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¿Identität? - Teil 2
¿Identität? - Teil 2
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eBook324 Seiten4 Stunden

¿Identität? - Teil 2

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Über dieses E-Book

*TEIL 2* ›Vergessen‹ des kolumbianischen Thrillers ¿Identität? (auch als Gesamtausgabe erhältlich)

Aus den Fängen seines dominanten Vaters entkommen, sehnt sich Antonio nach der Normalität des Alltags zurück.

Während das Treffen mit ihrem vermeintlichen Ex-Freund bei Katharina Zweifel und vielen Fragen aufwirft, kommt bei Antonio etwas Vergessenes ins Rollen. Noch versteht er nicht, warum sein erwachtes Bewusstsein ihm auf der Suche nach der Wachheit nicht hilfreich ist.
Eines Abends steht plötzlich ein älterer Señor in der Tür der in der Pension. Er gibt sich Antonio gegenüber merkwürdig vertraut.
Erst im Haus des Fremden beginnt sich Antonios Vergangenheit, langsam an die Oberfläche zu drängen.
Nur etappenweise erkennt er, dass sein ganzes Leben, ja seine Identität auf einem Berg aus Lügen aufgebaut ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum10. Nov. 2016
ISBN9783957033710
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    Buchvorschau

    ¿Identität? - Teil 2 - Angela Planert

    XL

    Bei Rosita XX

    José Luis hielt vor einem Flachbau aus roten Ziegelsteinen mit großzügigen Fenstern an, aus denen das Licht auf den schmalen Weg fiel. »Bleibe bitte mit Antonio im Wagen, ich werde alles für euch regeln.« Er stieg aus. Katharina sah ihm nach, wie er ins Haus ging. Sie bemerkte, wie müde sie war, und der Gedanke an ein Bett, in dem sie Antonios Nähe spüren konnte, fühlte sich wie der Himmel an.

    »¿Wo sind wir?«, hörte sie ihn leise fragen.

    »José Luis bringt uns in einer kleinen Pension unter.« Sie kniete sich verkehrt herum über beide Vordersitze, um ihn ansehen zu können. »Wie fühlst du dich?«

    »Seitdem du bei mir bist«, er holte Luft, »schon viel besser.«

    »Im Krankenhaus wollte ich nur etwas essen, während du geschlafen hast. Ich war maximal eine halbe Stunde weg, und die musstest du nutzen, um dich aus dem Staub zu machen.«

    »¡No!« Er versuchte, sich aufzurichten. »Ich hatte keine Ahnung ...«

    »Das weiß ich doch.« Sie legte ihre Hand auf seine Brust. »Ich habe mich um dich gesorgt. Ohne Violeta und Rubén wäre ich durchgedreht.«

    José Luis kehrte zurück und riss die vordere Autotür auf. »Rosita stellt euch ein Zimmer zur Verfügung.«

    Antonio zog das Bein von der Lehne auf die Bank, setzte sich dabei auf.

    Katharina kletterte über den Sitz aus dem Auto. »¡Muchas Gracias!« Sie sah den Detektiv flüchtig an, öffnete die hintere Autotür. »Nur mit deiner Unterstützung ...«

    »Kein Problem«, grinste José Luis, »es hat mir mit dir fast Spaß gemacht.«

    »Ich fasse das als Kompliment auf.«

    »¡Hey!«, protestierte Antonio. »¿Was soll das werden?« Er atmete tief. »¿Willst du mir Katharina ausspannen?«

    José Luis reichte ihm die Hand. »¿Das würde ich nie wagen, Amigo, oder soll ich ›Señor Unbekannt‹ sagen?«

    Antonio packte zu, griff mit der anderen Hand an den Türrahmen, um sich hochzuziehen. »¿›Señor Unbekannt‹?«

    »¡Vergiss es!« José Luis zog Antonios Arm um seinen Nacken. »Hauptsache, wir haben dich gefunden.«

    »Jetzt können wir uns Zeit lassen und müssen nicht hetzen.« Katharina unterstützte Antonio auf der linken Seite. »Du solltest dich nicht wieder so anstrengen.«

    »Mach dir nicht so viel Sorgen um ihn.« José Luis drängte sie durch die offenstehende Eingangstür. »¿Antonio kann ordentlich was einstecken, nicht wahr, Amigo?«

    Antonio antwortete nicht, nur sein angestrengtes Atmen zeigte ihr, dass es höchste Zeit für ihn war, sich auszuruhen. In einer kleinen, gemütlichen Empfangshalle standen links sechs Tische mit jeweils vier Stühlen. Geradeaus führte ein schmaler Flur zu den Zimmern, von denen José Luis eines ansteuerte. »¡Hier rechts!«

    Dort angekommen, ließen sie Antonio gleich auf das Bett sinken.

    »Rosita wird euch mit allem versorgen, was ihr benötigt.« José Luis machte die Tür neben dem Doppelbett auf. »Ihr habt sogar ein eigenes Badezimmer.«

    »¡Muchas Gracias!« Antonio schaute auf. »¡Auf euch ist Verlass!«

    »Du wirst deine Gründe haben«, José Luis beugte sich zu ihm hinunter, »aber nach unserer jahrelangen Freundschaft hat mich deine falsche Identität echt getroffen.« Er nickte Katharina zu. »Ich lasse von mir hören.« Mit einem Augenzwinkern ging er hinaus.

    Mit Falten auf der Stirn sah Antonio ihm nach. »¿Was zum Geier meint er?« Er schluckte hart.

    Sie setzte sich neben ihn auf das Bett. »Das ist jetzt unwichtig.«

    »¡No!« Er schüttelte den Kopf. »Ist es nicht. Was hat José Luis mit der falschen Identität gemeint?«

    War er ein verdammt guter Schauspieler oder wusste er tatsächlich nicht, dass er mit dem Namen eines toten Kindes lebte? Sie legte ihre Hand auf seinen Oberschenkel. »Um die Adresse deines Vaters zu finden, mussten wir kreativ werden. José Luis begann in alten Unterlagen zu suchen und stieß dabei auf einen Totenschein, ausgestellt auf ›Antonio Nicoljaro‹. Er starb in Alter von fünf Jahren.«

    »Was für ein Unsinn.« Antonio sah Katharina verwundert an. »Ich habe damals den Unfall doch überlebt.«

    »Wofür ich unendlich dankbar bin.« Katharina beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange, drängte ihn damit zum Hinlegen. »Jetzt ruhst du dich von deinem Abenteuer aus. Auch wenn José Luis davon überzeugt ist, dass du viel einstecken kannst.«

    »Ohne euch wäre ich niemals so weit gekommen.«

    Katharina zog ihm die blauen Stoffturnschuhe aus, die sie an ihre Kindheit erinnerten. »Wo hast du die denn ausgegraben?«

    »Papá hat mein Zimmer nie ausgeräumt.« Er sprach leise. »Ich glaube, er hatte gehofft, ich käme eines Tages zurück.« Ein tiefer Atemzug folgte. »Es waren die einzigen Schuhe aus dem Schrank, die noch einigermaßen passten.«

    Für einen Moment legte sie sich bäuchlings neben ihn aufs Bett, strich ein paar Haarsträhnen von seiner verschorften Kopfwunde. »Und da du nicht freiwillig nach Hause kommen wolltest, hat er dich entführt?«

    »Entführt?« Antonio schluckte. »Ich denke, er hat es gut gemeint, weil er von meiner Abneigung gegen Krankenhäuser wusste.«

    »So? Für mich sah deine Aktion vorhin eher nach verzweifelter Flucht aus.«

    »Katharina?« Er hielt ihr Handgelenk fest, als sie sich aufrichten wollte. »Liebst du ihn?«

    »Deinen Vater?«

    Er schaute kurz zur Seite. »José Luis natürlich.«

    »Antonio!« Sie lachte. »Wie kommst du auf solche Gedanken? Er wird dir in hundert Jahren nicht das Wasser reichen können.« Sein zweifelnder Blick brauchte Tatsachen. Sie küsste ihn. »Deine inneren Werte, dein Charakter und nicht zuletzt dein sportlicher Körper machen deine geschädigten Kniegelenke zur Nebensache.« In seinen Augen erschien ein Leuchten.

    »¡Buenas noches!« Jemand klopfte an die Tür, die einen Spalt offen stand. »Ich bin Rosita.« Eine schlanke, gepflegte Frau Anfang fünfzig mit einem dezenten Grauschimmer in ihren schwarzen Haaren kam mit einem Stapel Hygieneartikel auf dem Arm herein. »José Luis sagte mir, ihr seid auf diesen Ausflug nicht vorbereitet gewesen.« Sie legte Handtücher, Zahnbürsten, Seife und Zahnpasta auf die Kommode neben der Tür.

    Katharina stand auf. »¡Muchas Gracias!«

    »In der Küche habe ich noch ein paar Arepas und Patacones. ¿Habt ihr Appetit darauf?«

    Jetzt, da sie mit Antonio wieder zusammen war, verspürte Katharina großen Hunger. »¿Wenn das keine Umstände macht?«

    »Für José Luis‘ Freunde mache ich das gern. Es kommt ja nicht allzu oft vor, dass er seine Tante um etwas bittet.« Rosita schloss von außen die Tür.

    »¡Ay Dios mío!«

    Erschrocken drehte sich Katharina zu Antonio um. »Was hast du?«

    »Du bist verletzt!« Er versuchte, sich aufzusetzen.

    »Bleib liegen!« Erleichtert atmete sie aus. »José Luis hat das vorhin schon versorgt. Ist nichts Schlimmes.«

    »Ach ja?«

    Sie setzte sich neben ihn. »Es gibt nicht den geringsten Grund, eifersüchtig zu sein.«

    »Wer sagt, dass ich eifersüchtig bin.« Antonio lehnte sich zurück. »Wie ist das passiert?«

    »Bei den vielen Kugeln, die José Luis’ Wagen durchlöchert haben, kann ich froh sein, dass es nur ein Streifschuss war.«

    »¡Ay Dios mío! Die Glassplitter im Auto!« Er wirkte alarmiert. »Wer hat auf euch geschossen?«

    »Ich weiß es nicht.« Sie küsste ihn. »Lass uns morgen darüber reden. Ich brauche erstmal eine Dusche.«

    Ihr Blick fiel auf sein schlafendes Gesicht, als sie, ihre Haare trocken rubbelnd, ins Zimmer zurückkehrte. Vorsichtig hob sie das Oberteil seines Jogginganzuges an, um nach der Entzündung zu schauen. Erschrocken fuhr sie zusammen.

    »Hey!« Antonio hatte ihr Handgelenk gepackt. »Was tust du da?«

    »Seitdem du verschwunden bist, zermartere ich mir den Kopf, ob deine Infektion richtig behandelt wurde.« Sie konnte nicht verhindern, dass ihr zwei Tränen entwischten. »Ich hatte furchtbare Angst um dich.«

    »Katharina!« Er ließ sie los. »Mein Vater mag eigenwillig sein, aber er ist doch kein Unmensch.«

    »Natürlich.« Sie überlegte, ob sie den Telefonanruf erwähnen sollte. »Eigenartig finde ich jedoch, dass er zu Rubén gesagt hat, dein psychischer Zustand wäre durch das Unglück aus dem Gleichgewicht geraten und dein Arzt hätte jeglichen Kontakt untersagt.«

    »Was?«, flüsterte er entgeistert. »Wann hat er das behauptet?«

    »Gestern, als Rubén anrief.«

    »Warum stellt er solche Lügen auf?«

    Katharina hielt es nun für angebracht, von ihrer Suche zu erzählen, von dem verwilderten Grundstück in Villa de Leyva und von dem Kellner, der mit dem Kind Antonio Nicoljaro gespielt hatte.

    »Ich begreife das nicht.« Antonio sah auffallend blass aus. »Mein Vater hat mir nie von einem Onkel erzählt.« Seine Stirn legte sich in Falten.

    Sie fuhr ihm durchs Haar. »Welches dunkle Geheimnis hütest du, Antonio Nicoljaro?«

    »Ich war bis eben überzeugt, in diesem Haus schon immer gelebt zu haben – aber ...«

    »Was?« Katharina sah ihn an, während seine Augen nervös hin und her wanderten. »Erinnerst du dich an jenen Autounfall?«

    »¡No!« Er atmete flach. »In meinem Inneren«, er schluckte, »kommt etwas ins Rollen, nur kann ich es nicht erkennen.«

    Ein lautes Klopfen ließ Katharina zusammenfahren. Sie sprang auf. Rosita brachte ein Tablett herein, das Katharina ihr dankend abnahm.

    Beim Hinausgehen nickte Rosita den beiden zu. »¡Buen provecho!«

    Katharina stellte das Abendbrot neben Antonio ab.

    »Nicht im Bett! Ich will am Tisch essen!«

    »Kommt nicht in Frage! Du hast dich heute mehr, als dir gut tut, angestrengt.«

    Er setzte sich auf. »Du dramatisierst das.«

    Katharina konnte nicht glauben, wie leichtfertig Antonio mit dieser Situation umging. Kapierte er nicht, dass er mehr als nur einen Kratzer abbekommen hatte? »Seit dem Unglück sind gerade mal vier Tage vergangen. Weder ist der Unterschenkelbruch verheilt noch die anderen Verletzungen.« Seine Unvernunft und ihre Sorge um ihn ließen sie zornig werden. »Ist es wirklich so erstrebenswert, das Blut aus einer verletzten Lunge hinunterzuschlucken und nach Luft zu japsen?«

    Sein ertapptes Gesicht sprach für sich. Ihr Eindruck hatte sie nicht getäuscht. Energisch drängte sie ihn aufs Kissen zurück. »Es ist mir im Augenblick egal, wer du bist, dein Gesundheitszustand ist jetzt am Wichtigsten. Wenn ich dir etwas bedeute«, sie bemühte sich, ihre aufgebrachte Stimme zu senken, »dann hörst du auf deinen Körper und vermeidest jegliche Anstrengung.«

    »¡Perdón! Du hast recht.« Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. »Ich ...« Er schien mit seinen Gedanken ganz weit weg zu sein.

    Katharina erwachte langsam, ohne zunächst die Augen zu öffnen. Ihre Wunde hatte sie einige Male aus dem Schlaf gerissen, bis sie endlich eine Stellung gefunden hatte, in der sie fest schlafen konnte. Der ereignisreiche gestrige Tag kam ihr in den Sinn. Antonio! Sie war wieder mit ihm zusammen. Zum Beweis tastete sie nach ihm, fühlte jedoch nur das leere Laken. Erschrocken schnellte sie in die Höhe und starrte auf sein verlassenes Bett. Ihr Blick fiel zum Tisch, wo ein Stuhl fehlte. In diesem Moment drang ein rauschendes Geräusch aus dem Badezimmer. Ihre Erleichterung war zu groß, um wirklich böse mit ihm sein zu können. Energisch öffnete sie die Tür. »Wie kann man nur so eigensinnig sein? Warum hast du mich nicht geweckt?«

    »Katharina?« Er stützte sich zwischen Stuhl und Waschbecken ab.

    »Wen hast du denn erwartet?« Sie legte seinen Arm um ihren Nacken und drängte ihn zum Bett zurück.

    »Du hast fest geschlafen.« Antonio schnappte nach Luft. »Und ich musste dringend.«

    An der Bettkante ließ sie ihn los und schüttelte sein Kopfkissen auf. »Keine Spaziergänge ohne meine Hilfe mehr, versprochen?«

    Er nickte, packte sie am Unterarm, starrte ihr in die Augen, als wollte er etwas sagen, sein Mund öffnete sich auch leicht, doch die Worte kamen nicht über seine Lippen. Katharina befreite sich aus seinem Griff, robbte auf dem Bett entlang und schmiegte sich an seine rechte Schulter.

    »Ich bin dankbar, dass José Luis auf dich aufgepasst hat.« Er drückte ihren Körper sanft an sich. »Womöglich hängen deine Entführung und dieser Angriff gestern mit Vassquéz zusammen.«

    »Glaubst du wirklich?« Sie hob den Kopf, überlegte, ob sie den Verdacht äußern sollte, dass sein Vater diesen Wagen auf sie gehetzt habe, allerdings gab es dafür keinerlei Beweise.

    Es klopfte. »Ich stelle das Frühstück vor die Tür«, erklang Rositas Stimme dumpf.

    »¡Gracias!«, rief Katharina.

    »Holst du es?« Antonio gab ihr einen Kuss. »Ich habe einen Bärenhunger.«

    Das Frühstück bestand aus Arepas mit Spiegelei, gebratenen Kochbananen, Reis mit Bohnen, Schweinebauch und Rippchen, dazu ein Glas Baumtomatensaft. Für Katharina war die deftige Mahlzeit am Morgen sehr ungewohnt. Ihr Magen schien sich wieder mal umstülpen zu wollen. Sie trank den Saft und knabberte an dem Maisfladen.

    »Schmeckt es dir nicht?« Antonio begann, sich von ihrem Teller zu bedienen.

    Erneut klopfte jemand an die Tür. Katharina stand auf, um sie zu öffnen.

    »¡Buenos días, Señora!«

    »¡Buenos días! Ich bin froh, Sie zu sehen.« Sie bat den Arzt herein. Von ihm würde sich Antonio untersuchen lassen.

    »¿Doktor Rodríguez?« Antonio setzte sich ein Stück auf.

    »¡Nun sieh mich nicht so entsetzt an! José Luis hat mir kurz erklärt, was passiert ist.« Der Doktor stellte seinen Koffer neben dem Bett ab und öffnete ihn. »Ich habe die Unterlagen aus der Klinik angefordert.« Mit seinem Smartphone in der Hand ging er auf Antonio zu. »Auch wenn du es nicht hören willst, du gehörst ins Krankenhaus.«

    »Sie haben recht, das will ich nicht hören.« Antonio hob das Frühstückstablett auf die Sitzfläche des Stuhls. »Aber Sie wissen auch, Ihnen vertraue ich.«

    Doktor Rodríguez lächelte Katharina an. »Hoffentlich weiß mein schwierigster Patient es zu schätzen, dass Sie ihm das Leben gerettet haben, Señora Clausen.«

    »Das hätte ja wohl jeder getan.« Katharina hatte sich inzwischen schon an die Anrede »Señora Nicoljaro« gewöhnt. Ihr eigentlicher Name kam ihr fremd vor. »Ich warte draußen.« Sie lief zur Tür.

    »¡Bitte bleib!«, bat Antonio.

    »Kommen Sie, Señora. Zeigen Sie Antonio, wie mühelos man sich untersuchen lassen kann.«

    Katharina setzte sich seitlich auf einen Stuhl und zog ihr T-Shirt über den Kopf. Ruckartig riss Doktor Rodríguez das Pflaster herunter.

    »¡Katharina!« Zischend zog Antonio Luft zwischen die Zähne. »Das sieht schlimm aus.«

    »Das Nachbluten ist normal.« Der Arzt sprühte etwas Kaltes auf die Wunde. »Die Verletzung betrifft nur die oberen Hautschichten.« Es brannte heftig, Katharina ballte die Hand zur Faust. »Hätten Sie aufrecht gesessen, wäre die Kugel in Ihre Lunge eingedrungen.«

    Ein Gedanke, den sie sich nicht ausmalen wollte.

    Rodríguez wischte die Haut trocken, um einen neuen Klebeverband auf dem rechten Schulterblatt anzulegen. »Einmal am Tag sollte der Verband gewechselt werden. Ich lasse Ihnen Verbandsmaterial hier.«

    »¡Gracias!« Katharina zog sich wieder an.

    »Nun zu dir. Ich habe mir die Reste deines Hauses angesehen und kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass auch nur eine Katze überlebt hat.« Während der Doktor seinen Patienten untersuchte, die Operationsnaht abtastete und sich den Unterschenkel ansah, redete er Antonio ins Gewissen. »Ohne die Erste Hilfe der Señora wärst du tot. ¿Ist dir das klar?«

    Antonio sah ihn entsetzt an. Ob ihm endlich bewusst wurde, wie ernst sein Zustand war?

    »¡Setz dich auf! Ich muss deine Lunge abhorchen.« Der Arzt legte das Stethoskop auf Antonios Brust und hörte jeden Zentimeter ab. Mit einem tiefen Atemzug zog er sich die Ohroliven aus den Ohren. »¿Wann hattest du das letzte Mal Luftnot oder einen blutigen Geschmack nach dem Husten?«

    Katharinas Worte machten sich selbstständig. »Gestern Abend.«

    Rodríguez drehte sich ungläubig zu ihr um. Antonio sah erschrocken auf. »¿Woher willst du das wissen?«

    Der Arzt packte Antonio am Handgelenk. »¿Stimmt das?«

    Antonio schluckte hart. »¡Sí!«

    »¡Damit ist nicht zu spaßen, Antonio!« Rodríguez’ Stimme bekam eine prägnante Tonlage. »Es besteht der Verdacht auf Lungenriss. Ich rate dir ...«

    »¡No!«

    »¡Lass mich ausreden!« Der Doktor drängte Antonio auf das Kissen zurück. »Vermeide jede körperliche Belastung. Sobald du angestrengter atmest, bringst du dich in Lebensgefahr. Dein gebrochener Unterschenkel sollte dich sowieso von jeglicher Aktivität abhalten.«

    »Außer zum Badezimmer ...«

    »¡Versprich mir, das Bein nicht zu belasten!«, forderte Rodríguez energisch.

    »¡Sí! Ich verspreche es.«

    Zum Schluss untersuchte der Arzt die Kopfwunde über dem rechten Auge. »Zumindest eine Stelle, die mir keine Sorgen bereitet.« Er nickte, wandte sich Katharina zu. »¿Würden Sie mich bitte nach draußen begleiten?«

    »¿Wozu?« Antonio wollte sich aufrichten.

    »¿Ich dachte, du vertraust mir?« Er reichte Antonio die Hand. »Ich werde es erst Mittwoch wieder schaffen, herzukommen. ¡Bitte sei vernünftig, wenigstens dieses eine Mal in deinem Leben!« Er schaute kurz zu Katharina. »Wenn sich sein Zustand verschlechtert, rufen Sie mich sofort an, das kann auch mitten in der Nacht sein.«

    »Das ist sehr beruhigend.«

    Der Arzt ließ Antonios Hand los. »¿Brauchst du deine Tabletten?«

    Antonio schluckte, »¡por favor!« Er sah flüchtig von Katharina zu Doktor Rodríguez. »¡Sí!«

    Katharina begleitete Rodríguez hinaus zum Auto, wo er auf der Rückbank einen großen Medikamentenkoffer aus Metall öffnete. Er reichte ihr seine Visitenkarte und eine Schachtel. »Je weniger er davon nimmt, desto besser.«

    Sie erkannte die Tablettenschachtel wieder, die sie in Cartagena in Antonios Reisetasche gefunden hatte.

    »¡Sí! Ich weiß.«

    Der Arzt ging zum Kofferraum und holte einen Rollstuhl heraus. »Der ist sehr praktisch, allerdings besteht die Gefahr, dass er sich mehr zumutet, als er vertragen kann.«

    »Das ist wahr, jedoch werden die Gänge zur Toilette weniger anstrengend für ihn.«

    Doktor Rodríguez legte zwei Gehstützen über die Lehne des Rollstuhls. »¡Antonio wird sich nicht ans Bett fesseln lassen, aber versuchen Sie es trotzdem!« Er zwinkerte ihr zu, bevor er ins Auto stieg.

    Nachdenklich sah Katharina dem davonfahrenden Wagen hinterher. Sie freute sich für Antonio, fürchtete sich gleichzeitig vor seiner Unvernunft. Zögernd schob sie den Rollstuhl durch den Eingangsbereich der Pension. Einen Moment blieb sie vor der Rezeption stehen, die sich gegenüber dem Essbereich befand. Sie fragte sich, ob sie hier wirklich sicher waren und was sein Vater alles unternehmen würde, um seinen Sohn zurückzubekommen. Bei diesem Gedanken wurde ihr klar, Señor Nicoljaro ging es nicht um Antonio selbst, vielmehr versuchte er das Geheimnis zu schützen, welches ihn umgab. Erschrocken zuckte sie zusammen, als das Telefon laut neben ihr klingelte. Rosita kam draußen vom Garten herbeigeeilt und nahm ab. »¡Sí!« - »¡Sí!« - »¡Warte, sie steht gerade vor mir!« Sie zwinkerte Katharina zu. »José Luis braucht einen Lagebericht.« Sie hielt ihr den Hörer entgegen.

    »¿José Luis?«

    »¿Wie geht es euch? ¿War Doktor Rodríguez schon da?«

    »¡Sí! Er ist eben raus. Danke für deine Hilfe.«

    »¿Und wie geht es dir?«, fragte José Luis, während er hörbar den Rauch seiner Zigarette ausblies.

    »Ehrlich gesagt, überlegte ich gerade, ob sein Vater uns suchen wird.«

    »¿Möglich, aber ich wollte wissen, was deine Verletzung macht?«

    »Nicht der Rede wert. Hauptsache, ich bin bei Antonio.«

    José Luis stieß einen tiefen Atemzug aus. »¡Passt auf euch auf!« Er legte auf.

    »¿José Luis?« Katharina hatte fast den Eindruck, als sei er enttäuscht und habe deshalb das Gespräch so abrupt beendet. Nicht umsonst war er als Einzelgänger bekannt.

    Ihr kam eine Idee, wie sie Antonio von seiner Langeweile im Bett befreien konnte. Sie borgte sich bei Rosita das Buch »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez aus, bevor sie mit dem Rollstuhl und den Gehstützen ins Zimmer zurückkehrte. Antonio lag schlafend auf dem Bett. Sie deckte ihn zu und kuschelte sich neben ihn. Zwischen Dösen, Erzählen und Streicheln plätscherte der Sonntag dahin. Erst am späten Nachmittag wurde Antonio unruhig. Jetzt zog Katharina ihren Trumpf hervor.

    Antonio lachte. »Ich habe alle Bücher von ihm zu Hause, bin aber bisher nicht dazugekommen, sie zu lesen.« Seine Miene wurde ernst. »Ich hatte sie jedenfalls.« Er schmiegte sich an ihre Schulter, als sie vorzulesen begann.

    Gegen Abend klopfte Rosita an die Tür. »¿Katharina? José Luis möchte nochmal mit dir sprechen.«

    Sie legte das Buch zur Seite und eilte hinaus ans Telefon.

    »Enrique rief mich gerade an. Vor Vassquéz lauert ein Kerl mit einem Koffer.«

    »¿Und?«

    »Ich dachte, es könnte dich interessieren. An seinem Koffer hängt eine Banderole der Flugsicherung.« José Luis zog hörbar an seiner Zigarette. »Er kommt aus Deutschland.«

    Matthias, ihr Lebenspartner? Nein! Das traute sie ihm nicht zu. Oder doch? Sollte sie sich so sehr in ihm getäuscht haben? Sie spürte eine innere Hitze in sich aufsteigen.

    »Du musst das selbst regeln. Ich würde vorschlagen, ich hole dich morgen ab und fahre dich hin.«

    »¡Sí!« Unter keinen Umständen wollte sie zu diesem Mann zurück.

    »¿Ich bringe jemanden mit, der so lange bei Antonio bleibt, in Ordnung?«

    »¡Gracias!« Ihre Gedanken waren plötzlich ein einziges Chaos. Fast tat es ihr leid, dass sie Matthias im Ungewissen zurückgelassen hatte. Im Leben nicht hätte sie mit seinem Besuch gerechnet. Ihr Mund fühlte sich trocken an.

    »Du bist so blass!« Antonio setzte sich auf, als sie ins Zimmer zurückkam. »Was ist passiert?«

    Sie sank, leicht benommen von der Nachricht, aufs Bett. »Mir scheint«, sie drehte sich langsam um, schaute Antonio ins Gesicht, »ich habe mich in Matthias getäuscht. Er lauert vor Vassquéz.«

    Seine Gesichtszüge erstarrten. »Willst du mit ihm zurückgehen?«

    Sie schüttelte den Kopf. »Unsinn! Aber ich muss mit ihm persönlich reden. Das bin ich ihm nach all den Jahren schuldig.«

    »Ja, natürlich.« Seine Stimme klang fremd.

    Sie ergriff seine Hand. »Antonio! Du bist jetzt mein Leben.«

    Er zog seine Hand zurück. »Und wenn er dich bedrängt, vor dir auf die Knie fällt?«

    Sie lachte kurz. »Das würde Matthias nie tun.«

    »Du hättest dir die Mühe sparen sollen, mich ins Krankenhaus zu schaffen.« Er schob seine Beine vom Bett. »Lieber wäre ich unter den Trümmern meines Hauses begraben, als mich von dir in den Abgrund schubsen zu lassen.«

    Sie fragte sich, ob er überhaupt zugehört hatte. »Was wird das?«

    »Ich brauche den Rollstuhl!«

    Energisch stand sie auf und hob seine Beine auf das Bett zurück. »Was muss ich tun, damit du mir glaubst?« Sie sprach lauter. »Die letzten Tage waren für mich nun wirklich nicht leicht gewesen.« Sie stemmte sich auf seine Schultern. »Ich liebe dich, Antonio. Du bist attraktiv und begehrenswert. Du solltest dir eine gehörige Portion mehr Selbstvertrauen zulegen.« Mit einem Kuss auf seinen Mund setzte sie sich zu ihm. Er sah ihr in die Augen, bewegte die Lippen, als wollte er etwas sagen.

    Es vergingen fünf Minuten, ehe er flüsterte: »Bitte komm zurück und verabschiede dich von mir.« Sein zweifelnder Blick erzählte von den Ängsten der Einsamkeit.

    »Ich komme zurück«, sie beugte sich zu ihm, »aber bestimmt nicht, um mich von dem Mann zu verabschieden, mit dem ich mein Leben verbringen möchte.« Antonios Enttäuschungen hatten tiefe Narben in seiner Seele hinterlassen. Das Zusammenleben mit ihm würde vermutlich immer schwierig bleiben. Doch sie wusste das und war bereit, sich darauf einzustellen.

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