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Königin von Hamburg
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eBook275 Seiten4 Stunden

Königin von Hamburg

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Über dieses E-Book

In den Hamburger Kaufmannsfamilien um die Jahrhundertwende läuft alles in geregelten Bahnen ab. Seit Kindestagen scheint der Reedersohn Karl Wiggers der Nachbarstochter Ute versprochen zu sein. Als Ute an der Hochzeit von Freunden nicht an der Seite von Karl teilnehmen kann, lernt er die Rheinländerin Minna kennen. Und mit einem Mal stellt sich die Frage, wer denn nun die Königin von Hamburg werden wird. Zum Autor: Paul Oskar Höcker, geboren 1865 in Meiningen, gestorben 1944 in Rastatt, war ein deutscher Redakteur und Schriftsteller. Höcker verfasste Lustspiele, Kriminalromane, Unterhaltungsromane, historische Romane und auch etliche Jugenderzählungen. Er galt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als überaus erfolgreicher Vielschreiber. Einige seiner Romane wurden verfilmt.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum10. Juli 2015
ISBN9788711445525
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    Buchvorschau

    Königin von Hamburg - Paul Oskar Höcker

    Saga

    Karl Wiggers hatte eine sonnige Kindheit verlebt. Seine immer fröhliche, immer gütige Mutter war Inhalt und Schmuck des grossen Hauses gewesen, das Grossvater Wönktorff an der Schönen Aussicht für den Junior der Firma und dessen junge Frau hatte bauen lassen. Seitihrem frühen Tod aber schien hier alles wie in Schatten getaucht. Jedenfalls fühlte sich Karl Wiggers noch viel einsamer als sein Vater, dem ja die schwere Geschäftslast kaum ein Eigenleben liess.

    Die meisten Hamburger Reeder hatten schon bald nach dem Siebziger Krieg ihre Wohnstätten aus der enggewordenen Hafenstadt ins freie Land verlegt. Wundervolle Villenviertel waren rund um die Aussenalster entstanden, eine behagliche Siedlung auch in Blankenese, weiter unten am Elbstrom. Da hatten die Bauherren überall Gärten oder Parke geschaffen. Und Spielplätze für die Kinder mussten vorhanden sein. Das mächtige Gebäude, in dem Karl Wiggers heranwuchs, lag dicht am nördlichen Alsterstrand und bot von den oberen Stockwerken überraschend weite Ausblicke ins grüne Wiesenland und über die blaue Wasserfläche — doch es war eine Art Vorstadtpalast, kein Landhaus. Aus Blumen hatte sich Grossvater Wönktorff nie etwas gemacht. Und für Kinder besass er ebensowenig Verständnis; laute Spiele waren ihm ein Greuel.

    In seiner ganzen Knabenzeit hatte sich darum Karl Wiggers bemühen müssen, jedem Zusammenstoss mit dem Grossvater auszuweichen. Auch in seinen „Flegeljahren". Aber feurige Indianerspiele, Seeräuberüberfälle oder Griechen-und-Perser-Kämpfe konnten selbst unter guterzogenen Tertianern nicht ohne Stimmaufwand zu Sieg oder Untergang führen.

    Ein Endringkampf zwischen dem stolzen, tapferen Trapper Karl Wiggers und der listig-verschlagenen Rothaut Jürgen Hallauf fand unter der begeisterten Anteilnahme einer wilden Horde Mitschüler auf dem Bürgersteigpflaster gerade vor dem Erdgeschossfenster statt, hinter dem Grossvater Wönktorff die Abendausgabe des „Hamburgischen Correspondenten" las. Das war in dem eiskalten Winter 1879. Der alte Herr stürmte in seinem Jähzorn barhäuptig aus dem Hause, durchbrach die Kette der Zuschauer und holte den Enkelsohn an seinem dunkelblonden, sonst straff anliegenden, jetzt stachlicht zerflederten Haarschopf aus der aufregenden Bubenschlacht heraus.

    Karl Wiggers war eben im Begriff, seinen Gegner auch noch mit der linken Schulter auf den Erdboden zu zwingen. Als er von hinten am Kopf gepackt wurde, hielt er’s für den feigen Eingriff eines Indianers. „Gemein ist das!" keuchte er. Und vor sämtlichen Zeugen bekam er da links und rechts blitzschnell eine Dachtel.

    Alle schrien empört auf. Sie erwarteten, dass der aus dem Hinterhalt angegriffene Trapper furchtbare Vergeltung an dem fremden Spielverderber nehmen werde.

    Mit einem jähen Ruck, bei dem ein Büschel Haare in Wönktorffs Fingern blieb, hatte Karl Wiggers sich frei gemacht. Seine grossen hellgrauen Augen waren weit aufgerissen. Sie weiteten sich noch, als er in das kalte, blasse, strenge Gesicht sah. „Du warst das, Grossvater, du?!" stiess er atemlos aus, ganz entsetzt.

    Wönktorff glaubte Anspruch darauf zu haben, dass sein Enkelsohn ihn hier sofort um Entschuldigung für den wüsten Strassenjungenauftritt bäte. „Sonst hast du mir nichts zu sagen?" fragte er kurz und herrisch.

    Ein paar Sekunden Schweigen. Alle starrten den Spielkameraden voller Spannung an. „Doch, Grossvater. Bloss das eine: Es ist gut, dass du’s nicht gewagt hast, mich Aug’ in Auge anzugreifen."

    Jürgen Hallauf hatte Wintermantel und Schülermütze, die am Boden lagen, aufgelesen und notdürftig saubergeklopft. Besiegt war er nicht, aber alle Knochen taten ihm weh, und in den nächsten Sekunden hätte Karl Wiggers ihn regelrecht geworfen. Den stolzen, drohenden Worten des Trappers folgte ein Beifallsgeheul, an dem sich die listige Rothaut nicht beteiligte; denn Jürgen Hallauf hatte in dem Retter, der ihm aus der Not geholfen, den mächtigen Seniorchef der Firma Wiggers & Wönktorff erkannt, den Reedereibesitzer. „Kommt doch schon! rief er ungeduldig den Kameraden zu. „Zur Fähre von Fitzpatrick! Wer zuerst dort ist! Eins, zwei, drei — los!

    „Los!" schrie der ganze Haufe von Trappern und Indianern. Und im Umsehen war der Strand vor der Schönen Aussicht leer ...

    Karl Wiggers war von seinen Eltern nie geschlagen worden. Den Schimpf, den ihm der Alte hier auf offener Strasse angetan, vergass er durch viele Jahre nicht.

    Sein Vater hatte vermitteln wollen, war noch spät am Abend in Karls Giebelzimmer gekommen und hatte ihm zugeredet, dem Grossvater ein versöhnliches Wort zu sagen. Vergebens. „Abbitten? Nein, das hättest du in diesem Falle auch nicht getan, Papa!" erwiderte er. So blieb nichts anderes übrig, als dass Karl Wiggers die von Wönktorff angesetzte Strafe auf sich nahm, eine Woche hindurch hier oben seine Mahlzeiten allein einzunehmen. Und so lange natürlich Hausarrest in der schulfreien Zeit.

    *


    Von seinem Fenster aus konnte Karl Wiggers weit über die Aussenalster hinwegsehen. Genau gegenüber, in Harvestehude, lag der grosse Park mit dem Renkschen Herrschaftshaus und den Ställen. Wenn seine Mitschüler Edward und Richard mit ihrer Schwester Ute Reitunterricht beim Stallmeister Teetens hatten, dann konnte er sie auf dem Zirkel beobachten.

    Es war ihm lieb, dass die Zwillingsbrüder Renk dem schändlichen Auftritt in der Schönen Aussicht nicht beigewohnt hatten. Er hätte sich geschämt, wenn im Hause Renk über den stillosen Eingriff des Grossvaters gesprochen worden wäre.

    Die Mutter seiner Kameraden war Engländerin; sie stammte aus der Familie Lawrence, mit der auch die Wönktorffs entfernt verwandt waren. Frau Florence Renk war äusserlich ganz freundlich, aber innerlich sehr selbstbewusst, immer kritisch und überlegen. Seitdem sie Witwe war, mit knapp dreissig Jahren, führte sie die Firma Renk selbständig weiter, nur unterstützt von dem stubenbleichen Buchhalter Krause, der sie im stillen wie eine Gottheit anbetete. Sie war eine bedeutende Frau, ohne Frage. Aber die Eiseskälte, die manchmal von ihr ausging, wenn sie England gegen Deutschland ausspielte, konnte auf Karl Wiggers ebenso lähmend oder herausfordernd wirken wie auf ihre eigenen Kinder. Er hätte ihr jetzt nicht den Triumph gegönnt, seinen Grossvater lächerlich zu finden — oder gar: nicht gentlemanlike. Dazu war er nun doch wieder zu stolz auf die eigene Familie.

    In dieser Zeit heckte Karl Wiggers in den Schulpausen zusammen mit den Renkschen Zwillingsbrüdern Licht- und Blinkzeichen aus, durch die sie sich über die Aussenalster hinweg verständigen konnten. Auf dem Dach des grossväterlichen Hauses an der Schönen Aussicht hatte er heimlich Signaldrähte angebracht. Die Zahl der kleinen Laternen, die er daran aufzog, gab die genaue Stunde an, zu der man sich treffen sollte. Auf dem Balkon von Utes Zimmer musste dann der mit Silberpapier bezogene grosse Drachen erscheinen, der bestätigte: Abgemacht. Denn Ute war dem Kleeblatt niemals Spielverderber, war überhaupt für ein Mädel ein besonders guter Kamerad. Die Einsamkeit sprach da mit. Drüben fehlte der Vater wie hier bei Karl die Mutter. Und die beiden Überlebenden wurden von ihren Geschäften aufgeschluckt, von tausend Verpflichtungen, die sie aus dem Hause zogen.

    Es stand noch nicht fest, ob Ute eine Erzieherin erhielte oder ob sie in ein Schweizer Pensionat käme. Vorläufig gehörte sie zu jedem Spiel, das die Brüder mit Karl Wiggers trieben. Ute war auch sehr geschickt im Basteln. Sie verstand die schwierigsten Zusammensetzspiele; fürs Ausschneiden und Kleben der Maschinen- und Schiffsbogen zeigte sie sich noch viel begabter als ihre Brüder, die doch beide Schiffsbaumeister oder Schiffsingenieure werden wollten. Zwang sie das Weiter nicht ins Haus, dann ruderten sie zu viert auf der Alster, oder Teetens liess sie reiten, oder sie turnten, oder sie spielten Theater bei den Ställen, oder sie erfanden neue Indianerspiele, in denen eine Squaw vorkam; denn Ute eignete sich mit ihrer heiteren Würde sehr gut für Märchenprinzessinnen, Indianerhäuptlingsweiber oder Burggrafentöchter, um die man Kämpfe bestand.

    In diesen Kämpfen siegte meist Karl Wiggers. Übrigens waren alle vier längst darin einig, dass Karlemann und Ute einmal Mann und Frau würden. Auch den anderen Kameraden erschien das selbstverständlich. Die Kinder, die im Hause Renk verkehrten, gehörten fast durchweg Reederfamilien an. Vater Hallauf besass freilich nur eine unbedeutende Schiffslinie, aber den Jürgen hatte man wegen seiner Possierlichkeit gern. Utes Freundin Jutta war die Tochter des grossen Paulsen, der eine ebenso mächtige Reederei innehatte wie Frau Renk.

    Das Renksche Haus bildete einen besonders beliebten Mittelpunkt für die junge Welt, weil man da die Ruderboote auf der Alster, den grossen Spielplatz im Park und den Reitstall mit dem Zirkel hatte, auf dem die Gelehrigsten unter Teetens’ Leitung Schule reiten durften. Und — für manche eine Hauptsache — man konnte da ganz unverhofft seiner Flamme begegnen, sofern die mit Ute befreundet war. Zum Beispiel Jutta.

    Jutta wechselte den Gegenstand ihrer Zuneigung allerdings sehr häufig. „Du hast einen fabelhaften Verbrauch!" sagte Jürgen Hallauf einmal zu ihr, als sie ihn auffallend kühl behandelte und sich von Dietrich Brauss den Hof machen liess. Alle jungen Herren in ihrem Umkreis, soweit sie für eine Vierzehnjährige in Betracht kamen, hatten eine Weile für sie geschwärmt. Nur: Karl Wiggers einzufangen, das wollte ihr nicht gelingen. Schliesslich gab sie’s aus Edelmut auf, denn Ute Renk war ihre beste Freundin und bewies dem Erben von Wiggers & Wönktorff nun doch schon seit Jahren eine geradezu rührende Treue.

    Natürlich beschäftigte sich der Klatsch von Aussenseitern zuweilen mit dem allzu leichten Verkehrston, der angeblich da draussen in Harvestehude herrschte. Man bekrittelte die Unbekümmertheit von Frau Florence Renk, die im Kontor an der Grossen Bleichen so manche Tagesstunde verbrachte, in der ihre Anwesenheit im Hause bei ihren heranwachsenden Kindern und deren Freunden und Freundinnen vielleicht ebenso notwendig gewesen wäre. Mehrmals im Jahre fuhr sie auch auf einem Schiff der Lawrence-Linie nach London, um mit ihrem Bruder Harold besonders wichtige Geschäftsdinge zu besprechen. Dann blieb die ganze Aufsicht über die junge Schar in den Händen der Haushälterin. Das ging doch jetzt nicht mehr, wo sich’s schon um richtige Liebschaften zu handeln schien.

    Jutta Paulsen hatte es jedenfalls tüchtig hinter den Ohren. Und die Zwillingsbrüder Edward und Richard waren doch auffallend verändert seit einiger Zeit. Alle beide, so hiess es, liebten Jutta. Jutta Paulsen hatte sich dessen bei Eva Claussen selbst gerühmt: „Sie sollen um mich kämpfen. Warum nicht? Der Überlebende bekommt mich dann als Siegespreis!"

    Ute lächelte gutmütig-überlegen, als ihr derlei zugetragen wurde. Sie wusste, dass weder Edward noch Richard sich Juttas wegen umbringen würden. Die Liebe spielte in deren Leben durchaus keine Rolle. Technik, Elektrizität, Pferdekräfte, Wasserbewegungslehre beschäftigten sie viel mehr. Und hatte Jutta wirklich solchen Unsinn zum besten gegeben, dann war es eben eine witzige Übertreibung, vielleicht aus Selbstspott, höchstwahrscheinlich aber aus Spass daran, ängstliche Gemüter in ihrer Umgebung zu foppen.

    Doch das Gerede kam schliesslich Frau Florence Renk zu Ohren. Sie zeigte ihren Ärger nicht, machte indes in ihrer tatkräftigen Art sofort Schluss. Ute wurde für das Pensionat in Ouchy angemeldet, wohin Frau Florence sie zu Ostern selbst begleiten wollte, und die Zwillinge bekamen die schon lang erbetene Erlaubnis, mit ihrem Lieblingslehrer eine Finnlandfahrt auszuführen.

    Mit Jutta Paulsen hatte Frau Florence eine kurze Aussprache unter vier Augen. Jutta kam darin kaum zu Wort; die eisig kalte Liebenswürdigkeit der Frau Florence liess keine Erwiderung zu. Aus Juttas hübschen blauen, erschrockenen Augen schossen Blitze. Eine Blutwelle zog über ihr Gesicht, bis in die blonden Haare, die ihr als Ponylöckchen in die Stirn hingen. „Bitte sehr, bitte sehr!" sagte sie mehrmals wehrlos, aber überaus artig. Sie hatte gar nicht mehr die Absicht, sich zu verteidigen. Es zwang sie nur, die grossartige Überlegenheit dieser ihr höchst unangenehmen Weltdame zu bewundern. Wie Frau Florence Rücksichtslosigkeit mit scheinbarem Takt verband! Wie sie jede Kleinigkeit und Kleinlichkeit vermied! Wie sie nur das Ziel im Auge hatte, ihr den weiteren Verkehr hier im Hause unmöglich zu machen, ohne eine einzige bestimmte Anklage oder Beschuldigung auszusprechen!

    Jutta ging. Aus Versehen knickste sie noch wie ein kleiner Backfisch, als Frau Florence ihr die Hand reichte. Darüber lächelte Frau Florence fast unmerklich. Jutta verdross der Knicks sehr. Sie vergab sich ihn noch weniger als Frau Florence ihr Lächeln.

    Überraschend schnell war nun Ute vereinsamt: Die Brüder in stürmischer Freude abgereist — der ganze Jugendkreis mit einem Schlag gesprengt — Karl Wiggers völlig verstummt. Sie musste packen, sie musste immer erreichbar sein, wenn eine der beiden Schneiderinnen sie zur Anprobe brauchte. Es gab neue Kleider, neue Wäsche, auch neue Schuhe und neue Hüte. Ute legte diesen Dingen nicht den Wert bei wie ihre Mutter. Sie gefiel sich jetzt selbst nicht mehr. Ihre Mutter hatte stets für eine Schönheit gegolten: Sie war gross und besass die stolze Haltung einer echten Lady. Das vielbewunderte naturkrause blonde Haar von Ma hatte Ute nicht geerbt; ihr Haar lag ganz schlicht um den schlanken Kopf. Das gab ihr etwas Ernstes. Die Augenbrauen und Wimpern waren um einen Grad dunkler als das kastanienbraune Haar. In ihren grossen braunen Augen läge eine starke Ausdrucksfähigkeit, hatte Karl Wiggers einmal zu ihr gesagt. Er hatte es rein sachlich festgestellt, denn er machte keine Allerweltsredereien wie etwa Jürgen Hallauf. Als sie jetzt bei den Anproben immer wieder vor dem Spiegel stehen und sich so lange ansehen musste, gewann sie ein klares Urteil über sich. Ja, ihre Augen waren schön, sagte sie sich, aber sie waren das einzig Schöne an ihr. Mit Jutta, die hundert Reize hatte, immer neue, konnte sie sich schon gar nicht vergleichen. Die Tage zwischen Konfirmation und Pensionat vergingen im Nu. Kaum fand Ute noch Zeit zum Reiten. Ma machte sich nicht viel aus dem Schulreiten auf dem Zirkel. Wirklich gern ritt sie nur die Jagden. Aber Ute hatte da immer zu Hause bleiben müssen. Das Rudern auf der Alster war ihr nun seit einiger Zeit völlig verboten. Ute stellte mit einiger Trauer fest: Der Klatsch hatte auf der ganzen Linie gesiegt!

    *


    Gleich nach dem Osterfest wollte Ma mit ihr abreisen. Vor diesen Feiertagen fürchtete sich Ute. Ma gedachte sie ganz allein mit ihr zu verleben. Es sei noch so viel zu besprechen, sagte Ma. Aber Ute wusste nicht, was Ma ihr noch zu sagen hätte. Sie selbst hatte ihr gar nichts anzuvertrauen. Ma war ihr so fremd wie nie.

    Die Konfirmation war feierlich, als strenger kirchlicher Tag vergangen. Onkel Harold war mit seinem Sohn Charles aus London dazu eingetroffen. Vetter Charles war ihr wenig erfreulich. Aus dem alten Kreise war kein einziger Freund, keine einzige Freundin zum Essen eingeladen. Irgendeiner Trauer wegen.

    Jutta schien ihr böse zu sein. Sie hatte ihr aus Blankenese, wo Paulsens soeben ihr neues grosses Landhaus bezogen, ein Prachtwerk mit einem kurzen Gruss geschickt. Prachtwerke konnte Ute nicht ausstehen.

    Von Karl Wiggers war ein Blatt für ihr Album gekommen. Hübsch von ihm, dass er überhaupt ihrer Konfirmation gedachte! Aber der Spruch, den er in seiner steilen, harten Handschrift aufgeschrieben hatte, passte doch eigentlich gar nicht für sie; er lautete: „Sein Schicksal schafft sich selbst der Mann." Was gab er ihr damit?

    Ach, es war zu traurig, dass sie Hamburg verlassen sollte, ohne ihn noch einmal zu sehen!

    Als sie im Balkonzimmer aufräumte und mehrmals die Tür der oberen Diele zum Wäscheboden öffnen musste, fiel ihr Blick auf den silbernen Drachen. Sie holte ihn heraus und befestigte ihn, wie das vor Jahren Edward und Richard so oft getan, wenn sie Karl Wiggers ein Zeichen geben wollten, an den beiden Haken unter den Blumenkästen, die noch leer waren.

    Leichter Schnee fiel. Ute wurde von der Schneiderin gerufen und konnte sich in der nächsten Stunde nicht mehr um das Signal kümmern. Als sie später dann wieder ans Balkonfenster trat, sah sie drüben auf dein Dach des Wönktorffschen Hauses, auf dem wie auf allen Dächern Schnee lag, eine Kette von elektrischen Birnen glühen. Fünf Birnen waren es. Also wollte Karl Wiggers um fünf Uhr hier sein. Natürlich kam er im Ruderboot herüber. Sie würde ihn unten am Steg erwarten. Ma war um fünf Uhr zum Tee im Hotel „Vier Jahreszeiten"; um sieben Uhr wollte sie zurück sein. Bis dahin hätte Karl Wiggers schon längst wieder das Grundstück verlassen. Sie wollten einander doch nur sehen, ein letztes Mal, bevor die lange Trennung kam.

    „Edward und Richard haben mir noch eine Karte aus Travemünde geschickt. Willst du sie lesen? Denke dir, Ute: Wenn sie aus Finnland zurückkommen, bin ich auch schon weg!" Das rief er ihr schon aus dem Boot zu.

    „Weg aus Hamburg? Du auch?"

    „Nach England soll ich. Ins College. Ich mache zuwenig Fortschritte im Englischen, findet Wönktorff. Vaters Gedanke war das sicher nicht. Ich bin dem Oberälterahn hier im Wege. Und Vater weicht jetzt ja jeder Misshelligkeit aus. Er ist ganz klein geworden. Schade! Früher so gross und so streitbar. Er hiess doch der Ungekrönte König. Nicht? Weisst du noch, wie er damals auf dem Fest der Stadt so wunderschön für die Reeder gesprochen hat?"

    „Jeder Zoll ein König — ja, ja, unvergesslich!" Sie nahm seine Hand und hielt sie auf dem ganzen Weg über die beschneiten Parkwege fest. Erst wollte er nicht mit ins Haus, weil ihre Brüder nicht da waren. Aber sie konnte nicht draussen bleiben, musste es doch hören, wenn eine der Schneiderinnen drinnen nach ihr verlangte.

    Karl Wiggers hatte sein stolzes Vorbild verloren: Er war von seinem Vater tief enttäuscht. Ob der sich etwa noch einmal verheiraten wollte? „Einmal hiess es: Er und deine Mutter. Aber das wäre doch Unsinn. Glaubst du daran, Ute?"

    Ute standen die Tränen in der Kehle. „Nur das nicht! Nein. Es täte mir schrecklich leid. Sie ist ja so — wie Eis ist sie jetzt wieder — und dein Vater würde nur unglücklich mit ihr."

    Nun war er doch mit ins Balkonzimmer eingetreten. Er strich mit seiner festen Hand über ihre Finger, die das Album umklammerten. Eigentlich hatte sie ihn um ein anderes Blatt bitten wollen. Aber als er den Spruch jetzt so stolz und trotzig wiederholte, begriff sie, dass es wirklich sein Lebensspruch war.

    „Du bist ebenso allein wie ich, Ute. Himmelelendallein. Aber im Grunde ist jeder Mensch einsam."

    Sie schüttelte den Kopf. Eine Träne löste sich dabei aus ihren dunklen Wimpern. „Edward und Richard stehen ganz anders im Leben als du und ich. Sie können sich jedem mitteilen. Und darum leben sie mit der ganzen Welt. So wie Jutta vielleicht. Und jeder ist ihnen gut."

    „Dir ist auch jeder gut, Ute. Denn du bist ein feiner Kerl, Ute."

    „Du auch, Karlemann."

    Nun mussten sie beide lachen. Vielleicht war es nur Verlegenheit.

    „Schade, dass du nicht auch ein Junge bist, Ute! Dann müssten wir jetzt Blutsbrüderschaft schliessen. Ganz ernsthaft, weisst du. Wie Fitzpatrick mit dem andern Trapper."

    Diese Erinnerung stammte aus einer ziemlich weit zurückliegenden Lesezeit. In den letzten beiden Jahren hatten sie doch mehr Felix Dahn als Cooper gelesen. Aber Ute war schon wie von Glück erfüllt, dass er an ein äusseres Zeichen der Verbundenheit dachte. Sie streifte rasch den Ärmel an ihrem linken Arm zurück, bis weit über den Ellbogen. „Jeder trägt dann den Anfangsbuchstaben des andern. Ich ein K, du ein U."

    „Geht nicht, Ute. Sie haben dich doch damals in England nicht mal am Arm geimpft, weil man’s da sieht."

    Ihr Unternehmungsmut wuchs. „Ich habe noch den Dolch der Inkas. Weisst du noch? Dort im Fach. Soll es eine wirkliche Blutsbrüderschaft sein, dann müssen wir beide Mut beweisen."

    Er hatte die Lederjacke, die er im Winter zum Rudern trug, schon abgeworfen und den linken Ärmel seines Sporthemdes hoch aufgekrempt. Den Ellbogen stützte er auf, indem er sich an den Schreibtisch setzte, und machte eine Faust, so dass die Muskeln am Oberarm sich strafften. „Also, Ute, komm her! Einfach ein lateinisches U. Sooft ich’s sehe, denke ich daran, dass ich dein Blutsbruder bin."

    Ihre Hand zitterte nun doch etwas, als das Blut kam.

    Er lachte. „Fester! Tiefer! Nicht nur so ein büschen kratzen. So! Er schlang dann schnell sein Taschentuch um den Arm, recht fest, damit das Blut zurückgedrängt würde. Sie musste ihm helfen, einen Knoten zu binden. Rasch knöpfte er den Ärmel zu und fuhr wieder in die Lederjacke. „Es genügt auch schon, Ute, wenn ich es trage. Du weisst es — damit holla!

    „Nein, nein, nein! Wie flehend hielt sie ihm ihren Arm hin, setzte sich genau so, wie er dagesessen hatte. „Fest und tief! Ich will es mein ganzes Leben lang tragen!

    „Mädel sind nicht so widerstandsfähig wie Männer, weisst du." Er wollte den an der Spitze blutig gewordenen Dolch nun doch lieber weglegen.

    „Du darfst mich nicht kränken, Karlemann! Ich kann Schmerz ebenso ertragen. Bitte! Also tapfer! Du auch. Dein K! Sie lachte unter Herzklopfen. „Deine Handschrift will ich erkennen.

    Er wollte sie nur ganz leicht ritzen. Aber sie merkte, dass er zögerte, und umfasste mit der Rechten die seinige. Der Dolch war eine ganz gefährliche Waffe: Spitze und Schneide waren haarscharf. Das Blut schoss sofort aus der ganzen strichfeinen Linie heraus. „Weiter! Rasch!" rief sie, schloss aber die Augen, weil der Anblick des Bluts sie überwältigte. Vielleicht suchte ihre Hand nur nach einem Halt, nach einem Schutz. Aber der Druck, den sie dabei unwillkürlich auf den Griff der Waffe ausübte, war stark.

    Jäh fuhr er zurück.

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