Fahrstuhl war entzückend, ganz das, was sie suchte und brauchte.

    „Aber es muss sich rasch entscheiden, sagte Marion, die Handschuhe überstreifend. „Ich will verreisen. Brauche Nervenruhe. Ich stehe am Schluss meines Scheidungsprozesses. Ein ganzes Jahr hindurch Termine. Das zermürbt. Natürlich liegen schon sehr viel Angebote vor. Auf die Wohnung, meine ich. Das können Sie sich ja denken. Sie stand schlank und gross und überlegen, ganz Weltdame, vor der kleineren und molligeren, jüngeren, aber auch unbedeutenderen Provinzialin, die voller Bewunderung war. Marion hatte grosse, hellgraue, lebhafte Augen; nach der Nasenwurzel zu standen sie etwas schräg. Die Nase war schmal und fein geschwungen, der Mund sinnlich, dabei spottlustig. Eine ganz moderne Knabenfigur hatte sie. Die pikant vom Hellen Teint abstechende Mephistokappe verdeckte das Haar. Ein Porträt von ihr, das noch ungerahmt auf der Staffelei stand, zeigte aber den charakteristischen blonden Etonkopf.

    „Wenn ich gleich einmal telephonieren dürfte —?" Paula gedachte Bernt jetzt am besten rasch zu überrumpeln.

    „Bitte." Frau von Dette klingelte der Jungfer und liess die Bewerberin zum Apparat führen. Er befand sich nebenan im Schlafzimmer am Bett.

    Paulas Augen schluckten die ganze Pracht dieses schwelgerischen Raumes gierig ein. Geradezu fürstlich, diese blauseidene Daunensteppdecke, diese Spitzenkissen. Und die Orchideen auf dem Fensterbrett. Die echten Teppiche. Das gehämmerte schwere Silber auf dem Putztisch. Tausend schöne und gediegene Dinge. „Kein Warenhaus-Tinneff!" Paula besass Fachkenntnisse.

    Während der Besuch drinnen am Fernsprecher verhandelte — ziemlich lang, ziemlich aufgeregt, zuletzt fast weinend, wenn auch immer nur in angestrengtem Flüsterton —, sass Marion an ihrem Schreibtisch und machte sich flüchtige Notizen. Eine Fernsprechnummer, ein paar Namen, nicht mehr.

    Mit heissen Wangen kam Paula zurück. „Ich kann leider noch nichts Bestimmtes sagen. Ich hoffe aber heute abend ... Darf ich dann morgen früh anrufen, gnädige Frau?"

    „Bitte. Lassen Sie nur Ihre Adresse hier, damit ich weiss ... Also Krusius. Paula Krusius, Stettin, Braungasse 24/II. Danke, gnädige Frau."

    „Eigentlich" — Paula vollendete nicht. Sie verabschiedete sich ziemlich rasch.

    Marion ging mit ihrem Notizenzettel zum Avparat und blätterte im Namenverzeichnis. Droeseke & Co. hatte Fräulein Paula zuerst verlangt. Und dann Herrn Olshagen. „Ach, Bernt, Bernt — ich muss dich sprechen ..." Also Bernt Olshagen. Hier seine Privatwohnung: Herbertallee 37/39, Grunewald.

    Nun war Marion im Bilde. Bernt Olshagen, der allmächtige Generaldirektor der Vereinigten Waggonfabriken Droeseke & Co. Und ein paar geschickte Fragen auf dem Teeempfang vervollständigten das Porträt.

    Als Fräulein Paula am andern Morgen anrief und, etwas bedrückt, meldete, dass sie leider noch immer keine definitive Zusage geben könne, dehnte und reckte sich Marion noch ein Weilchen wie ein Kätzchen unter der blauseidenen Daunensteppdecke, dann griff sie nach dem Schallbecher und liess sich mit Droeseke & Co. verbinden. Nein, Herr Olshagen sei nicht mehr anwesend. Marion wusste die Sache sehr wichtig und dringlich zu machen und erfuhr: Herr Olshagen wolle verreisen, habe noch zu Hause zu tun, in der Mitropa am Bahnhof Zoo, vielleicht sei er auch auf der Rumänischen Gesandtschaft zu erreichen. In der Privatwohnung bekam sie Anschluss, im Augenblick, als Herr Olshagen das Haus verlassen wollte, um das Reisebüro aufzusuchen.

    Ob sie wohl eine Auskunft über Fräulein Krusius aus Stettin bekommen könne? Ja, wegen des Wohnungskaufs. „Hier Frau von Dette-Dubois, Münchner Strasse 23."

    Höflich-kühle Ablehnung, etwas verwundert, aber in durchaus korrekter Form.

    Marion bat um Entschuldigung. Es sollte keine Indiskretion sein. Aber sie stünde im Begriff, nach dem Süden überzusiedeln, und müsse rasch abschliessen. „Immerhin handelt sich’s um ein wertvolles Objekt ... Doch eine Vertrauenssache, nicht wahr ...?"

    Ihr Ton war warm, offen, fast herzlich. Der Angerufene hörte sofort heraus, dass es sich um keine berufsmässige Wohnungsagentin handelte. Aber es widerspreche nun einmal seinen Gepflogenheiten, sagte er abwehrend, am Telephon irgendwelche geschäftlichen Verbindlichkeiten einzugehen. „Nichts für ungut, meine Gnädigste."

    „Bitte", schloss Marion diese ihre erste Unterhaltung mit Bernt Olshagen, hängte den Hörer an und klingelte ihrem Mädchen. Sie wollte sich sofort anziehen, um zur Mitropa am Zoologischen Garten zu fahren.

    Das ganze Büro dort war mit Wartenden angefüllt. Man sass und stand an Tischen und Pulten und blätterte in den Bäderprospekten und Kursbüchern. Es war Februar. Die Vergnügungsreisenden bestellten zumeist Bett- und Fahrkarten nach den Wintersportplätzen oder nach der Riviera.

    Bernt hatte noch keinen bestimmten Plan. Viel vornehmen konnte er in der kurzen Zeit nicht. Zur Konferenz der Europäischen Waggonzentrale muss er spätestens zurück sein. Er braucht bloss ein paar Sonntage, ein bisschen Skisport, Freiheit von der Arbeitshetze, Ferien vom Ich.

    „Olshagen, alter Junge, famos! rief ihn in seiner lärmenden Art Herr von Losse an, der baumlange Regierungsrat, der alle Welt kannte und dem alle Welt auswich. „Auch auf einen Urlaubstrip? Ich fahre nach St. Moritz. Kommen Sie mit?

    Bernts Reiseplan stand in derselben Sekunde fest, wenigstens insoweit, als er das Engadin ausschloss. „Nein, ich suche mir ein ganz stilles Plätzchen aus. Ich brauche Einsamkeit."

    „Aha, Zweisamkeit, sagte der Baumlange und kniff das rechte Auge hinter dem Einglas zusammen. Er nahm an der Kasse seinen Schein in Empfang, schob die Zigarette in den Mundwinkel und winkte Bernt kordial zu. „Hals- und Beinbruch! Skiheil!

    Bernt blätterte ungeduldig in den Prospekten. Dann wandte er sich rasch dem Beamten zu, der gerade freigeworden war. „Haben Sie noch Bettkarte Erster für morgen abend nach Basel? Mit Anschluss nach Adelboden. Bitte, sehen Sie einmal nach."

    „Sofort, Herr Olshagen."

    In Reichsbahnkreisen war Bernt allgemein bekannt, hier auf dem Büro zudem ein häufiger Gast. Der Beamte schlug den Plan auf und bezeichnete die noch nicht vergebenen Plätze. Bernt wählte, liess sich die Karten ausfertigen, dankte dem Beamten, zahlte und ging. Das Auto erwartete ihn draussen.

    Die schlanke junge Dame in dem kostbaren Breitschwanz hatte sich nun auch endlich schlüssig gemacht ... Adelboden! ... Und konnte sie denn noch für morgen abend einen Schlafwagenplatz bekommen? Natürlich Erster. Gut. Bitte. „Der Zug geht 20.15 vom Anhalter Bahnhof. Wagen 231, Platz 9 und 10." Marion nickte zufrieden und verliess das Büro in ihrem weichen Gang, eine feine Duftbahn hinter sich herziehend. Die Blicke aller Herren folgten ihr; die Nasen hoben sich und schnoberten in die Luft.

    So kam Bernt zu Marions Reisegesellschaft auf seiner Winterferienfahrt nach Adelboden.

    2

    Ader es gibt noch unendlich viele Dinge zu erledigen, bevor ein so geplagter Geschäftsmann wie Bernt Olshagen endlich Rast in seinem Schlafwagenabteil findet.

    Die Hausdame beschwert sich über die Kinderschwester: sie ist wieder erst um fünf Uhr früh nach Hause gekommen. Es bedarf einer ernsten Verwarnung und der Androhung fristloser Entlassung. Der kleine Klaus hat 37, 9. Der Arzt war da, hat eine Magenverstimmung festgestellt, es sei nichts Ernstliches. Freilich, wenn das Fieber über Nacht steigt, so will Bernt die Reise aufgeben. Sibylle soll morgen ihre kleinen Schulfreundinnen aus dem Privatzirkel zur Schokolade bei sich sehn. Im Gartensaal ist ein Karussell aufgebaut; die Kinder sollen auch tanzen. Hoffentlich werden es bei Klaus nicht Masern, denn dann müsste ja alles abgesagt werden. Sibylle hasst die Hausdame, die eine solche Katastrophe auch nur in Erwägung ziehen kann. Aus dem Geschäft wird angerufen, die Vertreter der rumänischen Ostbahnen sind da, sie haben Vollmacht und müssen heute noch abgefertigt werden. Am besten, man lädt die Herren zum Abendessen ins Hotel Adlon. Das wird natürlich Paula nicht verstehen können, die ihn bestimmt im Exzelsior erwartet ... Und ein paar dringliche Ferngespräche gibt’s mit Heinersbach, mit Stettin und Neu-Dalchow ... Dazwischen die peinliche Auseinandersetzung mit der Schwippschwägerin Adi, die wieder einmal, recht überflüssiger Weise, von Heinersbach herübergeautelt ist, um in seinem Hause „nach dem Rechten zu sehen". Adi ist die Tochter von Droesekes Bruder, Witwe des Freiherrn v. Tross, des ehemaligen Leibkürassiers und Rennreiters. Reich, geizig, gelbblond, fader Teint, aber kess, von jener gemachten Forschheit, wie sie ehemals in Gardekreisen bei Damen, die von draussen hereinkamen, beliebt war. Enge Stimmritze, berlinernder Stalljargon. Immer aufgeregt und absprechend, ewig voller Entrüstung über Dienstboten und Geschäftsleute. Wenn sie helfen kommt, gibt’s jedesmal Krach im Hause, denn sie steckt ihre spitze Nase in alles, versucht auch ihn zu schulmeistern. Dabei hat sie lang genug die zähe Absicht verfolgt, ihn zu heiraten, obwohl sie drei Jahre älter ist als er. Die Hausdame hat ihm erklärt: sie kündigt, wenn die Frau Baronin in seiner Abwesenheit etwa wieder die Regierung hier im Hause an sich reissen will. Schauderhafte Aufgabe, das in milder Form der nichtsahnenden Adi beizubringen. Sie hat das stärkste Talent, sich überall unbeliebt zu machen. Auch Klaus, das folgsame Bübchen, ist nur unartig, solang Tante Adi im Hause weilt. Sibylle ist zu gerissen, um sich’s mit Tante Adi zu verderben: wenn man Tante Adi schmeichelt, erreicht man ja alles von ihr ... Nun, Bernt kann ihr nicht schmeicheln ...

    Und nun das Allertollste, was einem Staatsbürger passieren kann: er hat für den Reisetag um elf Uhr vormittags eine Vorladung vors Amtsgericht erhalten. In einer Vormundschaftsangelegenheit. Die Sekretärin erinnert ihn daran, sonst hätte er den Termin versäumt.

    Wenigstens braucht er auf dem trostlosen Korridor des Amtsgerichts nicht zu warten und wird sogleich aufgerufen. Diese Amtsgebäude mit ihrer Kurellabrustpulverfarbe hasst er. Und ebenso diese staubigen Aktenbündel, diese grauen Bürogesichter, diese eingeschlossene Luft in den überheizten Räumen. Warum man ihm das antun müsse, ausgerechnet ihm, der kaum Musse finde, sich mit seinen eigenen Kindern zu beschäftigen? Da gebe es in seiner Villenstrasse Dutzende von behäbigen Rentiers, die ein solches Ehrenamt doch mit viel grösserer Wonne und Sorgfalt ausüben könnten ... „Wie sind Sie bloss auf mich verfallen, Herr Amtsgerichtsrat?"

    Der lederfarbene Herr mit der Stahlbrille schlägt das tütenblaue Heft auf. „Es handelt sich um die Hinterbliebenen eines Angestellten aus Ihrem Büro, der vor kurzem verstorben ist. Es hält so schwer, Herr Olshagen, für all die armen Menschenkinder den richtigen Vormund zu finden. Auf der Liste stehen Sie längst. Nun las ich in der Aufnahme, dass Sie dem Manne das Gnadenvierteljahrsgehalt bewilligt haben, nahm also an, Sie waren mit ihm zufrieden, wissen auch etwas Bescheid über die Verhältnisse, unter denen er seine Kinder zurückgelassen hat. Es sind Zwillinge, Mädchen, fünf Jahre alt. Der Verstorbene war sechs Jahr in Ihrem Büro als Modellzeichner tätig. Heimsöth. Peter Heimsöth."

    „Möglich. Aber gesehen hab’ ich ihn nie. Wissentlich nickt. Das Zeichenbüro hier arbeitet unter dem Diplom-Ingenieur Wessel, der wird ihn natürlich genau gekannt haben. Auf Wessels Vorschlag ist gewiss auch das Geld angewiesen worden. Er überfliegt die Papiere, die ihm der Amtsgerichtsrat hinschiebt. „Richtig, ich habe die Zuschrift selbst unterzeichnet. Ja, aber bedenken Sie, Herr Amtsgerichtsrat, die Firma beschäftigt im ganzen neunzehntausend Arbeiter, Angestellte und Beamte. Übrigens muss der Mann doch auch von einer Sterbekasse bedacht worden sein, nicht?

    „Das ist alles restlos verbraucht. Die lange Krankheit, Rückstände, Beerdigungskosten. Die Schwester des Toten war in der vorigen Woche bei mir. Die Not scheint dort gross zu sein. Das junge Ding hat wohl etwas übertriebene Hoffnungen, macht sich einen falschen Begriff von den Funktionen eines Vormunds, jedenfalls war sie sehr beglückt davon, dass der hohe Chef persönlich mit dem Ehrenamt betraut worden ist."

    Bernt lächelt. „Zunächst ein grundlegender Irrtum, denn der hohe Chef bin nicht ich. Und zweitens ein Beweis dafür, dass sie den Seniorchef der Firma durchaus unrichtig einschätzt. Droeseke in Heinersbach ist nichts als eine Rechenmaschine und belastet sein Gemüt niemals mit Sentimentalitäten. Können ja sehen, ob sich noch etwas von der Firma herausschlagen lässt. Immerhin, wenn der Mann sechs Jahre auf dem Werk gearbeitet hat und Wessel mit ihm zufrieden war ... Ich lasse mir noch berichten ... Ob ich mir die Kinder mal ansehen will? Aber selbstverständlich. Nur bin ich gerade im Begriff, für zehn Tage auf Reisen zu gehn. Ich habe mir die kurze Frist sauer verdient. Sie haben kaum eine Vorstellung davon, was alles auf mir herumklaviert. Und wer ist der Gegenvormund, Herr Amtsgerichtsrat?"

    „Habe ich gar nicht erst ernannt. Das ist nur gesetzliche Vorschrift, wenn sich’s um die Verwaltung grösserer Vermögen handelt. Aber das Heimsöthsche ist leicht zu übersehen: Plus minus null. Nähere Verwandte sind ausser Heimsöths Schwester nicht vorhanden, bloss von seiten seiner Frau ein paar entfernte Tanten in Dänemark. Heimsöth habe sich in seiner Not einmal um Unterstützung an sie gewandt, berichtete mir seine Schwester, aber es sei niemals eine Antwort erfolgt. Ich darf Sie also verpflichten, Herr Olshagen ... Hier sind die Papiere; die Ausfertigung erhalten Sie durch die Gerichtsschreiberei."

    Händedruck. Abgemacht. Um eine Ehrenlast reicher verlässt Bernt das Gebäude mit dem Schutzanstrich gegen Lustempfindungen und gibt seinem Chauffeur die Adresse der Zwillingsfamilie. Es ist irgendwo in der Drehe von Schmargendorf.

    Richtige Kleineleutgegend. Grossberliner Provinzialwesten, wo er am geschmackverlassensten ist. Ein Haus mit wüsten Orgien in Stuck. Angeklebte Säulenimitationen, aufgepappte Spitzkugeln über den Fenstersimsen. Im engen Hof werden Teppiche geklopft, ein Leiermann spielt, und es riecht aus allen Wohnungen nach Sauerkohl, denn es ist Donnerstag.

    „Wohnt hier Heimsöth?" fragt er eine teppichklopfende Walküre.

    „Nee, der is dot, der Heimsöth. Als wie seine Kinder, det sind die Zwillinge da in die Ecke. Da gehn Sie man Quergebäude drei Treppen rechts bei das Fräulein, wo die Schwester von is."

    „Das ist die Tante Mie!" ruft eine Fünfjährige aus der Hofecke, wo der krumme Schneemann steht.

    Bernt sieht ein kleines Plaidbündel, das im Schnee auf und nieder hüpft. Eine rote Nase guckt oben heraus, ein Paar vergissmeinnichtblauer Augen mit strohblonden Brauen und Wimpern. Der wollene Schal ist kreuzweis um die winzige Gestalt herumgewickelt, auch um die Oberarme, was die Bewegungsfreiheit einigermassen einschränkt. Ein zweites Bündel, etwas dicker, mit noch röterer Nase, die stark läuft, und ebenso vergissmeinnichtblauen, ebenso strohblond bewimperten Augen, hüpft im Hintergrunde mit. Das Paar übernimmt nun die Führung. „Wollt ihr erst eure Pfoten abkratzen! ruft die Walküre ihnen nach. Die Zwillinge trampeln ein Weilchen auf dem Schabeisen herum und kichern. „Kroppzeug! Draussen im Hof geht das Klopfen weiter.

    Unendlich lange drücken die Zwillinge an der Flurtür zwei Treppen rechts mit ihren roten Fäustchen den Klingelknopf nieder, beide gemeinsam. „Ich hab’ zuerst geklingelt, sagt die eine. „Nein ich, die andere.

    Auf das Sturmzeichen kommen rasche, leichte Schritte näher, die Tür geht auf, und die kleine Mie erscheint. „Mein Gott! seufzt sie, als sie den fremden Herrn sieht. „Von der Steuer?

    „Olshagen. Der Amtsgerichtsrat Seyb schickt mich. Ich bin zum Vormund der Kinder ernannt worden, Fräulein Heimsöth."

    „Ach, von Droeseke und Koh! — Kinder, so macht doch Platz und lasst den Herrn eintreten. Bitte sehr, ach, das ist furchtbar freundlich, ich wäre natürlich ebenso gern selbst ... Dagmar, wo hast du dein Taschentuch? Ingrid, so hör doch bloss mit Klingeln auf."

    „Ich hab’ zuerst! triumphiert das dickere Plaidbündel. „Zuerst — und zuletzt!

    „Ja doch, ja doch ... Entschuldigen Sie, Herr Olshagen."

    Es kann sich ja nur um eine Blitzvisite handeln. Bernt will einen Blick in die Wohnung werfen. Die Zwillinge müssen ihm ihre roten kleinen Pfoten geben, nachdem sie einer mehr symbolischen Reinigung unterzogen sind. Also das ist Dagmar und das ist Ingrid. Solang sie die Plaidumschnürung tragen, kann man sie unterscheiden — die dickere ist Ingrid, weil sie das dickere Plaid bekommen hat —, aber in ihren groben schwarzen Kleidchen ähneln sie einander erschreckend. Schönheiten sind sie gerade nicht, die Zwillinge. Richtige Semmelköpfe.

    Und nun die kleine Mie. Einen grösseren Gegensatz kann man sich kaum denken. Grosse, dunkelblaue Augen, schmales Köpfchen, dunkelbraunes Haar, Bubikopf, halbverschnitten. Der Teint auffallend dunkel. Fein gezeichnete, dunkle Brauen hat sie. Eine klare, schöne Stirn. Die Lippen sind schmal, der Mund ist unsinnlich. Im ganzen aber wirkt ihr Figürchen sehr hübsch. Und sie hat noch das Kinderstrahlen in den Augen.

    „Also das ist nun euer Herr Vormund, Dagmar und Ingrid."

    „Na, und wie heisst der neue Onkel?" fragt Bernt gemütlich onkelhaft, indem er sich tief zu den kleinen Semmelblonden hinunterneigt.

    „Du bist Herr Droeseke und Koh!" sagt Dagmar. Und Ingrid plappert es nach.

    Es riecht nicht nach Sauerkohl und Armut hier, mehr nach Seife. Nach billiger Seife, freilich. Die kleine Mie hat ein grosses Scheuerfest abgehalten. Die Wohnung ist blitzsauber. Es hängen auch keine Öldrucke an der Wand, sondern schmalgerahmte Zeichnungen und Aquarelle. Werke des toten Modellzeichners, aus der Zeit, als er noch Künstlerträumen nachhing. Gerade keine grossen Talentoffenbarungen sind’s, sie

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