Raubvögel über dem Rauneckhof
Von Anny von Panhuys
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Rezensionen für Raubvögel über dem Rauneckhof
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Buchvorschau
Raubvögel über dem Rauneckhof - Anny von Panhuys
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I.
Ilse Rauneck kniete am Bett des sterbenden Vaters.
Ein paar Schritte von ihr entfernt stand der Arzt Dr. Seydel.
Der Sterbende sah und hörte nichts mehr. Vor seinem geistigen Auge hatte sich wohl schon das Tor der Ewigkeit geöffnet, und himmlisches Licht aus den Gefilden der Seligen leuchtete ihm entgegen.
Ilse Rauneck aber konnte und wollte nicht glauben, daß der Vater von ihr gehen mußte, obwohl sie der Arzt schon seit Tagen darauf vorbereitet hatte.
Sie begriff nicht, daß der Vater, der noch vor einer Woche so vergnügt mit ihr ihren einundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, sie nun für immer verlassen sollte.
Und kein Wörtchen sprach er zu ihr, keine einzige der vielen Fragen vermochte er ihr mehr zu beantworten, die auf ihrem Herzen brannten.
Der Arzt beobachtete den tief in den Kissen liegenden Herrn des Rauneckhofes aufmerksam. Er wußte genau, nur noch Minuten würden die farblosen Hände über die Bettdecke streichen, nur noch Minuten würde das röchelnde Atmen hörbar sein.
Dr. Seydel dachte, ein guter, anständiger Mensch starb zu früh, viel zu früh. Seine einzige Tochter war eine etwas träumerische Natur, und die Verwaltung des Rauneckhofes eine große und verantwortliche Aufgabe.
Das Röcheln ward lauter, fast überlaut, hörte plötzlich schroff auf. In erhabener Starrheit lag das kräftig geschnittene Gesicht Herbert Raunecks auf dem weißen Linnen.
Ilse erhob sich, wie von einem starken Arm emporgerissen, und wandte sich dem nähertretenden Arzte zu.
„Doktor, lieber Doktor, ich bitte Sie —"
Vor Erregung brach ihr die Stimme und ihr Blick drängte sich durch einen dichten Tränenschleier.
Der Arzt sprach leise: „Ihr Vater ist verschieden, liebe Ilse, Gott gebe seiner Seele die ewige Ruhe."
Er stand jetzt am Lager und drückte dem Toten die Augen zu.
Er betrachtete dabei das Antlitz des stillen Schläfers, und ihm war es, als läge auf der hohen, geraden Stirn und um den Mund eine letzte bange Sorge. Wahrscheinlich hatte sich, als seine Seele schon hinüberflog in das ferne Land über Wolken und Ätherhöhen, noch ein schmerzlicher Gedanke auf Erden festzuklammern versucht. Der Gedanke, seinem Kinde beistehen zu müssen, seiner über alles geliebten Tochter, die wohl reich war, aber noch so lebensunerfahren.
Ilse Rauneck sagte fast trotzig: „Doktor, lieber Doktor, es kann ja nicht möglich sein, daß Vater tot ist. Vielleicht schläft er nur? Ich meine wirklich, er schläft nur. Sie packte ihn am Ärmel. „Doktor, haben Sie doch Erbarmen mit mir.
Sie neigte sich wie lauschend über den Toten, starrte in sein Gesicht, schrie dann plötzlich auf: „Kein Atemzug mehr, kein noch so schwacher Atemzug!"
Ihre Hände bedeckten die Augen und mit einsinkenden Knien kauerte sie sich vor dem Bett nieder.
Wahnwitzige Angst schüttelte sie mit einem Male. Angst vor dem Weiterleben.
Sie würde ja fortan so mutterseelenallein sein, denn sie besaß auf der weiten Herrgottserde keinen Menschen, der zu ihr gehörte.
Ein leises Wimmern, das zu ihm aufdrang, bewog den Arzt, sich niederzubeugen und Ilse Rauneck sanft die Rechte auf die Schulter zu legen.
„Liebste Ilse, fassen Sie sich. Es ist furchtbar traurig, daß Ihr Vater so früh hat sterben müssen, aber zeigen Sie sich jetzt als seine tüchtige und echte Nachfolgerin. Der Rauneckhof hat seinen Herrn verloren, jetzt sind Sie die Herrin, Pflicht und Arbeit warten auf Sie."
Ilse Rauneck schüttelte den Kopf.
„Jetzt ist mir alles gleichgültig. Sie zuckte hoch, rief laut und gell: „Vater, bitte, wache doch auf, deine Ilse ruft dich!
Sie bebte wie im Fieber und wiederholte noch lauter: „Vater, wache doch auf!"
Dr. Seydel nahm ihre Hände, legte sie zusammen.
„Beten Sie für die Seele Ihres Vaters, Ilse, aber mühen Sie sich nicht, ihn zurückzurufen. Und wenn Ihre Stimme so stark wäre wie Posaunenton, erreichte der Schall sein Ohr doch nicht mehr. Kommen Sie, bitte, ich führe Sie zu meiner Frau, die ich bat hierherzukommen, um Ihnen in Ihrem ersten herben Schmerz beizustehen."
„Vater, du geliebter Vater, so höre mich doch!"
Herzzerreißend durchschnitt der Ruf die dumpfe Stille des Totenzimmers und flog hinaus über den breiten, niedrigen Gang, rief das Personal des Rauneckhofes zusammen.
Die alte Köchin Ulrike drückte den Zipfel ihrer blauen Küchenschürze vor die Augen, flüsterte dem Hausmädchen Martha zu: „Nun ist er wohl tot! Und er war doch ein so guter Herr. Warum hat er nur so früh weggemußt? Noch keine fünfzig Jahre ist er gewesen. Aber so eine richtige Lungenentzündung ist was Bitterböses. Gott bewahre uns davor! Sie schluchzte: „Und das arme Fräulein Ilse steht nun wie verloren in der Welt. Kaum zu glauben ist es, daß es Menschen ohne jede Verwandtschaft gibt. Ich kann meine gar nicht zählen.
Dem Doktor, der Ilse schon vom ersten Tage ihres Lebens an kannte, war es gelungen, sie aus dem Sterbezimmer zu entfernen. Er führte sie, die sich wie eine Trunkene von ihm mitziehen ließ, durch mehrere Stuben in das Wohnzimmer.
Seine Frau erhob sich hier von einem Armstuhl. Seine Augen machten ihr ein Zeichen, dann ging er zurück zu dem Toten.
Hermine Seydel trat auf Ilse zu, ihre Arme umschlossen liebevoll die schlanke Gestalt.
„Armes Mädelchen, liebes Ilsekind, bitte, weinen Sie sich aus, das tut wohl. Sie preßte den schmalen Kopf mit dem weichwelligen Haar gegen ihre Brust. „Weinen Sie, Liebste. Tränen erleichtern nicht, wenn sie nur in den Augen glänzen. Fließen müssen die Tränen, damit sie das Herz befreien.
Die weiche sanfte Stimme löste den starren Schmerz, der Ilse wie in einen Panzer hielt, und langsam rollten große Tränen über das schmale, blasse Gesicht.
Frau Hermine Seydel hielt das Mädchen fest umschlungen, flüsterte: „So ist es recht, so ist es gut!"
Immer lauter und verzweifelter wurde das Weinen, und die Frau, der das Scheitelhaar schon silbern über der Stirn lag, geleitete die Weinende zum Sofa, drückte sie darauf nieder, setzte sich neben sie.
Ganz still verhielt sie sich, ließ Ilse Rauneck weinen.
Herbstliches Dämmern drängte sich durch die breiten Fenster des Wohnzimmers und in den Ecken und um die alten Möbel herum, die schon mehreren Generationen treu gedient, ballten sich düstere, geheimnisvolle Schatten zusammen.
Eng aneinander geschmiegt saßen die alte Doktorsfrau und die junge Herrin des Rauneckhofes, und allmählich verklang das Weinen wie in müden Seufzern, die schmerzenden roten Lider schlossen sich über den grauen Augen Ilses und der junge Mund begehrte bitter auf: „Weshalb mußte Vater sterben? Es kommt mir so entsetzlich sinnlos und grausam vor."
Hermine Seydel strich mit mütterlich beruhigender Bewegung über die im Schoß ruhenden Hände Ilses.
„Nichts, was der Schöpfer tut, ist sinnlos, Kind, nur unser an enge Grenzen gebundener Verstand vermag nicht zu erfassen, warum er dies oder jenes geschehen läßt. Aber seien Sie überzeugt, wir kommen immer am besten weg, wenn wir uns bei allem, was war nicht verstehen und was uns als schweres Schicksal trifft, damit trösten: Was Gott tut, das ist wohlgetan!"
Ilses Wimpern hoben sich.
„Mein Vater war der beste und gütigste Mensch, warum mußte er sterben, während so viele schlechte Menschen uralt werden? Erst habe ich die Mutter verloren und nun auch den Vater. Was tat ich, daß ich so allein bleiben muß? Ich habe doch niemand auf der weiten Herrgottserde, der auch nur ein bißchen zu mir gehört, der meines Blutes ist. Klingt das nicht grenzenlos traurig?"
„Gewiß, liebe Ilse, klingt das traurig und ist es auch. Aber Sie haben gute Freunde und Bekannte, man mag Sie überall gern. Und vor allem haben Sie das Glück, nicht hilflos dazustehen. Ihr Vater hinterläßt Ihnen den Rauneckhof und das bedeutet, Sie können sorgenfrei leben. Dafür müssen Sie ihm dankbar sein und daran denken, wie viele arme Mädchen stehen plötzlich nach dem Tod der Eltern den brutalen Alltagssorgen gegenüber, müssen, an ein gutes, bequemes Leben gewöhnt, mit einem Male den Kampf um das tägliche Brot aufnehmen und sind meist so herzlich schlecht darauf vorbereitet. Da bleibt dann oft kaum Zeit, Vater und Mutter zu beweinen."
Ihre Stimme zitterte ein ganz klein wenig, weil Hermine Seydel eines weit zurückliegenden Tages gedachte, der ihr nach der Mutter auch den Vater genommen, und aus einer verzärtelten und verwöhnten jungen Dame ein ganz armes Mädel gemacht, das von einer verbitterten und launischen alten Verwandten in ein Arbeitsjoch eingespannt wurde, in das sie keinen Fremden zu zwängen gewagt.
Sie erhob sich, machte ein paar Schritte. Die Erinnerung hatte sie überfallen wie ein Alpdruck.
„Liebe Ilse, begann sie nach einem Weilchen, „wollen Sie die Nacht im Doktorhause verbringen oder darf ich bei Ihnen bleiben, damit Sie nicht so allein sind?
Ilses Tränen strömten schon wieder.
„Nein, nein, zwängte sie hervor, „ich möchte keins von beiden. Bitte, halten Sie mich nicht für undankbar, aber am liebsten möchte ich mit meinem Vater allein sein. Ich will diese Nacht bei ihm wachen.
Frau Hermine stand neben ihr, berührte leicht ihre Schulter.
„Nicht doch, Kind, das dürfen Sie nicht tun. So eine Nacht der Totenwacht ist endlos. Die Phantasie arbeitet dann mit den traurigsten Bildern, die sich in den langen Stunden zu Schrecknissen verdichten, und Sie sollten Ihre Nerven nicht noch gewaltsam aufreizen."
Ilse machte eine fast heftige Bewegung der Abwehr.
„Liebe Frau Doktor, bitte raten Sie mir nicht ab, es hat doch keinen Zweck. Sie hob das tränenüberströmte Gesicht. „Weshalb soll ich aus dem Hause laufen und meinen Vater allein lassen, und weshalb soll jemand bei mir bleiben? Ich fürchte mich ja nicht. Habe mich mein ganzes Leben lang nicht vor dem Vater fürchten brauchen, da brauche ich es doch auch jetzt nicht tun. Vater und ich haben uns immer so lieb gehabt, Vater und ich haben uns immer so gut verstanden. Ich muß bei ihm bleiben, ich kann einfach nicht anders.
Frau Hermine unterdrückte eine Antwort. Sie erkannte, es hatte wirklich keinen Zweck, weiter zu versuchen, Ilse Rauneck ihren Entschluß auszureden.
So sagte sie denn nur leise: „Sie wissen, mein Mann und ich stehen Ihnen gern in allem zur Verfügung."
Ilse neigte ein wenig den Kopf.
„Ich weiß es und bin Ihnen herzlichst dankbar."
Tiefer drückte sie sich danach in die Sofaecke, und ihr Weinen klang wieder auf, matt und eintönig, unaufhaltsam und gleichmäßig.
Frau Hermine trat an eines der Fenster, wollte die Läden schließen und Licht machen. Doch sie unterließ es, denn das Weinen verstummte plötzlich, ruhiges Atmen drang an ihr Ohr.
Sie schlich sich auf den Zehenspitzen zurück, und ein weiches Lächeln glitt über ihr volles, gutmütiges Gesicht, als sie erkannte, Ilse Rauneck war eingeschlafen.
Kein Wunder, dachte sie, denn das arme Ding hatte ja seit drei Tagen kein Auge geschlossen. Jetzt hatte sich Ilse in den Schlaf geweint.
Leise verließ Hermine Seydel das Zimmer, gab draußen Anordnung, daß jetzt niemand die Wohnstube betreten dürfe und ging dann ihrem Manne entgegen, der eben mit Inspektor Werdenberg den Gang entlang kam und sich mit ihm besprach, was zunächst zu tun war.
Ulrich Werdenberg war von hoher, breiter Gestalt und stand im Anfang der Dreißiger. Sein Haar war dunkelblond und seitlich glatt gescheitelt, sein vielleicht etwas derb geschnittenes Gesicht trug unverkennbar den Ausdruck ehrlichen Schmerzes.
Frau Hermine gesellte sich zu den beiden Herren.
Sie erzählte, was Ilse beabsichtigt und daß sie jetzt, völlig übermüdet, mit einem Male eingeschlafen sei.
„Ich wünschte, sie schliefe bis zum Morgen durch, sagte Dr. Seydel und rückte an seiner goldenen Brille. „Sie hat sich am Krankenbett völlig aufgerieben. Hoffentlich wacht sie nicht noch vorher auf und führt ihren Vorsatz, die Nacht bei dem Toten zuzubringen, aus.
Ulrich Werdenberg wiederholte das Wort „hoffentlich, setzte hinzu: „Den Dienst, bei ihm Wache zu halten, werde ich meinem Herrn leisten. Als junges Kerlchen von dreiundzwanzig Jahren bin ich zu ihm nach Rauneck gekommen, zehn Jahre bin ich nun schon hier und mir ist‘s, als sei mir ein älterer Herzensfreund gestorben. Denn nicht anders behandelte mich Herbert Rauneck.
Man zog sich gemeinsam in eines der Zimmer im Parterre zurück und später schlich sich Hermine Seydel wieder zu Ilse, fand sie immer noch schlafend.
Wie gut das war. Sie wagte keine Lampe einzuschalten, ließ sich an dem Licht genügen, das durch die Fenster eindrang.
Im Hof stand eine Laterne mit zwei Armen, sie sandte einen Ausläufer ihrer Helle in das Wohnzimmer.
Gern hätte Hermine Seydel die Schlafende bequemer gebettet, ihr wenigstens ein weiches Kissen unter den Kopf geschoben, aber sie fürchtete, sie dadurch zu wecken.
Sie selbst nahm im Armstuhl Platz und sann vor sich hin.
Zwei Stunden später schlief Ilse Rauneck noch immer und die Doktorsfrau schlüpfte abermals hinaus, ließ sich in der Küche eine Kleinigkeit zu essen geben und machte es sich dann wieder im Armstuhl bequem.
Ihr Mann hatte fort gemußt zu einem Schwerkranken.
Und so saß sie lange. Von Zeit zu Zeit nickte sie ein wenig ein und freute sich, wenn sie, sich ermunternd, Ilses ruhige Atemzüge vernahm.
Schließlich aber ward ihr eigener Schlaf immer fester, und so hörte sie denn nicht, wie Ilse sich leise erhob und sich in dem von der Hoflaterne matt erleuchteten Zimmer zur Tür tappte.
Die Hoflaterne sollte heute die ganze Nacht brennen, und draußen der niedrige Gang war ebenfalls erhellt.
Aber kein Mensch war hier zu sehen.
Eben begann die alte Kastenuhr am Fuß der Treppe zum Schlage auszuholen. Sie vollführte dabei immer ein rasselndes, schnaufendes Geräusch. Sie war vor Altersschwäche längst kurzatmig geworden.
Ilse verhielt den Schritt und zählte die Schläge. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte.
Zwölfmal klang die alte Glocke auf mit tiefem, heiserem Laut.
Ilse Rauneck strich sich über die Stirn. Also hatte sie fast sechs Stunden geschlafen!
Sie schämte sich. Wie hatte sie nur jetzt schlafen können nach dem furchtbaren Leid.
Sie stieg die Treppe hinauf, drückte die Klinke zum Schlafzimmer ihres Vaters nieder und prallte erschrocken zurück, denn da lag ja der Vater schon aufgebahrt im schwarzen Anzug, und um sein Lager schlang sich eine Girlande von bunten Astern. Wachskerzen standen zu seinen Häupten und zu seinen Füßen, und ihr Flackern gab dem Antlitz des regungslos Ruhenden einen warmen Hauch, nahm ihm die Starrheit des Todes.
Benommen von diesem völlig unerwarteten Anblick verharrte Ilse minutenlang auf der Schwelle, ehe sie langsam näher trat.
Sie bemerkte nicht seitab den Mann, der sich bei ihrem Eintritt von einem der Stühle erhoben hatte und nun keinen Laut von sich zu geben wagte, weil er fürchtete, die ganz in Schauen Versunkene zu erschrecken.
Langsam, fast gleitend, war sie bis dicht an den Toten herangekommen und blickte wie gebannt in das geliebte Vatergesicht, auf dem ein fremder, erhabener Ausdruck lag, den Ilse noch niemals auf dem Antlitz eines Lebenden gesehen.
Lange stand Ilse Rauneck so und Ulrich Werdenberg wagte kaum zu atmen, um die rührende, stumme Zwiesprache nicht zu stören zwischen der jungen Herrin des Rauneckhofes und ihrem toten Vater.
Und dann hörte er ganz deutlich Ilse die Frage stellen: „Vater, liebstes, bestes Väterchen, warum hast du mir das nur angetan? Ich fürchte mich doch so sehr vor der einsamen Zukunft!"
Aber keine Antwort kam zurück. Die Lippen Herbert Raunecks blieben streng verschlossen.
Wie gern wäre Ulrich Werdenberg jetzt vorgetreten und hätte ihr zugerufen: Brauchst dich vor nichts auf der Welt zu fürchten, so lange ich auf dem Rauneckhofe bin. Ich will dir alle Sorgen und alles Schwere abnehmen und Wache halten, daß sich nichts Böses an dich heranwagt!
Aber so zu sprechen fehlte ihm doch der Mut.
Trotzdem Ilse unter seinen Augen herangewachsen war, gab es da eine Hemmung, die ihm verbot, so zu ihr zu reden.
Er liebte sie, aber sie sollte es niemals erfahren. Ihr Reichtum trennte sie von ihm. Fest mußte er sein Herz in beide Hände nehmen und sich mit dem Glück bescheiden, in ihrer Nähe zu leben, ihr dienen zu dürfen.
Und war das denn überhaupt noch ein Bescheiden zu nennen, war das nicht schon etwas Wundervolles?
Ilse zog sich einen breiten Sessel herbei und ließ sich wie ermattet darin nieder.
„So, Väterchen, nun bleibe ich bei dir, du sollst nicht so allein sein", sagte sie halblaut.
Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und drückte das Kinn auf die gefalteten Hände, während ihre Augen unablässig auf dem Gesicht des Toten ruhten.
Ulrich Werdenberg überlegte, was er jetzt tun sollte. Vortreten durfte er jetzt nicht mehr, denn Ilse Rauneck wähnte sich allein und würde sicher maßlos erschrecken. Ob er jedoch, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, das Zimmer zu verlassen vermochte, war äußerst zweifelhaft.
So leise wie möglich ließ er sich wieder auf seinem Stuhl nieder und beobachtete das gradlinige Profil, das ihm zugewandt war.
Er sah, wie die Kerzen langsam niederbrannten und wie Ilse die Augen schloß.
Er bog sich ein wenig vor und es schien ihm fast, das junge Mädchen schlief.
Aber er irrte sich. Ein zweites Mal wollte sich Ilse nicht vom Schlaf überrumpeln lassen, so wie vorhin im Wohnzimmer. Sie mußte doch dem geliebten Vater die Totenwacht halten.
Sie sann, wie gut sie sich stets mit dem Vater gestanden und daß sie nie ein böses Wort von ihm gehört. Niemals hatte er wohl daran gedacht, so bald sterben zu müssen, sonst hätte er sie doch ein wenig härter fürs Leben erzogen. Wie oft hatte er gesagt: Den liebsten und besten Mann in ganz Deutschland, den suche ich mir zum Schwiegersohn. Einen, der mein Herzensmädel liebt und den es wieder liebt, der es vor jedem harten Schicksalsstoß bewahrt und mir meinen Liebling behütet. Und dann, wenn meine Ilse glücklich verheiratet ist, werden wir drei sehr wunschlos und zufrieden miteinander auf dem Rauneckhofe leben!
So hatte er geredet und so ähnlich hatte er sich die Zukunft auch vorgestellt.
Vor acht Tagen noch, an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag, hatte er ihr eine weite Reise versprochen und gelacht: Vorläufig lasse ich meine Ilse gar nicht heiraten. Ein paar Jahre mag der Glückliche, den wir noch nicht kennen, fein geduldig abwarten. In den paar Jahren schauen wir uns ab und zu die bunte Welt an, damit wir später desto lieber in unserem Heim bleiben. Werdenberg ist ja ein guter, zuverlässiger Verwalter, wenn wir fort sein werden.
Ilse Rauneck dachte nun an Ulrich Werdenberg. Ja, er war zuverlässig, und solange er auf dem Rauneckhof Inspektor sein würde, brauchte sie überhaupt keine Angst haben.
Der Vater hatte sehr große Stücke auf ihn gehalten und sie mochte ihn auch gern leiden, den sympathischen, ruhigen und zielbewußten Mann.
Es war ihr förmlich ein Trost, jetzt an ihn zu denken.
Elf Jahre war sie damals, als er auf dem Rauneckhofe seine Stellung angetreten, und er hatte sie reiten und kutschieren gelehrt. Gut Freund war sie immer mit ihm gewesen, wie mit einem älteren Bruder, bis sie dann vor vier Jahren in die Pension nach Wiesbaden kam, wo sie ein Jahr geblieben. Als sie von dort zurückgekehrt, schien ihr sein Benehmen, sein Ton, nicht mehr so vertraut wie früher, ihr war es von da an, als hätte sich irgend etwas Fremdes zwischen ihn und sie geschoben, das sie beide störte, noch so kameradschaftlich offen miteinander zu verkehren wie vorher.
Es ging ihr durch den Kopf, es war eigentlich sehr schade, daß sich Ulrich Werdenberg damals so verändert hatte während ihrer kurzen Abwesenheit.
Sie hatte sich damals sogar bei dem Vater beklagt. Der aber hatte ihr geantwortet: Als du fortgingst, sah Werdenberg in dir