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Hochschulbaby
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eBook250 Seiten3 Stunden

Hochschulbaby

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Über dieses E-Book

Diese Babypuppe wollen alle haben. Die kleinen Mädchen sowieso. Aber auch Mütter, Väter und Großväter, denen es das Herz erwärmt, wenn sie ihren Töchtern und Enkelinnen einen heiß ersehnten Wunsch erfüllen und zum Dank die freudestrahlenden Blicke ihrer kleinen Lieblinge ernten oder sie einfach nur ruhigstellen können. Diese Hysterie erreicht bald die alten Männer im Politbüro, die das Land regieren ... und allmählich drängt die unbefriedigte Nachfrage nach dieser Spielware die kleine ostdeutsche Republik an den Rand des Abgrunds.

Dieses "Hochschulbaby" hat es Mitte der 70-er Jahre in der DDR tatsächlich gegeben (s.Anhang). Allerdings ist die Handlung in diesem "teilweise grotesken" Roman frei erfunden. Fast frei. Denn Atmosphäre, menschliche Verhaltensmuster und typische, den Alltag in der DDR prägende Situationen sind authentisch dargestellt, sprachlich eindringlich, nichts beschönigend, witzig-augenzwinkernd und ohne jede Bitterkeit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Nov. 2016
ISBN9783738094114
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    Buchvorschau

    Hochschulbaby - Ingo Stephan

    Hier hüpft und springt ein Zwerg

    In einer eisigen Januarnacht des Jahres 1976 treibt ein kleiner dicker DDR-Bürger ruhelos durch die Erfurter Innenstadt. Nur selten gibt die Dunkelheit den flinken Körper preis im Licht der Straßenlaternen. Mal huscht er hier um eine Häuserecke, mal springt er dort über einen grauen Schneehaufen. Nun überquert er mit kurzen Schritten die sich kreuzenden Straßenbahnschienen auf dem Anger, der zentralen Fußgängerzone der Stadt, und schwenkt in die Schlösserstraße ein. Dabei zerrt er immer wieder an seinem schweren Filzmantel, rafft ihn unter dem Kinn zusammen. Die Knöpfe fehlen seit Wochen. Und ohne einen straffen Zug im Stoff würde der frostige Wind noch intensiver auf den Körper treffen. Zappelig wirkt er mit diesem Zerren am Mantel und den kurzen Schritten. Ebenso unruhig ist auch sein Geist. Denn unserem kleinen dicken Mann ist endlich jener Einfall gekommen, auf den er seit Monaten gewartet hat, und wenn er ehrlich ist, seit Jahren. Nun muss er schnellen Schrittes zu seinem Haus im Schatten der beiden Domplatzkirchen. Dort wartet sein Schreibtisch. Dort warten Papier und Stifte auf ihn, diese Idee festzuhalten. Und er muss eilen, damit er das Bild nicht verliert, damit sich die Formen in seinem Gehirn nicht verflüchtigen und ihm seine derzeit einzige Frau nicht in die Quere kommt – die Partei. Die verfügt erst mit Arbeitsbeginn um 7:30 Uhr über ihn.

    Der 55-jährige 1. Sekretär der SED-Grundorganisation des VEB Spielwarenkombinates „Erfi" aus Erfurt, Anton Schütze, glaubt nämlich immer noch, dass er ein großer Erfinder sei, obwohl er seit Jahren nichts mehr erfunden hat. Schuld daran sind natürlich die Frauen. Das weiß er genau. Die stehen immer im Weg, wenn er kreativ sein will. Ob sie nun aus Fleisch und Blut sind oder in Form dieser verfluchten Partei erscheinen. Andererseits ist er schon auf keine originelle Idee mehr gekommen, als er noch Oberkonstrukteur im Betrieb, also noch nicht Parteisekretär und auch nicht mehr verheiratet war. Die Begebenheit der vergangenen Nacht allerdings hat ihm erneut Recht gegeben. Das stramme Weib im Hotel hat ihm den abgebrochenen Beischlaf übel genommen und Anton zurück in die Nacht geworfen. Natürlich hat sie nicht verstanden, weshalb er den Geschlechtsverkehr nicht bis zum Höhepunkt beibehalten konnte. Wie das so ist bei diesen Geschöpfen, sie können sich nicht damit abfinden, dass es Momente gibt, in denen etwas anderes wichtiger ist als ihre Wünsche.

    Ein ideeller Zeugungsakt – wenn der Geist das Fleisch besiegt.

    Äußerst wunschvoll dagegen hat es gegen Mitternacht in der Bar des Hotels „Erfurter Hof" begonnen. Unser Anton sitzt der anziehenden Hochschulpädagogin mittleren Alters gegenüber und hofft darauf, sie bald ausziehen zu dürfen. Beiden ist auch die Lampe im Weg, die tief über dem kleinen Tisch hängt. Da passt nicht viel darunter. Gerade mal zwei Weingläser und eine Flasche, in der der Wein für die Gläser drin ist. Dann vielleicht noch die wenigen Worte der Reue, oder die vielen Worte der Wiedergutmachung, oder die leichten Worte des Lauerns auf eine Gelegenheit wie bei Anton hier. Beide Gesichter sind matt beleuchtet und Schütze blickt in ein sattes Frauenporträt. Dunkle Locken verschleiern die Stirn. Darunter funkeln zwei riesige dunkelbraune Augen. Die Haut der Wangen wirkt spröde-glatt wie die Oberfläche eines angetrockneten Stückes Seife. Und dazu schnalzen zwei geschwungene rote Lippen nach jedem Schluck Wein, als gäbe es nichts Lustvolleres für sie als zu schlecken und zu schlürfen. Unser Anton gibt sich alle Mühe, damit das so bleibt. Zwischen perlenden Worten der Verführung belegt er die Innenfläche ihrer linken Hand mit zarten Küssen. Und als er mit der Zungenspitze dort sanfte Kreise zieht, kann sie nicht anders. Sie stöhnt leise auf. Das mittelgroße Frauengesicht öffnet sich. Die Brauen heben sich. An den braunen Augen weiten sich die zarten, aber festen Falten, als freuten sie sich darüber, dass sie existieren. Dazu heben sich die Lippen, öffnet sich der Mund, leuchten schmale weiße Zähne. Und sie denkt an ihren Mann, bei dem sie auf nichts mehr zu warten braucht. Hier aber wartet eine reizvolle Nacht. Sie bestellt eine Flasche Sekt aufs Zimmer und nimmt Antons Hand.

    Oben findet das verliebte Paar tatsächlich bereits beim Eintreten eine Flasche Rotkäppchen im Kühler auf dem Tisch und zwei Gläser dazu. Ihre trockenen Kehlen zwingen die beiden Menschen als erstes, sich auf den Rand des Bettes zu setzen, noch vor dem geplanten Liebesspiel die Sektflasche zu öffnen und die perlende Flüssigkeit zu trinken.

    - Ah, das tut gut, sagt sie und küsst Schützes breite Lippen.

    - Mir auch, antwortet er. Ich fühle mich, als hätte ich eine Last verloren, ehrlich. Seit Tagen ist mein Kopf nicht mehr so leicht gewesen.

    - Dann tun wir alles, das es so bleibt, sagt sie und zieht sich aus.

    Auch Schütze krabbelt flink aus seinen Sachen und fällt aufs Bett zurück. Und haste nicht gesehen, sitzt sie auf ihm drauf. Mit einer Geschwindigkeit und Leichtigkeit, die unser Anton bei diesem Weib nicht vermutet hätte. Oben legt sie seinen Kopf zwischen ihre schweren Brüste. Unten …

    - Mein lieber kleiner Parteisekretär, stöhnt sie tiefbrüstig. Das ist ja mehr als ich erhofft habe.

    - Das sagen sie alle, erwidert Anton, wobei ihm die Stimme bei jedem Rückstoß des Frauenkörpers stockt. Ich bin da wie eine umgekehrte Matroschka.

    - Umgekehrt, jubelt die Frau. Wie reizend, aaaah!

    Und Anton braucht nicht viel zu tun. Die Hochschulpädagogin macht einfach alles. Sie hebt und schiebt und hebt und schiebt und dreht ihr Becken in alle Richtungen. Da wird dem Anton richtig schwindlig unter den wogenden Brüsten. Die spannen sich wie vollbusige Segel vor seinen Augen und den Wind dazu macht der brausende Leib ... doch, halt! Was sieht er da! Was kommt da aus dem Busenansatz hervorgekrochen? Anton glaubt, er spinnt. Aber sieh doch hin, alter Junge. Eine Puppe kommt da, ein kleine süße Spielzeugpuppe. Wie kommt die da hin? Na klar, die ist da nicht, Anton, die ist in deinem Kopf. In meinem Kopf? Aber sicher, schließ die Augen und – siehst du sie? Anton schließt die Augen. Tatsächlich. Er sieht die Puppe, die kleine süße Spielzeugpuppe, und muss grinsen. Da ist sie endlich, die Idee, auf die er seit Jahren gewartet hat.

    Aber da ist noch jemand anderes.

    - Was los? meldet sich eine Frauenstimme.

    Was? Wie? Anton ist verwirrt.

    - Hallo, sagt die Frau. Was ist los mit dir? Ich denke du kommst bald, dabei gehst du gerade.

    - Ach du, sagt er und weiß sofort, dass er ein Problem hat.

    - Ja, sieh an, ich bin auch noch da. Aber du irgendwie nicht mehr.

    - Na ja, zögert Anton. Wie soll ichs sagen, ich meine, ich hab da so eine Idee.

    - Eine Idee hast du, stellt sie ernüchtert fest. Ich brauche jetzt keine Idee, mein Lieber, sondern einen Orgasmus.

    - Das glaube ich dir, stammelt Anton. Aber wenn ich, ich meine, eine Idee habe, so eine kleine, ich meine, dann ... dann kann ich nich.

    - Das muss ja eine tolle Idee sein, wenn du dabei das Ficken vergisst. Oder ist sie gefährlich?

    - Nein, sucht Anton Schutz. Aber du darfst nich sauer sein.

    Nun ist die Frau erst recht verärgert. Sie hebt sich von Anton runter, setzt sich auf den Bettrand und zündet sich eine Zigarette an.

    - Ich wusste eigentlich, sagt sie ernüchtert, dass Parteisekretäre im Bett nur Nieten sind, doch nach dem Anfang heute dachte ich – Klasse, endlich mal ein Mann! Aber jetzt? Was liegt hier vor mir? Das Übliche.

    - Also gut, schnauft Anton, weil er das nicht auf sich sitzen lassen will. Ich habe eine Puppenidee.

    Sie ringt nach Luft. Und als sie die im Halse spürt, da findet sie auch ein Wort, und eines noch dazu:

    - Eine Puppenidee?

    - Ja, ich habe die Idee von einer Puppe.

    - Einer Puppe, sammelt sie sich und schwankt nun zwischen Weinen und Lachen.

    - Ja, freut sich Anton.

    - Einfach die Idee einer Puppe, wiederholt sie sich und schüttelt ihre schwarze Mähne.

    - Ja, freut sich Anton immer noch.

    Sie zieht kräftig am Glimmstängel. Und mit dem Rauch lässt sie folgenden Gedanken frei:

    - Du denkst also an eine Puppe, wenn ich mich auf einen Orgasmus freue?

    - Du bist ne tolle Frau, freut sich Anton immer noch.

    - Aber keine Puppe. Das muss sich eine mal vorstellen. Da fummelt so ein Kerl an einem rum und denkt dabei an ein Spielzeug.

    - Das meine ich doch nich, ich konnte nur nichts dagegen tun! Du warst so gut in Arbeit auf mir drauf, da ist mir plötzlich diese Idee gekommen. Und, glaub mir, ich habe lange darauf gewartet, also, auf eine Frau, wie du eine bist. Hast du eigentlich Kinder?

    - Mein lieber kleiner Parteisekretär, entrüstet sie sich. Ich habe meine Studenten. Und meine Kunst. Da brauche ich kein Baby.

    Sie steht auf und sammelt ihre Sachen vom Fußboden.

    - Mir reicht es. Ich habe keine Lust hier zu warten, bis du genug an deiner Idee rumgedacht und sie vielleicht noch aufgemalt hast. Ich brauche jetzt einen Mann. Willst du das übernehmen oder nicht?

    Sie blickt zu Anton und hält sich ihre Klamotten vor die Brust. Der arme Kerl aber hockt richtig dick und schlaff auf dem Bett, sodass sie sich jetzt fragen muss, was sie an diesem Birnenkörper so anziehend gefunden hat. Wahrscheinlich hat sie der Alkohol wieder an der Nase herumgeführt. Und Anton selbst kann nicht verstehen, was denn falsch sei an seiner Idee.

    - Keine Antwort ist auch ne Antwort. Du kannst verschwinden. Wenn ich vom Duschen wiederkomme, will ich dich nicht mehr sehen.

    Sie geht ins Bad. Was bleibt dem Anton übrig? Er ist völlig durcheinander. Endlich ist ihm die großartigste Idee des letzten Jahrzehnts gekommen und jetzt kann er sie nicht zeichnen. Und warum nicht? Weil ihm wieder eine Frau – denkt er ... aber das kennen wir schon. Also, Sachen angezogen und Beine in die Hand genommen und ab nach Hause an den Schreibtisch.

    Als die Frau wenig später unbefriedigt aus der Dusche ins Zimmer kommt, sieht sie den Anton tatsächlich nicht mehr. Enttäuscht fällt sie aufs Bett.

    Zumindest ist in der Flasche noch Sekt drin.

    Jedes Ding hat einen Namen –

    sonst weiß einer nicht, wie er es nennen soll.

    Das kann der Anton noch nicht. Einfach so aufs Bett fallen, nur weil er will. Hastig ist er durch die Erfurter Straßen gehopst und endlich angekommen. Sofort hat er sich an seinen Schreibtisch gesetzt. Das ist vor drei Stunden gewesen. Jetzt blickt er auf zur alten Pendeluhr, die gerade über seinem Kopf an der Wand hängt. Es ist fünf Uhr früh. Vor ihm liegen 20 oder 30 Skizzenblätter. Auf jedem sieht man grafisch plastisch geschwungene Skizzen einer Spielzeugpuppe. Wie aber soll sie heißen? Jede Puppe hat einen Namen. Das gehört einfach dazu. Die kleinen Mädchen müssen ja wissen, wie sie ihr Spielzeug nennen sollen. Oder, wenn sie in ein Geschäft gehen, wonach sie fragen müssen. Anton hat hin und her überlegt. Ein Baby ist sie, sieht auch so aus. Also, mit dem Wort „Baby" muss es was sein. Dazu vielleicht ein kleines Andenken an die nette Frau? Schließlich ist ihm die Idee gekommen, als er unter ihr lag. Warum nicht? Eine Hochschulpädagogin ist sie, hat sie gesagt. Für Kunst- und Kulturgeschichte. Eine Hochschullehrerin ... Hochschullehrerin ... Hochschule ... und Baby ... warum nicht ... das Baby mit der Hochschullehrerin ... also Hochschulbaby ... klingt ungewöhnlich ... klingt neu ... nicht schlecht. Und noch ein Gedanke kommt ihm bei diesem Namen. Da hat die Puppe gleich ein intellektuelles Image. Da hat sich ein kluger Kopf sein kluges Köpfchen darüber zerbrochen, womit die Mädchen spielen könnten. Also – Hochschulbaby – das wissenschaftlich marxistisch erarbeitete Spielzeug für die entwicklungsfähige sozialistische Mädchenpersönlichkeit. Das ist es.

    Unser Anton lehnt sich zurück. Ihm schmerzen die Augen und er spürt gewaltsame Müdigkeit. Also schiebt er sich weg vom Tisch, hebt sich auf und schleppt sich rüber zum Bett. Da legt er sich drauf, deckt sich zu, zieht die Beine an und ist so erschöpft, dass er sofort einschläft, ohne betrunken zu sein. Das ist selten geworden, dass er einschlafen kann, ohne sich mit Alkohol narkotisiert zu haben.

    Die Geburtshelfer waschen sich die Hände.

    Wie überrede ich einen Kombinatsdirektor, etwas zu produzieren, für das es im Moment keine Produktionsmöglichkeiten gibt?

    Dieses Problem erkennt Anton sofort, als er am Morgen neben seinem Bett steht und durch das Fenster auf den diesig schimmernden Domplatz blickt.

    Das Pflaster liegt ohne Schnee. Graue Haufen verdreckten Eises türmen sich an den Rändern zu den Schienen der Straßenbahn. Die Menschen gehen mit eingezogenen Schultern. Die dicken Mäntel, in denen sie sich verstecken, scheinen nicht auszureichen, um sie vor der Kälte zu schützen. Die blauweißen Stadttauben sitzen zu aufgeplusterten Trauben auf den Ästen der kahlen Bäume. Der Himmel darüber scheint wie aus grauer Milch. Der Tag will trüb beginnen. Ein schlechtes Vorzeichen? Anton hört schon die Antwort seines Chefs:

    - Mein lieber Schütze, da gibt es zwei Probleme. Erstens brauche ich Argumente, um den Genossen Abend von der Notwendigkeit zu überzeugen, dass wir dieses Spielzeug produzieren dürfen. Zweitens sehe ich keine Kapazitäten mehr, selbst wenn der Genosse Abend zustimmt. Unsere Möglichkeiten sind erschöpft.

    Anton überfliegt nochmals die Skizzenblätter, nimmt sie zur Hand und ist zufrieden. Da ist ihm wirklich was gelungen. Das sieht sein Kennerblick sofort. Die kleinen Mädchen müssen wirklich mehr als verrückt nach dieser Puppe sein. Wie ein Baby sieht sie aus, wie ein kleines frisches munteres Baby. Anton hat die Form sehr gut getroffen. Aber Erich Scheider ist ein genauer Mensch. Der kann zu einem blockierten Beamten werden, wenn es um Zahlen geht. Warten wir ab. Vielleicht kommen Anton die richtigen Worte. Vielleicht kann er Scheider davon überzeugen, dass dieses Hochschulbaby zum größten Wurf in der Geschichte des VEB Spielwarenkombinates „Erfi" aus Erfurt werden kann ... vielleicht ... und mit einem Schnaps … vielleicht geht ja alles seinen sozialistischen Gang.

    Zwei Stunden später sitzt er dem Kombinatsdirektor gegenüber und vor den beiden liegen die Zeichnungen ausgebreitet.

    - Hochschulbaby, sagt Scheider unsicher. Das soll ein origineller Name sein?

    - Natürlich, erwidert Anton heftig. Den gibt es noch nicht. Und in seiner Kombination aus Kind und Bildungseinrichtung gibt er unserer Puppe so einen intellektuellen Anstrich. Das ist dann nicht nur ein Spielzeug, mit dem die lieben Kleinen spielen können, nein, das ist ein hochpädagogisches Spielobjekt, ganz im Sinne unserer Losung zur allseitigen Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit! Verstehst du?

    Bahnhof, denkt Scheider und sagt: - Nee.

    - Erich, versucht es Anton erneut. Wenn wir den Genossen in der Planungskommission erklären müssen, weshalb wir gerade diese Puppe produzieren wollen, haben wir damit bereits ein stichhaltiges Argument. Schalt doch mal dein Gehirn ein!

    Das kann ich seit Tagen nicht abschalten, denkt Scheider und betrachtet die Skizzen. Er kennt seinen Freund. Er weiß, dass Anton seit Jahren nichts mehr eingefallen ist. Und jetzt so eine Puppe, die wie ein Baby aussieht? Das soll der große Renner werden? Heute weht ein anderer Wind durch die Flure der Politischen Ökonomie des Marxismus/Leninismus in diesem Land. Da gibt es eine Person, die darüber bestimmt, was und wie viel davon produziert wird. Das ist der Sekretär für Wirtschaft im Zentralkomitee der Partei, Genosse Günter Abend. Eigentlich dem Erich Scheider wohlgesonnen. Aber der Betriebsleiter des Spielwarenkombinates „Erfi" aus Erfurt hat im Augenblick ein großes Problem, das ihm das Abschalten seines Gehirns unmöglich macht. Er steht kurz vor seiner Degradierung, wenn er die verhagelten Planerfüllungszahlen des letzten Jahres so nach Berlin weitergibt, wie sie tatsächlich lauten und in der Tiefe seiner Schreibtischschublade lauern. Wenn Scheider das tut, kann er seine Nachfrage wegen eines neuen Spielzeuges gleich vergessen; denn es wird ein Rechtfertigungsverfahren vor der staatlichen Plankommission geben, und nicht nur das. Er wird im betriebseigenen Pkw Wartburg 353 auf der zerklüfteten Autobahn nach Berlin tuckern müssen, wird ängstlich vor den obersten Genossen und Ministern im Politbüro der Partei stehen wie ein Schuljunge vor seinem Rektor, weil er beim Bepinkeln des Karl-Marx-Denkmals auf dem Schulhof erwischt worden ist. Nur kann Scheider nicht die Wahrheit sagen. Der Junge wird zugeben, dass er einfach mal pinkeln musste und dass er mit seinen acht Jahren den Namen dieses Mannes schon mal gehört habe, aber nicht wisse, in welchem Indianerfilm dieser bereits mitgespielt haben soll. Und der Schuldirektor würde erkennen, dass dieses Bepinkeln nichts mit einer klassenfeindlichen Tat als Dokumentation der Einstellung des Jungen zu Karl Marx und dessen gesellschaftspolitischen Lehren zu tun habe. Scheider dagegen wird verschweigen müssen, dass die Rohstoffe knapp geworden sind und für die geplante Produktion einfach nicht ausreichen, dass einige Maschinen zu alt geworden sind für eine hocheffektive Produktion, dass keine Mittel vorhanden sind, um neue zu kaufen, dass es einfach an den geringeren Kapazitäten liegt, weshalb die Planvorgaben nicht zu erreichen sind, und dass im Grunde die Damen und Herren, die die Pläne schmieden, doch einmal einen Besuch in den Werkhallen durchführen müssen, für die sie die Vorgaben erarbeiten, und zwar einen nicht angekündigten Besuch, damit sie sehen, was möglich ist und was eben leider nicht.

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