Kohl- und Pinkelgeschichten: ... und warum Männer so gern ohne ihre Frauen auf eine Kohlfahrt gehen
Von Hermann Gutmann
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Buchvorschau
Kohl- und Pinkelgeschichten - Hermann Gutmann
Hermann Gutmann
Kohl- und Pinkelgeschichten
… und warum Männer so gern ohne ihre Frauen auf eine Kohlfahrt gehen
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Titelillustration: Peter Fischer
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Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Edition Temmen
E-Book ISBN 978-3-8378-8023-6
ISBN der Printausgabe 978-3-86108-175-3
Von Bremer Bischöfen, Kaiser Wilhelm, Theodor Heuss und meiner Großmutter
Meine Großmutter stammte aus dem Holsteinischen, wo man kulinarische Freuden nicht gerade zimperlich genießt, wenn auch anders als im Bremischen. Dennoch pflegte sie mit einem Seitenblick auf ihren Mann Georg, meinen Großvater, zu sagen: »Freeters ward nich born. De ward uptrocken!«
Dazu müssen Sie wissen, dass meine Großmutter in Diedrichsdorf bei Kiel, wo sie aufgewachsen war, einen Bremer heiratete. Den hatte das berufliche Schicksal an die Ostsee verschlagen, was aber nicht von Dauer sein sollte.
Gleich nach dem Ersten Weltkrieg, den mein Großvater als Angehöriger des Infanterie-Regiments »Bremen« Nr. 75 – nicht ohne Schaden zu nehmen an Körper und Seele – in den Schützengräben Frankreichs verbracht hatte, war er zusammen mit seiner Familie von Kiel nach Lehe an der Aue gezogen, was heute Bremerhaven-Lehe heißt.
Dort nun, in der Kaiser-Wilhelm-Straße in Lehe, 60 Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt, hatte er seiner Frau in einer über weite Strecken nahrhaften und bis zum Schluss glücklichen Ehe die Lebenserfahrung über die »Freeters« vermittelt.
»Fresser«, wenn dieser Ausdruck hier einmal aus Übersetzungsgründen benutzt werden darf, werden nicht geboren. Sie werden aufgezogen, sozusagen zum Vielesser erzogen.
Jeder weiß, zumindest in unserer Familie, dass meine Großmutter infolge ihres holsteinischen Magens durchaus geneigt und in der Lage war, ebenfalls gern gut und viel zu essen.
Einmal im Jahr allerdings erfasste sie – damals wohnte sie schon in Lehe an der Aue – grenzenloses Erstaunen über das Fassungsvermögen bremischer Mägen. Das war während der Kohl-und-Pinkel-Zeit, die meine holsteinische Großmutter, so lange sie in Holstein lebte, nicht gekannt hatte. Und eben diese Erfahrung brachte sie auf den Gedanken, dass eine solche Gefräßigkeit nicht naturgegeben sein könne.
Es konnte allerdings nie geklärt werden, ob ihre kritischen Überlegungen und Äußerungen einzig und allein bestimmt wurden von der Fähigkeit ihrer bremischen Umgebung, beim Kohl-Konsum Unübertreffliches zu leisten. Oder ob sie insgeheim beeinflusst wurden von der unüberwindlichen Abneigung meiner Großmutter gegen die hiesige Art, den Kohl zuzubereiten.
Im Holsteinischen wird ja tüchtig Zucker auf den Kohl gestreut. Dazu gibt es dann gezuckerte Röstkartoffeln.
War das also schon ein Grund, sich dem ungezuckerten bremischen Kohl mit aller Vorsicht zu nähern, so verschlug es meiner Großmutter – als sie von der zumindest akustisch anrüchigen Existenz des Pinkels erfuhr – im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache. Und das, obwohl mein Großvater sie sehr schonend darauf vorbereitet hatte.
»Frieda«, hatte er gesagt. »Wir haben ja nun jahrelang an der Ostsee gewohnt, und ich hab mich da immer wohl gefühlt, und ich will auch gar nichts gegen eure holsteinische Küche sagen. Schweinespeck gibt’s da ja auch, Gott sei Dank. Aber unseren bremischen Braunkohl, den könnt ihr nicht. Und weißt du, was ich mir zum nächsten Sonntag wünsche? Kohl und Pinkel!«
»Georg!«, rief meine Großmutter daraufhin ganz entsetzt. »Lass das die Kinder nicht hören!«
Und danach wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen, denn so ein schreckliches Wort hatte sie im Sprachschatz ihres Mannes nicht vermutet.
Der aber beschwichtigte sie. Er erklärte ihr, dass Pinkel etwas sehr Anständiges sei, was man beim Schlachter kaufen könne. Und Pinkel gehöre im Bremischen zum Kohl, wie – nun, wie man im Holsteinischen Zucker auf den Kohl streue. Was er, wenn er mal ehrlich sein solle, ganz scheußlich finde.
»Du hast den Kohl aber gegessen«, sagte meine Großmutter. »Und die Kartoffeln auch.«
»Ja«, antwortete er. »Aus Liebe. Nicht zu dem gezuckerten Kohl, sondern zu dir. Und nun erwarte ich auch von dir ein Opfer, obwohl das überhaupt kein Opfer ist. Denn – du wirst sehen – über Braunkohl und Pinkel geht nichts.«
Und da musste er meine Großmutter schon wieder stützen, weil ihr ganz schlecht wurde.
Am nächsten Sonnabend aber ist sie zum Schlachter gegangen. Sie hat Kasseler gekauft, Bauchspeck und Kochwurst. Mehr nicht. Denn das Wort Pinkel ist ihr nicht über die Lippen gekommen.
Noch viele Jahre später hat sie das Entsetzen meines Großvaters geschildert, von dem er gepackt worden war, als er vor dem Teller mit Kohl ohne Pinkel saß. Meine Großmutter musste schwören, dass sie so etwas nie wieder tun werde.
Wenn fortan Kohl-und-Pinkel bei meinen Großeltern in Lehe auf dem Speiseplan stand, und das war im Winter häufig, weil sich mein Großvater das wünschte, ging meine Großmutter immer zum Schlachter nebenan. Zu dem hatte sie ein gutes Verhältnis aufgebaut.
Dort nun zählte sie auf, was sie an Fleischzutaten für ein ordentliches Kohl-und-Pinkel-Essen brauchte: Kasseler, Bauchspeck, Kochwurst und – zum Schlachter gewandt, fragte sie ein bißchen scheinheilig: »Habe ich noch etwas vergessen?«
Und der Schlachter antwortete: »Ja, Frau Bädeker, Pinkel gehört ja nun wohl auch dazu.«
»Ach ja, richtig«, sagte meine Großmutter erleichtert, und der Schlachter zwinkerte ihr zu. Er wusste, dass meine Großmutter das Wort nicht aussprechen mochte.
Nach dem Tode meines Großvaters im Jahre 1924 stand Kohl-und-Pinkel zunächst auf dem Index.
Später allerdings, als meine Mutter, die Tochter meiner Großmutter, für die Sättigung einer größeren Familie sorgen musste, kam Kohl-und-Pinkel wieder zu Ehren, wenn auch nur dann und wann.
Für mich bekam ein Kohl-und-Pinkel-Essen erst nach meiner Umsiedlung nach Bremen den ihm gebührenden Sinn. Denn Kohl-und-Pinkel ist nicht nur ein Sättigungsmittel. Kohl-und-Pinkel ist eine Weltanschauung.
Außerdem ist Kohl gesund.
***
Was wir von den Alten lernen können
Schon