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Christel stellt was an
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eBook213 Seiten3 Stunden

Christel stellt was an

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Über dieses E-Book

In einer deutschen Großstadt lebt Christel Ewald, ein jugendfrisches, bildhübsches Mädchen, Assistentin bei einem Zahnarzt, eine von vielen in dem großen Getriebe unverheirateter junger Mädchen, um die sich die Verehrer scharen. Eines Abends, nach Sprechstundenschluss, hat sie ein kleines Abenteuer, im Grunde ist es eigentlich nur der harmlose Streich eines großen Jungen. Christel nimmt die Sache auch nicht tragisch, aber die lieben Nächsten machen leider eine regelrechte Staatsaktion daraus. Christel gerät in schwere Bedrängnis, doch sie beschließt, sich zu wehren. In der Tat stellt sie allerlei an, um den schuldigen Attentäter zur Rechenschaft zu ziehen. Der stellt sich schließlich selbst, aber dann nimmt die Sache eine ganz andere, überraschende Wendung ... Anny von Panhuys hat einen höchst vergnüglichen Roman über die Geschicke einer sympathischen jungen Frau geschrieben, die der Leser von den ersten Seiten an ins Herz schließt – ein Roman der sehr unterhaltsam zu lesen ist und einfach nur Freude macht!Anny Freifrau von Panhuys (1879 – nach 1941) ist eine deutsche Unterhaltungsschriftstellerin in der Tradition von Nataly von Eschstruth, Hedwig Courths-Maler und Helene Butenschön ("Fr. Lehne"), die etwa 100 Romane geschrieben hat und auch als Schauspielerin tätig war. Geboren wurde sie am 27. März 1879 als Tochter des Dachdeckermeisters, Dachpappenfabrikanten und Gelegenheitsdichters Ignaz Umouaft in Eberswalde. Durch ihre Adelsheirat wurde sie Freifrau. Panhuys begann um 1915, meist mehrere Romane pro Jahr zu veröffentlichen und war bis zu Beginn der vierziger Jahre literarisch aktiv. 1931 kehrte sie wieder nach Eberswalde zurück, wo sie in der Grabowstraße 28 wohnte. Ihr genaues Todesdatum konnte nicht ermittelt werden. Ihre Bücher wurden auch nach ihrem Tod noch immer wieder neu aufgelegt – vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren – und teils auch ins Niederländische übersetzt. Während die Romane der älteren Nataly von Eschstruth vornehmlich im gehobenen Adelsmilieu spielen, ist Anny von Panhuys' Hauptthema der Niedergang und Bedeutungsverlust des (in ihren Büchern meist verarmten) Adels und sein Streben nach Anschluss an die neue bürgerliche Welt.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum26. Mai 2016
ISBN9788711570197
Christel stellt was an

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    Buchvorschau

    Christel stellt was an - Anny von Panhuys

    www.egmont.com

    1.

    Das Wartezimmer bei dem Zahnarzt Dr. Wendeck war sehr altmodisch eingerichtet. Wendeck hatte die Praxis seines Vaters übernommen und in der Wohnung wie in den Berufsräumen fast alles in dem früheren Zustand belassen. So wie heute hatte es schon bei seinem Vater ausgesehen. Inzwischen hatte Wendeck auch schon die Fünfzig überschritten und war seit zwanzig Jahren kinderloser Witwer. Er schien ein immer freundlicher, liebenswürdiger Mensch, war in Wirklichkeit aber ein nörgelnder, grämlicher Herr, sobald er keinen Patienten vor sich hatte.

    Christel Ewald, seine Helferin, kannte ihn so, wie ihn seine Patienten nicht kannten.

    Sie konnte ein Lied von dem unangenehmen Dr. Wendeck singen. Aber er besaß eine sehr große Praxis und zahlte ein gutes Gehalt, und wenn man zwei Jahre in solcher Stellung ausgehalten hat, hält man auch noch länger aus. Allerdings, tief drinnen im Herzen trug Christel fast ständig den Wunsch mit sich herum, bald einmal hier herauszukommen aus diesen Räumen, in denen sie sich oft wie eine Gefangene vorkam. Und dieser Sehnsucht hing Christel heimlich mit Seufzern nach, wenn Dr. Wendeck brummte, sie wäre zu langsam, oder rügte, sie wäre nicht bei der Sache gewesen. — —

    Es war eines Abends, Anfang des Herbstes, Christel dachte schon an den Heimweg und an das Abendbrot, weil sie bereits Hunger verspürte, und stand seit vielleicht zwei Minuten untätig am Fenster des Wartezimmers. Um diese Zeit verlief sich kein Patient mehr hierher, wenn ihn nicht unerträgliche Zahnschmerzen oder ein zerbrochenes Gebiß dazu zwangen. Allerdings saß drinnen bei Dr. Wendeck noch eine Dame, die ein paar Goldplomben bekommen hatte und heut zum letzten Male bestellt worden war. Sobald die Patientin gegangen sein würde, durfte sie nach dem Auskochen der zahnärztlichen Instrumente auch verschwinden, dachte Christel Ewald mit einem kleinen frohen Aufatmen.

    Sie sehnte sich heraus aus der ihr heute ganz besonders drückend erscheinenden Atmosphäre der moosgrünen Plüschgarnitur, die dem Wartezimmer etwas Muffiges gab. Dem jungen Mädchen fiel ein, daß sie noch eine Karteieintragung machen mußte. Mit einem letzten Blick auf die belebte Straße wandte sie sich vom Fenster ab. Also, an die kleine Arbeit gegangen! Christel schraubte die eben gelöste Kapsel des Füllfederhalters sofort wieder fest, denn eben klingelte es ziemlich heftig an der Korridortür. Da die Wirtschafterin sich um diese Zeit in der Küche befand, eilte Christel hinaus, um zu öffnen.

    Na, wer verläuft sich denn jetzt noch hierher? ärgerte sie sich dabei. Dr. Wendeck hatte vorhin geäußert, er müsse nach dem Abendessen noch zu einer wichtigen Besprechung in die Friedrichstadt.

    Christel überzeugte sich durch das Guckloch der Korridortür, wer draußen stand. Das junge Mädchen sah ein Männergesicht vor sich. Gut geschnitten war es, vielleicht ein wenig kantig, und zwei dunkle Augen schienen gerade hinein in die ihren zu blicken. Sie hörte ein ungeduldiges Hüsteln und öffnete.

    „Gerade, wenn man Eile hat, muß man am längsten warten!" klang es ihr ärgerlich entgegen.

    Der Sprechende hatte vergessen, zu grüßen; er mußte es also wirklich sehr eilig haben, stellte Christel fest und fragte nach dem Wunsch des Herrn.

    Der lange, etwas düstere Wohnungsflur wurde ständig von einem Wandarm erhellt, und die beiden Menschen schauten sich nun wie prüfend an. In den dunklen Männeraugen blitzte es auf. Donnerwetter, war das ein Mädel, das vor ihm stand! Er spürte einen ordentlichen Ruck durch seinen Körper gehen und fand es viel wichtiger, das bildhübsche Geschöpf noch ein paar Sekunden länger stumm zu bewundern als zu reden. Aber dann entschloß er sich doch, den Mund aufzutun, und sagte mit einem netten, jungenhaft frohen Lachen:

    „Ich wollte gern einen Zahnnerv getötet haben. Er quält mich schon längere Zeit, aber vorhin setzte der Schmerz so toll ein, daß ich mich entschloß, den Quälgeist beseitigen zu lassen."

    Christel schüttelte bedauernd den Kopf.

    „Der Herr Doktor ist noch beschäftigt und gleich danach will er fortgehen. Die Sprechstunden sind längst vorbei." Es tat ihr fast leid, so antworten zu müssen.

    Der schlanke Besucher, der ungefähr sechs-, höchstens aber achtundzwanzig Jahre alt sein mochte, gefiel ihr. Die dunklen Augen paßten gut zu dem herben Gesicht. Er hatte etwas beinah Verwegenes an sich, das Frauen an Männern gern haben.

    Er lachte wieder. „Sie sehen aus, als wenn Sie die rechte Hand des Zahngewaltigen sind, bitte, sorgen Sie dafür, Schwester, daß das rebellische Biest heute noch zur Ruhe gebracht wird." Er machte eine Handbewegung nach seiner rechten Wange und deutete damit an, wo das ‚rebellische Biest‘ zu suchen wäre. Gleichzeitig wandte er sich dem Wartezimmer zu, dessen Tür Christel vorhin weit offen gelassen hatte. Seinen Hut hatte er abgenommen und hielt ihn noch in der Linken.

    Christel sagte eifrig:

    „Es hat wirklich keinen Zweck für Sie, zu warten, mein Herr. Dr. Wendeck hat heute beim besten Willen keine Zeit mehr, aber wenn Sie um die nächste Straßenecke rechts gehen, werden Sie wieder einen Zahnarzt finden. Eigentlich hätten die wenigen Worte wohl genügt, aber das Lachen auf seinem Gesicht reizte Christel, noch hinzuzufügen: „Gar so schlimm scheint der Schmerz übrigens nicht zu sein, sonst wären Sie wohl kaum so vergnügt. Christel lächelte dabei. Sie konnte nicht anders. Wie ein frischer Hauch von Lebensfrohsinn umwehte es den späten Patienten. Frohsinn aber liebte sie, wo er ihr auch begegnete.

    Dr. Wendeck war brummig, und die Großmutter, bei der sie seit dem Tode der Eltern lebte, sah die Welt und das Leben nur in der Vergangenheit, mit zweiundzwanzig aber hält man es mehr mit Gegenwart und Zukunft, und wenn Christel ein Lachen ins Ohr klang, wurde sie leicht davon angesteckt.

    Der Besucher hatte schon die Schwelle des Wartezimmers überschritten. Christel huschte an ihm vorbei und breitete leicht die Arme aus. Sie hatte manchmal etwas zu lebhafte Bewegungen.

    „Bitte, gehen Sie wieder, mein Herr, ich sagte Ihnen doch, es hat gar keinen Zweck, zu warten."

    Er sah sie an. Wahrhaftig, das hübscheste Mädel, das ihm bisher vor die Augen gekommen, war dies schlanke und doch kräftige Geschöpf in dem schneeweißen Schutzkittel. In dem feinen Gesicht von entzückender Regelmäßigkeit standen ein paar sehr große Augen von leuchtendem Blau, die Zähne waren einfach blendend und das leicht gewellte braune Haar hatte goldenen Glanz. Sie trug es etwas zurückgebürstet, aber man konnte sich denken, wie es sich locker und weich um die Stirn bauschen mochte, wenn Christel nur lose mit dem Kamm darüber hinstrich. Und wie sanft war die Linienführung des Mundes. So rein, so knospenhaft, so ... Er schaute wie gebannt auf den Mund und das Lächeln, das er als Ermutigung auffaßte. Er vergaß, warum er hierhergekommen, junges Blut überlegt nicht immer erst genau, was es tun darf, sondern tut es gleich. Es klang dicht an Christel Ewalds Ohr:

    „Sie sehen noch so ungeküßt aus, Schwester!" Und im gleichen Augenblick fühlte Christel, wie sich zwei Arme um ihren Körper legten, sie ein wenig hochrissen, und fast gleichzeitig preßte sich ein heißer Männermund so fest auf ihre Lippen, daß ihr der Atem stockte. Sie wandte dem Arbeitszimmer Dr. Wendecks den Rücken zu und hatte das leise Öffnen der Tür überhört. Im Rahmen derselben erschien eine sehr elegante Dame, die mit leicht geöffnetem Mund auf ihrem Platz verharrte, und hinter ihr baute sich die eckige Gestalt Dr. Wendecks auf. Seine Brauen waren drohend zusammengezogen, und er machte ein paar Bewegungen mit den langen Armen, die sehr viel bedeuten konnten. Vorläufig verschlug ihm jedoch das Erstaunen die Sprache.

    Das alles hatte sich blitzgeschwind und lautlos abgespielt.

    Christel war so benommen, daß sie, die im allgemeinen schnell Entschlossene, sich nicht im geringsten wehrte. Aber der Fremde hob jetzt den Kopf und sah das wie versteinert dastehende Paar. Und jetzt spürte er auch den ekelhaften Schmerz im hohlen Zahn wieder, fast gleichzeitig stieß ihn das Mädel mit ganz überraschender Kraft zurück.

    Er brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, jetzt würde Unangenehmes für ihn heraufziehen wie ein böses Wetter mit Blitz und Donner. Den Hut trug er noch in der Linken; er hatte ihn unwillkürlich krampfhaft festgehalten, und mit einem Sprung erreichte er den Korridor. Schnell drückte er die Türklinke nieder und lief die Treppen hinunter. Als er etwas überhastet aus dem Haus trat, fuhr eben eine leere Taxe vorbei. Anrufen, Fahrziel nennen und das Hineinspringen erforderten zusammen nur Sekunden. Gerade als oben im ersten Stock der Zahnarzt Dr. Wendeck mit Vorwürfen über ihr skandalöses Benehmen auf Christel Ewald losfuhr, sauste unten die Taxe schon fort, und die langjährige Patientin mit den blitzenden Goldplomben sagte kichernd:

    „Ich hätte Ihnen so‘n kesses Betragen gar nicht zugetraut, Fräuleinchen."

    Dr. Wendeck geleitete die noch immer belustigt Lachende bis zur Treppe.

    Als er zurückkam, pflanzte er sich vor Christel auf und hielt ihr den Zeigefinger drohend dicht vor die Nase. Er fauchte:

    „Schön bloßgestellt haben Sie sich und mich dazu, Fräulein Ewald! Meiner Praxis bös geschadet haben Sie! Was bedeutet die Unverschämtheit? Wie durften Sie ihren Liebhaber hierherbestellen zu Kußstudien? Das übersteigt doch wirklich alle Grenzen der Möglichkeit!"

    Sie hatte ihn unterbrechen wollen, aber es war ihr nicht gelungen. Seine grauen Augen hinter den scharfen Brillengläsern hatten sie bei dem Versuch so vernichtend angeblitzt, daß sie ihn noch ein Weilchen toben ließ. Er schloß schließlich empört:

    „So kann man sich also in einem Menschen täuschen, und für Ihren Lebenswandel hätte ich die Hand ins Feuer gelegt!" Es klang fast etwas tragisch.

    Christel fand die Tonart eher komisch und hätte beinah gelacht, so wenig wohl ihr nach dieser Strafpredigt auch zumute war. Sie richtete sich gerade auf.

    „Herr Doktor, Sie gehen von völlig falschen Voraussetzungen aus. Vor allem, ich weiß gar nicht, wer der Mensch vorhin gewesen ist, ich habe ihn heute zum erstenmal in meinem Leben gesehen."

    Dr. Wendeck wartete nicht erst ab, bis sie ihre Verteidigung vorgebracht hatte, sondern polterte: „Um so schlimmer haben Sie sich benommen, Fräulein Ewald! Ein anständiges Mädchen läßt sich nicht so mir nichts, dir nichts von einem Unbekannten küssen, noch dazu öffentlich in dem Wartezimmer eines Zahnarztes."

    Schon wieder reizte er Christel zum Lachen. Sie war wütend, und doch saß ihr das Lachen nahe. Sie wurde nicht mehr klug aus sich selbst, denn eigentlich war die dumme Geschichte, die der Fremde verschuldet, eher zum Heulen, aber dazu verspürte das junge Mädchen nicht die geringste Neigung. Sie erklärte möglichst ruhig:

    „Der Herr kam vorhin und wollte einen Zahnnerv getötet haben. Ich erwiderte ihm, Sie hätten heute abend keine Zeit mehr dazu, er solle zu einem anderen Zahnarzt gehen, und dann hat er mich plötzlich umgefaßt und geküßt. Ich kann jedenfalls gar nichts für die Unverschämtheit des Menschen."

    Dr. Wendeck sah sie sehr ungläubig an.

    „Und gesagt hat er nichts?"

    Christel nickte: „O doch, gesagt hat er auch etwas!" Es war ihr peinlich, die Worte des Fremden zu wiederholen, aber sie tat es, weil sie bei der Wahrheit bleiben wollte.

    Dr. Wendeck strich fahrig über seine Stirn und über sein dünnes Grauhaar, sah dann auf ihren Mund, als bemerkte er ihn heute zum erstenmal.

    Glühende Röte ergoß sich über Christels Gesicht bei diesem Blick. Sie wandte unwillkürlich den Kopf zur Seite, murmelte:

    „Ich muß noch etwas auf einer Karteikarte vermerken." Sie nahm den Füllfederhalter zur Hand und wollte die Notiz machen, an deren Ausführung sie vorhin das Klingeln des Fremden gehindert.

    Aber auch jetzt kam sie nicht dazu, ihren Vorsatz auszuführen. Dr. Wendeck lächelte spöttisch:

    „Eine ganz nette Filmidee, Fräulein Ewald, die Sie mir als Erlebnis aufhängen wollen. Ich gehe wenig ins Kino, aber ich denke mir, solche Szenen werden einem da vorgesetzt. Vielleicht haben Sie den eben verzapften Unsinn von dem Fremden, seinem Kußüberfall, seiner ulkigen Erklärung dafür, samt dem tapferen Davonlaufen in ähnlicher Weise im Kino gesehen. Seine Stimme wurde schärfer. „Sie werden diesen Helden, mit dem Sie leider auch eine meiner treuesten Patientinnen überraschte, in Wirklichkeit sehr gut kennen. Dem Herrchen hat‘s zu lange gedauert, unten vor dem Haus auf Sie zu warten, und er wollte mal gucken, wie‘s hier oben stand. Falls er mich angetroffen, hätte er eben eine Ausrede vom Stapel gelassen. Das Alleinsein verlockte Sie beide zum Leichtsinn, und Sie vergaßen, wo Sie sich befanden. Weil Sie dann überrascht wurden, versuchten Sie die Sachlage, die eigentlich klar genug war, zu verdrehen und mir ein Märchen aufzutischen. Ich aber glaube längst nicht mehr an Märchen, Fräulein Ewald, ich hegte schon als Kind meine Zweifel. Ich weiß aber Bescheid, weil ich nämlich auch mal ein junger Mann gewesen bin.

    Zorn schoß in Christel hoch. Ihr Gesicht Dr. Wendeck wieder voll zuwendend, sprudelte es über ihre Lippen:

    „Das kommt mir auch wie ein Märchen vor, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Sie einmal ein junger Mann gewesen sein sollen."

    Hinter den scharfen Brillengläsern fing es gefährlich an zu blitzen, und gleich darauf begann der Donner zu grollen. Wenigstens ähnelte ihm jetzt Dr. Wendecks Stimme.

    „Ich kündige Ihnen wegen ungebührlichen Benehmens, Fräulein Ewald."

    Christel schauerte zusammen. Du lieber Himmel, ihr war zumute, als hätte der grämliche, grauhaarige Herr eben einen Eimer mit eiskaltem Wasser über ihrem Kopf ausgeleert. Wie oft hatte sie sich hier fortgesehnt, aber die jähe Erfüllung ihres Wunsches traf sie schwer, traf sie so, daß sie Dr. Wendeck ganz verdattert ansah. Sie wollte sprechen und brachte doch kein Wort hervor. Ganz tief holte sie Atem. Ihr Mut von kurz zuvor hatte sie verlassen, und sie biß sich so derb auf die Lippen, daß es ihr weh tat, weil sie allzu rasch etwas gesagt, was besser unausgesprochen geblieben wäre. Ratlosigkeit spiegelte sich auf ihren Mienen.

    Dr. Wendeck ging mit raschem Schritt auf sein Arbeitszimmer zu.

    „Ich ordne heute alles selbst. Sie brauchen sich nicht mehr aufzuhalten. Bissig warf er ihr über die Schulter hin zu: „Lassen Sie ihren mutigen Helden nicht länger warten und bedanken Sie sich bei ihm für das, was Ihnen jetzt vielleicht unangenehm ist. Übrigens, wenn Ihr Märchen zum Teil stimmen sollte ... Sie haben es dem Monsieur sehr leicht gemacht. Ich rate Ihnen, ziehen Sie den Burschen nur ordentlich am Ohr. Ein anständiger Kerl läßt ein Mädel nicht in solcher zweifelhaften Lage zurück und gibt Fersengeld.

    Klapp! machte die Tür zum Arbeitszimmer, hinter der Dr. Wendeck verschwunden war.

    Christel starrte mit weitgeöffneten Augen darauf, als rechnete sie mit Dr. Wendecks Wiedererscheinen. Wohl mehrere Minuten verharrte sie so, dann aber machte sie ihre Eintragungen fertig. Danach zog sie den Mantel an, setzte den kleinen kecken Hut auf und verließ etwas benommen die Wohnung. Auf der Treppe blieb Christel stehen. Die Pille, die sie hinunterschlucken mußte — bildlich ausgedrückt — saß ihr wie ein schmerzhaft fühlbarer Fremdkörper im Halse. Großchen würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn sie die schlimme Nachricht von der Kündigung hörte. Christel umfaßte das Treppengeländer und rührte sich nicht. Monatlich hundertzwanzig Mark bedeuteten schließlich keine Kleinigkeit. Man war nicht sicher, ob man in einer neuen Stellung soviel erhalten würde. Dr. Wendeck hatte ja sogar für das nächste Vierteljahr Zulage versprochen. Vielleicht fände sich sobald überhaupt keine neue Stellung. Dann säße man da mit schwerem Kopf und konnte auf den Frechling, den Fremden, dem man das alles verdankte, schimpfen von morgens bis abends. Christel blickte sich um. Ein heimliches Hoffen, Dr. Wendeck könnte sie vielleicht zurückrufen, war plötzlich in ihr erwacht. Wie schön, wie schön, wenn er ihr sagen würde: ‚Sie dürfen bleiben!‘ Doch niemand rief sie, und sie glaubte zu wissen, weder morgen noch später würde Dr. Wendeck die drei für sie so inhaltsschweren Worte sprechen. Er hielt meist an seinen einmal gefaßten Entschlüssen fest.

    Ein mattes Lächeln huschte

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