Die indische Tänzerin
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Buchvorschau
Die indische Tänzerin - Paul Oskar Höcker
Saga
Der Brief stammte vom Konsul Pohl. Er war kurz und geschäftlich. Aber er enthielt eine umfangreiche Einlage: ein Schreiben von Helyetts Vater.
Helyett schwante sogleich nichts Gutes, als sie die Schriftzüge sah. Aber ihre schlimmsten Befürchtungen wurden durch die Tatsachen übertroffen. Ihr Vater hatte das Kapital, das ihm im Februar zur Verfügung gestellt worden war, zur Begleichung der dringendsten Schulden aufgebraucht. Er hätte von Simla sonst überhaupt nicht fortgekonnt, schrieb er. Nun sass er in Benares, wiederum von allen Mitteln entblösst, und sein Brief an Konsul Pohl erging sich im Ton Heller Verzweiflung. Er klagte darin seine Schwägerin an, er zieh sie ebenso wie seine Tochter der Undankbarkeit. Mit welchem Recht sie ihm den andern Teil vom Erlös aus dem Verkauf seiner Sammlungen vorenthielten? Vertrauten sie ihm nicht? War es nicht himmelschreiend, dass sie sich seine Ohnmacht zunutze machten, während er krank lag im fremden Lande? Sie wollten ihn bevormunden — als ob er nicht ganz genau wüsste, welche Verantwortung er besass. Von Deutschland aus könnten sie die Sachlage doch gar nicht übersehen. Er hatte gegen den Rakam Haidar den Prozess wieder aufgenommen. Wichtige Papiere waren ihm in die Hände gefallen; die bewiesen klar die Berechtigung seiner Ansprüche. Sein Schwiegervater hatte kurz vor seinem Tod eine Nachforderung von fünfzigtausend Pfund Sterling bei Haidar geltend gemacht. Die Summe hielt sich noch immer innerhalb der Maximalgrenze, die für den Bau des Sommerpalastes in Simla festgesetzt worden war. Der Bau dort bildete heute den Stolz der ganzen Sommerresidenz. Haidar hatte bei der Fertigstellung des Palastes dem berühmten Baumeister vor Zeugen ein wertvolles Ehrengeschenk überreicht — ein Zeichen also, dass er mit der Rechnungslegung damals vollkommen einverstanden gewesen war. Dass er die Nachforderung nach Sir Williams Tod nicht honorieren wollte, dass er sich hinter allerlei Spitzfindigkeiten verschanzte, das war eine unerhörte Vergewaltigung des Rechts. Die Wiederaufnahme des Prozesses — jetzt, wo er wieder gesund war — musste zum Sieg führen. Freilich erforderte die Durchführung der Angelegenheit grössere Barmittel.
„Fünfzigtausend Pfund Sterling sind gerettet, wenn ich jetzt rund tausend zur Verfügung habe. Im andern Falle ist alles verloren — und ich verlasse das Land als Bettler."
Der Ton, in dem ihr Vater schrieb, war Helyett unerträglich. Wenn er in seiner flotten, eleganten Art die gleichen Worte zu ihr gesprochen hätte, so würde sie ihm genau wie früher ohne weiteres Nachdenken alles geglaubt haben. Er besass ja das Talent, zu bezaubern. Es war das grösste — vielleicht das einzige Talent, das er besass. Aber der liebenswürdige Firnis fehlte nun, und das gewisse Pathos hatte etwas Unwahres, etwas Gespieltes. Helyett glaubte darum an diesen Prozess nicht mehr.
„Schreibe Papa, er solle auf die fünfzigtausend Pfund verzichten und jetzt schon das Land verlassen — dann rettet er immer noch mehr, als wenn du ihm den Rest schickst und er bleibt."
Die Gräfin Eltz beurteilte die Sachlage nicht anders. Ihre Erregung aber war natürlich noch grösser. Sie hatte ihrem Schwager damals in einem langen, eindringlichen Schreiben vorgehalten, dass das, was sie aus dem Verkauf der „indischen Herrlichkeiten zurückbehielt, den einzigen Rückhalt Helyetts bildete: „Das muss für ihre Aussteuer bleiben, für den Fall, dass sie heiratet; das ist ihr Notgroschen, für den Fall, dass sie noch unverheiratet ist, wenn ich sterbe.
Und darauf nun trotzdem seine bestimmte Forderung: er müsse das Geld haben!
„Papa ist eben der alte Optimist geblieben," sagte Helyett. Aber ihr Ausdruck gab dem Wort eine bittere, fast geringschätzige Bedeutung.
„Sag’ lieber: es ist sein alter Spielerleichtsinn! fiel Tante Linda erregt ein. „Das Sichere opfern, um Unsicheres einzutauschen. — Und er mag schreiben, was er will, er mag mir meinethalben selber den Prozess machen: ich schicke ihm das Geld nicht!
Helyett hatte die Stirn in die Hände gelegt. Ein trotziger Ausdruck spielte um ihren Mund. Heftig fuhr sie nun plötzlich auf. „Aber ich will es nicht, das Geld, Tante. Nein, nein, ich will es nicht. Für mich brauchst du’s nicht aufzubewahren, hörst du? Für mich nicht. Gottlob steh’ ich ja nicht mehr mittellos da."
Verwundert sah die Gräfin sie an. „Nicht mittellos? Wie meinst du das, Kind?"
„Ich habe mein Talent — und meinen Fleiss — und meinen Ehrgeiz."
Tante Linda seufzte nur. „Nun ja, sagte sie dann kleinlaut, da der leidenschaftlich aufflammende Blick Helyetts eine Beantwortung zu fordern schien. Wieder gab es darauf eine Pause. „Aber für die allernächsten Jahre wenigstens musst du doch sichergestellt sein, Kind. Ich will ja ums Himmels willen an deinen Erwartungen und Hoffnungen nicht zweifeln. Immerhin — alles braucht seine Zeit. Schliesslich macht doch auch Harrach gar kein Hehl daraus, dass du dir deine Karriere ein bisschen stürmischer denkst, als er selbst annimmt.
Mit grossen Schritten durchmass Helyett das Zimmer. Die Arme hatte sie auf dem Rücken gekreuzt. „Die Zeit hier war sehr lehrreich für mich, Tantchen. In jeder Hinsicht. Ich hab’ auch endlich gesehen, dass man, um glücklich zu sein, den Aufwand nicht braucht, den wir in Indien getrieben haben."
„Hm. Aber auch hier, mein liebes Kind, gibt’s jede Woche eine Rechnung zu bezahlen. So sparsam wir leben. Und der Sommer wird Geld kosten — ob wir uns noch so sehr einschränken. Und im Winter willst du nach Wien. Ausserdem — es ward ihr schwer, all das zu sagen, weil Helyett in ihrer praktischen Unerfahrenheit von den Dingen des täglichen Lebens noch gar keine rechte Vorstellung besass — „ausserdem hat doch auch Harrach schon einige Ansprüche an uns. Wenn ich jetzt das Honorar bezahlt habe, dann muss ich so wie so das Guthaben bei Pohl angreifen.
Helyett fiel aus allen Wolken. Sie hatte die Beträge ihrer Rechnung hier in der Pension bisher für lächerlich gering gehalten. Ganz allmählich dämmerte ihr nun, dass Tante Linda ihr auch materiell Opfer brachte, die sie nie wieder wettmachen konnte.
„O — ich sehe — da hab’ ich allerdings kein Recht mehr, stolz zu sein."
Sie sagte es so niedergeschmettert, dass die Gräfin sie rasch an sich zog, ihr tröstend die Hand pätschelte.
„Zunächst haben wir die Pflicht, klug zu sein, Helyett."
Und darauf entwickelte sie ihre praktischen Vorschläge. Wie die Dinge rechtlich lagen, konnte Helyetts Vater ihrer Ansicht nach die Auszahlung des ganzen Kapitals nicht fordern. Und an dem rechtlichen Standpunkt musste nun festgehalten werden. Das sollte kein Misstrauen gegen den guten Willen ihres Schwagers bedeuten — aber gegen seinen temperamentvollen Wagemut wollte sie den kleinen Rest von Helyetts Vermögen schützen.
„Ich muss darüber mit Pohl verhandeln, er ist in geschäftlichen Dingen erfahren, er wird uns raten, uns helfen."
Helyett hatte wieder grübelnd die Stirn in die Hände gelegt. Mit verächtlichem Ausdruck sagte sie: „Und er wird der Residenz eine Geschichte erzählen ... Verzweifelt fuhr sie auf. „Ach, wie klein, wie erbärmlich man wird, wenn man arm ist!
Gelassen schüttelte die Gräfin den Kopf. „Es ist nicht nötig, Helyett, dass man’s wird. Man darf sich nur nicht selbst verlieren. Ich habe meine Armut so getragen, dass niemand im Städtchen — so arg der Klatsch da zu Hause ist — die Nase über mich hat rümpfen können."
„Ja — du, Tantchen! Aber wenn ich mir vorstelle, ich müsste zurück ... grässlich, grässlich! Und so wenig nett ich’s von Papa finde, dass er uns so in Zwiespalt mit uns selber bringt — weisst du, die Vorstellung, andre könnten über ihn herziehen, die macht mich ganz rabiat."
„Ich will’s auch gar nicht von dir verlangen, Helyett, dass du jetzt mitkommst. Wie die Dinge nun einmal liegen. Es genügt, dass ich mit Pohl alles bespreche. Aber es kann möglich sein, dass er Erklärungen vor dem Notar für nötig hält. Ich weiss ja nicht. Dann müsst’ ich dich bitten, folgsam zu sein. Du verstehst, Helyett. Was ich mit Pohl verabrede, das ist zu deinem Besten."
„Kein Wort weiter, Tante. Ich werde tun, was du anordnest. Und plötzlich ergriff sie ihre Hand und küsste sie. „Du sorgst dich um mich, immer sorgst du für mich — und ich habe dir noch nie gedankt.
Die Gräfin war fast erschrocken über den Gefühlsausbruch. Das war ihr etwas so Fremdes an ihrer Nichte.
In vollem Einvernehmen besprachen sie dann die Reisevorbereitungen. Tante Linda hoffte, nicht länger als vier, fünf Tage wegbleiben zu müssen.
Noch in der gleichen Stunde suchte Helyett dann Harrach auf, um ihm die ganze Angelegenheit ohne jeden Rückhalt darzustellen. Sie hatte ihm aus ihren misslichen Verhältnissen ja von vornherein kein Hehl gemacht.
Aber Harrach war seltsam abwesend. Ein paar Zwischenfragen, die er tat, klangen so zerstreut, dass Helyett es ihm übelnahm.
Hinterher sagte sie sich: Harrach war gewiss gekränkt über ihre Unbeständigkeit im Unterricht. Er hatte sie in den letzten Tagen frei schalten und walten lassen und gar nicht mehr zu den ihr so entsetzlichen Kontrapunktstudien angehalten.
Wenn erst Tante Linda abgereist war, fand sie mehr Zeit, ihr Tag ward grösser, dann wollte sie sich wieder emsiger ihren kontrapunktischen Studien widmen, um ihren strengen Lehrmeister zu versöhnen. Aber der Grund von Harrachs Zerstreutheit und Interesselosigkeit war ein ganz andrer. In nicht geringem Schreck nahm sie das wahr.
Als Helyett in dem Wagen, in dem sie Tante Linda nach Bozen zur Bahn begleitet hatte, bei der Pension Aurora vorfuhr, hörte sie Harrach Klavier spielen. Sie erkannte das Thema sofort wieder. Es war das gleiche, das sie in Radhas Tempeltanz vorgebracht und kürzlich in ihrer Skizze zum „Paria" verwendet hatte. Aber es war nur das Thema, die Durcharbeitung war ganz neu.
Sie blieb im Vorgarten stehen und lauschte. Und je länger sie lauschte, desto beklommener ward ihr zumute.
Harrachs Spiel brachte das Thema zu grossartiger Steigerung. Eine Fülle polyphoner Arbeit lag darin. Helyett konnte nicht all den einzelnen Stimmen folgen. Das reiche Figurenwerk war es auch weniger, was sie verblüffte. Die Grosszügigkeit der sinfonischen Führung machte sie staunen.
Ein paarmal wollte sie in einen Beifallsruf ausbrechen. Steigerungen des Themas, die sie selbst schon gefühlt, harmonische Wendungen, denen sie nachgesonnen hatte, ohne sie zu finden, entwickelte Harrach mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, dass ihr’s wie eine Erlösung vorkam.
Aber ihre Begeisterung war nicht restlos erquicklich. Eine seltsame Eifersucht ergriff sie. Auch eine Art Beschämung.
Wenn Harrach schon die ganze Zeit über, wo sie sich mit der Weiterführung einzelner Themen gequält hatte, in dieser Weise Meister über den gleichen Stoff gewesen war, warum hatte er ihr’s dann verheimlicht?
Jetzt schwieg das Spiel. Harrach hatte einen kurzen Hustenanfall. Er stand vom Flügel auf und ging ein paarmal hastig übers Zimmer.
Der Wagen hatte längst das Tor wieder verlassen. Helyett trat ins Haus ein und nahm rasch den Weg zu ihrer Stube, ohne beim Musikzimmer innezuhalten. Nachdem sie abgelegt hatte, öffnete sie einen Türspalt, um es sofort zu hören, wenn Harrach weiterspielte.
Eine halbe Stunde später begann er wieder.
Nun trat sie auf den Flur hinaus. Sollte sie sich ihm zeigen? Ihn zur Rede stellen? Es war doch unerhört, dass er ihr all die Zeit über nicht einmal eine leise Andeutung über dieses neue Werk gemacht hatte.
Lange war sie unschlüssig.
Neben dem Salon lag das Lesezimmer. Hier liess sie sich, eine Zeitung nehmend, unter den andern schweigend lesenden Pensionären nieder. Aber sie las keine Zeile.
In dieser Stunde, bei diesem Spiel, das sie künstlerisch mit fortriss, machte sie eine gewaltige Erschütterung und Enttäuschung durch. Ihr ganzer Glaube an ihr Talent ward zertrümmert.
Unbedingt war es ein gross angelegtes dramatisches Werk, dessen Abfassung Harrach beschäftigte. Und zweifellos spielte es in Indien. All die Originalthemen, die sie in ihren eigenen Versuchen benutzt hatte, kamen auch in seiner Arbeit vor. Aber welch gewaltige Wandlung hatten sie durchgemacht! Was sie geschrieben hatte, erschien ihr so unsagbar dürftig und dilettantisch neben seiner vollen, reifen Kunst der thematischen Führung, der harmonischen Steigerung.
Sie hatte das Blatt in den Schoss sinken lassen und starrte abwesend vor sich hin. Ihre Hände waren eiskalt geworden — aber hinter ihren Schläfen brannte es.
Scham und Eifersucht