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Rubor Seleno
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eBook561 Seiten7 Stunden

Rubor Seleno

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Über dieses E-Book

Gerrit wächst als Findelkind im Kloster der Selenoriten heran. Bereits dort zeichnet er sich durch besondere Begabungen aus. Eines Tages kommt der geheimnisvolle und grausame Vamun ins Kloster und nimmt Gerrit zu sich, um ihn auf seiner Burg auszubilden.
Während der harten Ausbildung fühlt sich Gerrit zwischen den beiden gegensätzlichen Mondkräften hin- und hergerissen, was Vamun zur Weißglut treibt. Immer wieder hat Gerrit Visionen von einer rätselhaften Burgruine und fängt an, heimlich nach seinen Wurzeln zu forschen. Eines Tages wird er dabei von geheimnisvollen Gestalten gefangen genommen und verschleppt.

Unter dem Einfluss zweier diametraler Mondkräfte erzählt dieser spannende Fantasy-Roman, eine mittelalterlich anmutende Geschichte …

Vollständig überarbeitete Neuausgabe
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum29. Juni 2014
ISBN9781301031733
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    Buchvorschau

    Rubor Seleno - Angela Planert

    WANDERUNG

    Seltsame Geräusche rissen Farie aus dem Schlaf. Der rote Mond schien genau in ihren Schlafraum. Von draußen drangen flüsternde Stimmen zu ihr hinauf. Die weckten ihre Neugier. Sie stand auf, ging zum Fenster, um in den Klostergarten zu schauen. Der rote Mond besaß nicht viel Leuchtkraft, der weiße Mond stand direkt hinter dem Haus. Die Gestalt, die sich gerade davonschlich, wusste wohl ihr Geheimnis zu bewahren. Sie bewegte sich nur im Schatten des Klostergebäudes, bis sie den Wald erreichte. Von dort vernahm Farie das Getrappel von Pferdehufen, die eiligst fortritten.

    Die zierliche Klosterschwester lief die zwei Treppen hinunter zum Klostertor. Als sie das schwere Holztor mühsam geöffnet hatte, bestätigte sich ihr Verdacht. Jemand hatte einen Korb mit einem schlafenden Säugling darin abgestellt. »Was für eine grausame Welt, du kleines Wesen«, flüsterte sie und trug den Korb in den Schlafraum der Kinder.

    »Das ist nun bereits das dreißigste Kind. Wie sollen wir so viele Kinder ernähren?«, wetterte die korpulente Äbtissin am nächsten Morgen.

    »Wir werden bestimmt einen Weg finden.« Farie wollte gerade an die Arbeit gehen.

    »Farie?«, warf die Äbtissin ihr nach.

    »Ja, oberste Schwester?« Sie wandte sich ihr zu.

    »Hast du nicht unlängst den kleinen Gerrit entgegengenommen?«

    »Ja, das habe ich.« Farie wunderte sich, warum die Äbtissin sie ausgerechnet nach Gerrit fragte.

    »Er war eines der wenigen Kinder, die uns persönlich übergeben wurden.« Sie seufzte tief.

    »Die paar Goldstücke, die wir mit dem Jungen überreicht bekamen, können uns bei den vielen Kindern nicht lange weiterhelfen. Wir müssen uns etwas überlegen. Kannst du mit dem Boten Verbindung aufnehmen, der Gerrit zu uns brachte?«

    »Nein, oberste Schwester. Er hinterließ weder seinen Namen noch eine Angabe, woher er kam.«

    Farie dachte an jenen Morgen zurück, als ein lautes Bummern am Holztor sie beim Aufstehen zur Eile angetrieben hatte. Sie hatte ihren Umhang genommen und war zum Klostertor gehastet. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, es dämmerte gerade erst.

    »Bitte, wir sind in großer Not.« Ein großer, kräftiger Mann stand vor ihr. Auf dem Arm hielt er einen schlafenden Jungen. Der Fremde war mit einer olivfarbenen Hose bekleidet und trug hellbraune Schnürstiefel, die ihm bis über die Knie reichten. Unter dem olivfarbenen Mantel lugte ein hellbraunes Hemd mit kostbaren Perlmuttknöpfen hervor. Ein hellbraunes Tuch war zu einem Stirnband gebunden. Um seinen Hals hing ein glitzerndes Medaillon, das Farie in der Dunkelheit nicht deutlich erkennen konnte.

    »Gerrit ist das Wertvollste, das mein Herr jemals hatte. Achtet gut auf ihn! Sobald es meinem Herrn möglich ist, werden wir ihn zurückholen.« Ihm fiel dieser Schritt selbst offensichtlich nicht leicht, er atmete schwer, als er Farie den Jungen entgegenreichte.

    »Hier«, er gab ihr einen kleinen Ledersack mit etwas Schwerem darin, »mehr haben wir im Moment nicht.« Dann strich er dem Jungen durch das braune, wellige Haar. »Passt gut auf ihn auf! Bitte, er ist doch erst fünf.« Er drehte sich um und verschwand Richtung Wald.

    Farie trug Gerrit in ihre Kammer. Er war genauso gekleidet wie der Mann, der ihn brachte. Nur trug er kein Medaillon, sondern eine Halskette. Die Äbtissin würde bestimmt versuchen, die Kette zu verkaufen, vermutlich auch die warme Kleidung des Jungen. Der Gedanke gefiel Farie nicht, deshalb holte sie einfache Kleidung aus dem Schrank der Klosterkinder und zog Gerrit um. Zwischendurch blinzelte er müde, kam jedoch nicht richtig zu sich. Er wirkte fast benommen, als Farie ihn umkleidete. Die kleine Stupsnase und seine braunen, welligen Haare hatten es Farie angetan. Seine Kleider sowie die Halskette versteckte sie in ihrer eigenen Truhe. »Es ist wohl besser, wenn die niemand sieht«, dachte sie. Sie nahm den schlafenden Jungen, um ihn in den Schlafraum der Kinder zu bringen.

    »Farie«, riss die Äbtissin sie aus ihren Gedanken. »Ist dir doch noch etwas eingefallen?«

    »Nein, oberste Schwester.«

    »Dann geh jetzt und erledige deine Aufgaben.«

    Am Nachmittag bat die Äbtissin Farie erneut in ihren Arbeitsraum. »Es sind einige Dinge im Dorf zu erledigen, würdest du dich bitte darum kümmern?«

    »Gewiss, oberste Schwester.«

    »Ich habe lange hin und her überlegt.« Die Äbtissin legte ihre Handflächen aneinander. »Wir werden versuchen, die größeren Kinder im Dorf als Mägde oder Stallknechte zu vermitteln. Auch wenn sie mit acht oder zehn Sommern noch etwas jung sind. Aber auf diese Weise wird es für uns alle leichter werden.«

    Der Gedanke war dienlich, nur trennte sich Farie ungern von den Kindern. »An wen habt Ihr gedacht, oberste Schwester?«

    »Die beiden ältesten, Munar und Salar, Raman und Siena, vielleicht selbst Tanor. Du wirst dich im Dorf umhören, ob es Möglichkeiten für einige oder sogar für alle gibt, eine Aufgabe zu übernehmen. Bitte erledige das geschickt!«

    »Natürlich. Mit Mondeshilfe werde ich Euren Vorstellungen entsprechen.«

    »Nimm einige Kinder mit. Es ist gut, wenn sie mal ins Dorf unter Leute kommen.«

    »Verstehe.« Farie freute sich darauf, ins Dorf zu gehen. Das war ihr eine willkommene Abwechslung.

    Gleich nach dem Morgenmahl eilte Farie zu den etwas älteren Kindern, die sich im Garten um die Kräuter und das Gemüse kümmerten.

    »Werdet Ihr uns heute wieder unterrichten?«, bedrängte Lunia Farie.

    »Bitte lest uns eine Mondsage vor!«

    »Erklärt Ihr uns die Wirkung der Heilkräuter?«

    Schnell umringten die Kinder die Klosterschwester.

    »Singt Ihr uns ein Lied vor?«

    »Könnten wir im Wald nach Pilzen suchen?«

    »Farie, bitte spielt mit uns!«

    »Psst! Nicht durcheinander schnattern! Ich verstehe ja kein Wort!« Farie streichelte einigen Kindern über den Kopf. »Ich muss heute ins Dorf.«

    »Och!«, klangen die Kinder im Chor.

    »Der Weg ist weit. Aber vielleicht mag ja jemand …«

    »Bitte, darf ich?«

    »Ja, ich möchte auch gern mitkommen!«

    Farie schmunzelte. »Wer war das letzte Mal dabei?«

    Einige hoben daraufhin die Hand.

    »Ihr wisst, heute sind die anderen an der Reihe. Beim nächsten Mal nehme ich euch wieder mit.« Farie hätte am liebsten alle mitgenommen, zu viel Aufsehen durfte sie im Dorf nicht erregen. Das war meist mit Ärger verbunden.

    Sie wählte sechs der Kinder aus. »Dann ab mit euch!« Sie drängte zwei der Kinder an der Schulter aus dem Garten hinaus Richtung Wald. Genau auf die Stelle zu, an der gestern Abend der Reiter im Dunkel der Nacht verschwunden war.

    Die Gruppe hatte den Wald fast erreicht, da sah sich Farie um. Auch die Kinder hielten an, um zurückzuschauen.

    Der kleine Gerrit lief ihnen nach. Offensichtlich eingeschüchtert, weil ihn nun alle anstarrten, blieb er ebenfalls stehen.

    »Den langen Weg ins Dorf schafft der nicht.« Talon machte eine wegwerfende Handbewegung.

    »Talon, Gerrit hat einen Namen.« Farie musste Talon häufig verbessern. Er verhielt sich manchmal unbotmäßig.

    »Gerrit ist doch noch zu klein«, tuschelte Lunia.

    Während dieses Gesprächs hatte Gerrit die Gruppe eingeholt.

    »Der Weg ist weit. Bist du dir sicher, dass du mithalten kannst?« Farie zweifelte, ob er mit ihnen wirklich Schritt halten konnte. Sie sah ihn an. Gerrit nickte. Seine Augen schienen zu leuchten. Farie brachte es nicht über das Herz, ihn zurückzuschicken.

    »Dann lasst uns gehen!« Farie spürte ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen. Bisher hatte sich Gerrit sehr zurückgehalten, mied meist den Kontakt zu anderen. Sein momentanes Verhalten war ein beachtlicher Fortschritt. Vielleicht würde er sich im Laufe des Weges sogar weiter öffnen und endlich ein Wort sagen.

    Vom regen Gesang der Vögel begleitet, setzte die kleine Gruppe ihren Weg durch den dichten Mischwald zum Dorf fort. Es duftete nach Moos und nach moderndem Holz. Ein roter Milan flog rufend in der Ferne über den Wald.

    »Wenn wir jetzt ganz leise auf die Lichtung zugehen und etwas Glück haben, sehen wir womöglich ein paar Rehe«, flüsterte Farie den Kindern zu.

    Jeder gab sich viel Mühe, so lautlos wie möglich zu gehen, dabei gaben alle Acht, keine Zweige auf dem Waldboden zu zertreten. Farie bemühte sich bei solchen Wanderungen, den Kindern die Natur nahezubringen, sie erklärte ihnen die Verwendung von Heilpflanzen und Beeren. Jene Waldwiese wurde wegen der süßen Früchte bevorzugt vom Wild aufgesucht. Als sie die Lichtung erreichten, standen dort tatsächlich drei Rehe. Farie gab den Kindern mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie stehenbleiben sollten. Die noch tiefstehende Sonne sowie der restliche Bodennebel, tauchte die kleine Waldlichtung in ein besonders weiches, sanftes Licht. Es sah märchenhaft aus.

    »Farie! Seht nur!«, tuschelte Siena und zeigte auf ein viertes Reh, welches in diesem Augenblick aus dem Wald auf die Wiese zuging. An dieser Stelle hockte Gerrit. Farie war es entgangen, wie er dort hingelangt war. Aber er musste sehr geschickt gewesen sein, sonst wären die anderen Tiere längst davongerannt. Das Fell des Rehs erschien durch das Sonnenlicht in einem goldenen Schimmer. Das Tier beschnupperte Gerrit und leckte ihm das Gesicht. Langsam hob Gerrit die Hand und streichelte das Reh am Hals.

    »Er hat es verzaubert!«, schrie Talon zornig. Augenblicklich jagten die Rehe in verschiedene Richtungen davon.

    Farie blies vernehmlich ihren Atem aus. »Talon, warum hast du das getan?«

    »Der ist doch nicht normal!« Trotzig stampfte Talon voraus. Der Rest der Gruppe folgte erst zögernd, dann entschlossen. Talon konnte die Mehrheit gut für sich gewinnen, was Farie in diesem Moment für Gerrit aber sehr leidtat. Mit gesenktem Kopf kehrte er von der Lichtung auf den Weg zurück.

    »Komm schon Gerrit, die anderen warten auf uns.« Farie hielt ihm ihre Hand entgegen. Gerrit schüttelte stumm den Kopf, ohne sie anzusehen. Während sie mit schnelleren Schritten die anderen einholte, blieb Gerrit hinter ihr.

    Sie überlegte, wie sie eine Brücke zwischen den Kindern und Gerrit bauen konnte.

    »Was haltet ihr davon, wenn ihr das nächste Mal die Rehe streichelt?«, fragte sie deshalb. Gelegenheit bot sich bei einer Rast zum Beerennaschen.

    »Wir?« Ein aufmüpfiger Ton lag in Talons Frage.

    »Wenn Gerrit uns hilft, warum sollen wir es nicht auch können?«

    »Hah! Der! – Von dem Zwerg lasse ich mir nichts erzählen!« Heftige Röte zog über Talons Gesicht. Aber nur kurz. Die Gruppe blieb stehen.

    »Erzählen wird er es nicht, aber zeigen kann er es uns, nicht wahr?« Sie wandte sich um und zwinkerte ihm zu. Gerrit ging auf Talon zu. Langsam schaute er zu Talon auf, der fast zwei Köpfe größer war. Talon steckte die Fäuste in die Hüften. Standhaft sah Gerrit ihm in die Augen. Farie meinte, die Spannung zwischen den beiden knistern zu hören. Kaum merklich machte Gerrit eine nickende Kopfbewegung.

    »Soll das ja heißen?« Talon blies ihm mit seinen Worten den Atem entgegen.

    »Natürlich!« Farie musste einer Auseinandersetzung zwischen Talon und Gerrit verhindern. Nur zu gern demonstrierte Talon seine Kraft. Und das ausgerechnet jetzt, wo Gerrit anfing, aufzutauen. »Wir müssen nun aber wirklich vorankommen«, sagte sie.

    Den ganzen Vormittag marschierte die Gruppe weiter durch den Wald. Die Kinder vorneweg, dann Farie und zum Schluss Gerrit, der ihr auffallend leise folgte, sodass sich Farie ständig nach ihm umsah.

    Farie erfreute sich an dem satten Grün der Laubbäume, am Moos auf den umgefallenen Baumstämmen, welches sich wie ein grüner Teppich über ihnen und auf dem Waldboden ausbreitete. Nach einem guten Stück Weg veränderte sich das Bild. Moose und Farne verschwanden. Sie machten dem heruntergefallenen Laub der vergangenen Zeit Platz. Durch das dichte Blattwerk der Rotbuchen fielen nur vereinzelte Sonnenstrahlen auf den Weg.

    Die Mittagszeit war längst vorüber, als sie schließlich das Dorf erreichten. Der riesige, aus Felssteinen gemauerte Brunnen auf dem Anger war für die durstigen Wanderer ein Segen. Endlich konnten sie etwas trinken. Mehr als sechs Marktstände hätten sich um die Wasserstelle herum aufreihen können, aber nur drei Stände waren aufgebaut. Ein Korbmacher, ein Sattlermeister und ein Brotstand. Eine Töpferin verkaufte Tongefäße, die sie einfach am Wegesrand verteilt hatte. So boten verschiedene Leute ihre Waren an. Auch ein Bogner suchte nach Kundschaft für seine Bogen und Pfeile.

    »Ihr wartet hier. Ich bin gleich zurück.« Farie ließ die Kinder am Brunnen stehen. Sie eilte zum Wirtshaus am Anger, während sich die Kinder über den Rand des Wasserbeckens beugten, um zu trinken.

    Gerrit sah den anderen zu, wie sie sich Wasser ins Gesicht schaufelten, wodurch ihm sein eigener Durst richtig bewusst wurde. Neben Talon war noch genug Platz. Langsam ging er auf diese Stelle zu.

    Talon schaute auf. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich das Wasser mit dir teile, du stummer Wurm!«

    Gerrit hob sein Kinn ein Stück in die Höhe und sah Talon standhaft in die Augen. Dabei nickte er.

    »Pah! Was glaubst du denn, wer du bist!« Talon verpasste ihm einen kräftigen Tritt in die Nierengegend. Gerrit fiel unsanft zu Boden. Mit einem zufriedenen Gesicht beugte sich Talon zum Trinken über den Rand. Nach einem Schreckmoment rappelte sich Gerrit auf. Er packte Talon an den Füßen, riss diese nach hinten, sodass Talon kopfüber in den Brunnen plumpste. Erschrocken starrten die Kinder Gerrit an. Talon zappelte wild mit den Armen. »Hilfe!«, schrie er verzweifelt. Sein Kopf blieb einen Augenblick unter Wasser, tauchte mit dem nächsten Zappelversuch erneut auf. »Hilfe!« Der Junge hatte zwar ein großes Maul, aber schwimmen konnte er offensichtlich nicht. Gerrit stieg auf den Rand und sprang ins Wasser. Er legte seinen Arm um Talons Hals und zog ihn an den Brunnenrand. Tropfnass kletterten beide auf die Steine. Sie musterten sich gegenseitig. Talon hustete kurz, schien jedoch erleichtert. Zorn blitzte in seinen Augen auf. Gespannt, was sich Talon für ihn als Rache ausdenken würde, blieb Gerrit noch einen Moment sitzen. Ein Lächeln überzog Talons Gesicht. Gerade als Gerrit dieses erwidern wollte, stieß ihn Talon mit einem Fußtritt wieder ins Feuchte zurück. Jedenfalls fiel diese Landung diesmal weicher aus. Nass war er ohnehin.

    »Meine Anerkennung, Kleiner!«, hörte Gerrit eine dunkle Stimme, als er die Hände auf den gemauerten Rand legte. Mit einem Griff unter die Achseln hob ein kräftiger, gut gekleideter Mann Gerrit mit Leichtigkeit aus dem Wasser. »Meinst du nicht«, wandte er sich Talon zu, »es ist genug für heute? Ich beobachte euch, seitdem ihr hier angekommen seid. Nennt mir eure Namen!« In seinem Blick funkelte ein merkwürdiges Leuchten auf.

    »Ich bin Talon. Und der da«, dabei zeigte Talon mit dem Finger auf Gerrit, »der kriegt seinen Mund nicht auf.«

    »Den ganzen Tag hackst du nur auf Gerrit herum!« Siena ging an Talon heran.

    »Das mit dem Reh, das war doch Zauberei!« Talon warf einen verächtlichen Blick zu Gerrit.

    »Was war mit dem Reh?«, fragte der Fremde.

    Talon stierte Gerrit noch immer an. »Der schleicht sich an Rehe heran und streichelt sie!«

    »So?« Der Fremde schwenkte seinen Blick über die Gruppe. »Woher kommt ihr?«

    Siena machte einen Knicks. »Wir wohnen im Kloster bei den Selenoriten.«

    »Aha, im Kloster. Gut zu wissen. Vielleicht sieht man sich wieder.« Der Mann drehte sich um und verließ den Anger.

    Die beiden Jungs kletterten vom Rand der Zisterne. Gerrit schüttelte seinen Kopf, um wenigstens seine Haare etwas trocken zu bekommen. Er sah an sich herunter auf den kleinen See, der zu seinen Füßen entstand.

    »Zieh mal das Hemd aus!« Siena half Gerrit, die nasse Kleidung auszuziehen. So gut es ging, wrang sie das Hemd aus. »Wenn Farie zurückkommt, wird sie sehr enttäuscht von euch sein!«

    »Damit hast du recht, Siena!« Farie klang leicht wütend. »Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«

    »Der hat mich ins Wasser geschubst.« Talon zeigte auf Gerrit.

    »Ja«, Siena breitete Gerrits Hemd auseinander. »Nachdem du ihn kräftig mit dem Fuß getreten hattest, als er auch trinken wollte. Und als er dich aus dem Wasser gefischt hatte, hast du ihn noch mal hineingeschubst.«

    »Halt!« Farie hob ihre Hände. »Wer hat hier wen aus dem Wasser geholt?«

    »Gerrit hat Talon aus dem Wasser gezogen.« Siena reichte Gerrit sein Hemd zurück.

    »Talon kann doch nicht schwimmen.« Lunia wickelte sich eine Locke um ihren Zeigefinger.

    »Ihr könnt doch alle nicht schwimmen!«, fauchte Talon in die Runde.

    »Ihr seid mir richtige Mondkämpfer!«, lachte Farie, schon wieder etwas besserer Laune. »Für euch beide kommt ein Dorfbesuch in nächster Zeit jedenfalls nicht in Frage. Ich hatte euch für wesentlich vernünftiger gehalten.« Ihr Blick wechselte von Talon zu Gerrit, dann wandte sie sich den anderen zu. »Ich muss noch weiter.« Farie seufzte. »Hoffentlich holen die zwei sich nicht eine Erkältung weg.« Sie reichte Siena ein Tuch, in dem etwas eingewickelt war. »Bevor wir zurückgehen können, muss ich hier noch einige Dinge klären. Teile das Brot auf. Aber geht in die Sonne, damit die Mondkämpfer sich etwas aufwärmen können. Gib Acht, dass nicht abermals Streit ausbricht.« Mit diesen Worten verschwand Farie auf dem Anger zwischen den Händlern.

    Siena ging auf den Holzstamm zu, der etwas abseits vor einem Haus lag. Sie teilte den Laib unter den Kindern auf. Mit den letzten beiden Stücken setzte sie sich neben Gerrit auf das Holz. »Hier, lass es dir schmecken!« Sie schaute ihm dabei in die braunen Augen und flüsterte: »Du kannst bestimmt sprechen, stimmst?«

    Gerrit nickte.

    »Warum tust du es dann nicht?« Siena wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen, deshalb sprach sie leise. Gerrit öffnete seine Lippen, als wolle er etwas sagen. Er atmete ganz tief und sah Siena mit seinen großen Augen an. In diesem Blick lag viel Traurigkeit.

    »Hast du vielleicht etwas gesehen, das dir die Sprache verschlagen hat?«

    Er senkte sein Haupt und schluckte hart.

    Siena nahm seine Hand. »Du wirst sie schon wiederfinden. Irgendwann. Lass dir Zeit.« Wie zur Kontrolle schaute sie zu den anderen, die genüsslich auf ihrem Brot herumkauten.

    »Ich glaube, Talon hat sich beruhigt. Tut dir deine Seite von dem Tritt noch sehr weh?«

    Gerrit schüttelte den Kopf.

    »Lass mal sehen!« Siena wollte sein nasses Hemd hochschieben. Doch Gerrit wehrte ab. Er stand auf und entfernte sich ein Stück.

    »Er ist ein eigenartiger Zwerg.« Wieder wickelte Lunia sich eine ihrer langen Locken über den Zeigefinger.

    Siena sah ihm nach. »Ich glaube, Gerrit ist nur traurig.«

    Es verging mehr Zeit als geplant, bis Farie zu ihrer Gruppe zurückkehrte. Siena beschäftigte die Kinder mit dem Spiel ›Nüsse kullern‹. Talon sah ihnen nur gelangweilt zu. Am Ende des Holzstammes, abseits des Geschehens, saß Gerrit.

    Lunia traf mit ihrer Nuss gleich zwei andere Haselnüsse, worauf sie hin hüpfte, um die drei Nüsse einzusammeln.

    »Hat es wieder Streit gegeben? Warum sitzt Gerrit dort hinten?«, wollte Farie wissen.

    »Nein. Es gab keinen Streit.« Siena warf einen kurzen Blick zu Gerrit. »Ich hatte mich mit ihm unterhalten und habe vermutlich etwas Falsches gesagt. Auch wenn ich nicht weiß, was es war.«

    »Ist schon gut, Siena. Wir sind eben alle unterschiedlich und das ist auch richtig so. Den einen können wir besser verstehen und den anderen nicht so. Sei nicht traurig.«

    Farie winkte die Kinder zu sich. Gerrit kam als Letzter dazu.

    »Wir müssen jetzt unverzüglich zurück, es hat alles länger gedauert, als ich gedacht hatte.« Farie schaute zum Himmel. »Ich möchte ungern im Dunkeln durch den Wald.«

    Eiligst sammelten die Kinder ihre Haselnüsse ein und folgten Farie aus dem Dorf über die Wiese zum Wald. Erneut sah Farie zur Sonne. Ihr war bewusst, dass sie das Kloster nicht mehr bei Tageslicht erreichen konnten. Vielleicht war es nachts ja gar nicht so gruselig im Wald, wie sie es in Erinnerung hatte. Um die Kinder nicht zu verängstigen, sollte sie sich bemühen, ihre Bedenken nicht nach außen dringen zu lassen. Sie mussten immer nur einfach weitergehen. Überraschend zügig kamen sie voran.

    »Komm Gerrit, geh bitte vor mir!« Farie schob ihn vor sich her. »Ich höre keinen deiner Schritte. Das macht mich nervös.« Er war noch nicht einmal zurückgefallen oder hatte sich am Wegesrand von etwas ablenken lassen, so wie Farie es sonst von den kleineren Geistern kannte.

    So gut sie auch vorankamen, die Sonne marschierte unnachgiebig auf den Horizont zu. Bald fielen die Strahlen, unterbrochen von den Baumstämmen, waagerecht von der Seite. Es wurde merklich kühler im Wald. Die Vögel schienen den Abend mit einem lauten Konzert zu begrüßen. Das Licht nahm mit jedem Schritt weiter ab, die feuchte Kälte dafür zu. Für Talon und Gerrit in ihrer klammen Kleidung eine harte Strafe. Aber Farie konnte es nicht ändern, so leid es ihr tat Gerrit zittern zu sehen. Zunehmend wurde es dunkler, bis der erste Ruf eines Käuzchens durch den Wald hallte.

    »Farie! Es ist fast dunkel.« Sienas Stimme zitterte. »Was tun wir jetzt?«

    »Wir haben doch unsere Monde, sie werden uns helfen, den Weg zu finden.« Farie blieb stehen. Die Weggabelung, vor der sie standen, erschien ihr ganz fremd. Hatten sie sich verirrt? Sie wandte sich um, hoffte, etwas Vertrautes zu erkennen.

    »Ich glaube, wir müssen dort entlang.« Talon zeigte in Richtung des roten Mondes. Der Ruf eines Uhus klang unheimlich zwischen den Bäumen wider.

    »Nein! Geradeaus«, entgegnete Lunia.

    »Halt! Wartet mal. Ich …« Farie drehte sich einmal um sich selbst. Sie hatte keine Ahnung, welche Weggabelung sie erreicht hatten und ob sie hier oder erst bei der nächsten Gabelung abbiegen mussten. Plötzlich ergriff eine kleine Hand die ihre und zog sie in Richtung des weißen Mondes. Erneut hallte der Ruf eines Käuzchens durch den Wald.

    »Auf die Orientierung von diesem merkwürdigen Zwerg«, Talon steckte seine Fäuste in die Hüften, »sollten wir uns lieber nicht verlassen.«

    »Gerrit scheint aber ganz sicher zu sein.« Farie schaute ihm ins Gesicht, welches sie in der Dunkelheit kaum noch erkennen konnte. Er nickte.

    »Hier!« Talon wies in seine Richtung. »Das ist der richtige Weg.«

    Farie strich über ihren Mund, während sie nachdachte. Gestern Nacht, als die Gestalt das Baby brachte, stand der weiße Mond hinter dem Kloster. Von hier aus gesehen müsste die Richtung des weißen Mondes demzufolge nach Hause führen. »Wir folgen dem weißen Mond.«

    Der Kauz rief erneut seinen Namen. Farie nahm Gerrit und Lunia an die Hände.

    »Wenn wir uns verirren, dann bin ich wenigstens nicht schuld.« Talons Stimme klang fest. Er schien keine Angst zu haben.

    »Lasst uns alle an die Hände fassen, so kann niemand verloren gehen und wir bleiben zusammen!« Farie versuchte, sich mit ihrem Blick auf die Kinder und den Weg zu konzentrieren. Die Bäume wirkten auf sie wie riesige Monster, die mit ihren Astklauen nach ihnen zu greifen drohten. Die Geräusche der Nachtvögel waren ihr vertraut, aber diese Dunkelheit jagte ihr Angst ein. Hin und wieder glaubte sie, ein leises Knacken zu hören.

    Lucias Stimme zitterte auffallend. »Farie? Sind das vielleicht Rehe, die uns folgen?«

    »Nein! Es sind Waldmonster, die uns …«

    »Halt den Mund, Talon! Es ziemt sich nicht, den Mädchen Angst zu machen.« Farie bemühte sich um einen festen Ton. »Es wäre mal ein netter Zug von dir, wenn du dich uns gegenüber etwas galanter verhalten würdest.«

    »Schon gut. Es sollte nur zur Belustigung dienen.«

    »Belustigung?« Der Bengel hätte eine Ohrfeige verdient. »Eigenartig, dass niemand darüber lachen kann.«

    »Wir gehen ja auch den falschen Weg.« Talon seufzte hörbar. »So kommen wir nie im Kloster an.«

    »Und wenn Talon recht hat, Farie?« Sienas Stimme zitterte ebenfalls.

    »Wir werden sehen.« Wirklich überzeugt war Farie nicht, aber Gerrit zog sie mit sicheren Schritten vorwärts, sodass ihre Zweifel verflogen. Inzwischen war es noch dunkler geworden. Nur die beiden Monde blinzelten durch die Baumkronen und erlaubten eine Orientierung.

    »Ich habe Angst!« Lunia drückte ihre Hand.

    »Das brauchst du nicht. Ich lasse dich nicht los.« Farie meinte, ein Stück voraus ein Licht zwischen den Baumstämmen zu erkennen.

    »Dort vorn ist ein Licht!« Die Stimme von Siena klang etwas belegt. Lunia presste Faries Hand fester, während Gerrit seinen Griff löste. Jetzt erkannte Farie den Klostergarten hinter den letzten Baumreihen. Das Licht kam von den Kerzen aus der Kapelle, wo zu dieser Zeit das Abendgebet abgehalten wurde.

    Ein Stein fiel Farie vom Herzen. »Wir haben es geschafft! Hoffentlich ist noch eine Kleinigkeit vom Abendmahl für uns übrig geblieben.«

    »Mein Weg wäre kürzer gewesen.« Talon rannte auf das Klostertor zu.

    BESUCH

    Die Regenperioden kamen und gingen. Es verstrich kein Tag, an dem sich Talon und Gerrit nicht stritten. Während Talon ihn nur verbal angriff, gab es für Gerrit kaum eine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Er konnte sich nur mit Gesten oder mit seinen Fäusten wehren. Talon war nicht nur älter und größer, er war auch wesentlich kräftiger gebaut als Gerrit. Blutende Nasen und kleine Platzwunden standen auf der Tagesordnung, wobei Gerrit trotz der körperlichen Unterlegenheit nur wenige Blessuren davontrug. Je aufbrausender Talon wurde, desto geschickter wich ihm Gerrit aus.

    Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Dorfbewohner durfte Siena weiterhin im Kloster wohnen, was für Farie eine enorme Erleichterung war. Abgesehen von der Unterstützung für die Kleinkinder gelang es Siena als Einziger, eine drohende Auseinandersetzung zwischen den beiden Mondkämpfern im Keim zu ersticken.

    Der schrille Klang der Feuerglocke riss Farie aus dem Schlaf. Ihr erster Gedanke war, die Kinder zu retten. Sofort hastete sie aus ihrer Kammer eine Etage tiefer zu den Kinderschlafräumen. Talon stand bereits mit den Jungen auf dem Flur. Einige husteten heftig. Der beißende Rauch kam direkt aus ihrem Schlafraum.

    »Sehr gut, Talon! Bring alle raus, am besten in den Klostergarten!« Farie zog sich den Stoff vom Ausschnitt ihres Nachtkleides über Mund und Nase. Talon drängte seine Gruppe die Treppe hinunter. Unbewusst zählte Farie ihre Sprösslinge durch, ob auch wirklich alle acht Jungen in Sicherheit waren. Sieben? – Wer fehlte? – Gerrit!

    »Wo ist Gerrit?« Farie hörte ihren schnellen Herzschlag.

    Talon wandte sich nicht um, zuckte nur mit den Schultern und ging mit den anderen nach unten.

    Am Ende des Flurs erkannte Farie im zunehmenden Rauch, wie die Mädchen die Kleinkinder aus den Räumen brachten. War Gerrit etwa noch im Schlafraum? Sie wagte einen Schritt in den Raum, erfasste vage Umrisse einer sitzenden Gestalt im dichten Qualm. Es konnte nur Gerrit sein! Die wachsenden Flammen näherten sich ihm unaufhörlich. »Raus! Zum roten Mond!« Er bewegte sich noch immer nicht. »Lauf zum Fenster!«, schrie Farie. Gerrit sah aus, als sei er zu Stein erstarrt. Das Feuer kroch auf seine Bettstatt zu. Wenn sie nicht zusehen wollte, wie er bei lebendigem Leibe verbrannte, musste sie jetzt handeln! Farie riss die nächste greifbare Bettdecke an sich und bahnte sich einen Weg zu Gerrit, indem sie das Leinen auf die Flammen schleuderte, um sie zu ersticken. Mit vier Decken gelangte sie an sein Bett.

    Steif wie ein Brett saß er da. Seine Augen sowie sein Mund standen weit offen, als sei sein Schrei im Entstehen erfroren. Keine Regung deutete auf Leben in seinem Körper, er schien Farie nicht mal wahrzunehmen. Neben seinem rechten Unterschenkel züngelten die ersten Flammen bereits am Bett empor. Farie sah kurz zurück. Vorn am Eingang fingen ihre ausgelegten Bettdecken gerade Feuer. Sie zerrte die Decke von Gerrits Leib, packte ihn unter den Achseln und warf ihn sich über die Schulter. Für die zierliche Farie war Gerrits schlanke Figur dennoch schwer genug. Eine Herausforderung, der sie sich in dieser Situation stellen musste. So rasch es ihr mit ihrer leblosen Last möglich war, rannte sie auf die offenstehende Tür zu. Auf dem verqualmten Flur tastete sie sich die Treppen hinunter, versuchte, für den Moment ihren Atem anzuhalten.

    Draußen im Garten hustete sie mehrmals.

    »Wer hier nicht gebraucht wird, hilft beim Löschen! Schnell!« Wild fuchtelte die Äbtissin mit ihren Armen durch die Luft.

    Als Farie Gerrit auf den Boden gleiten ließ, kam Siena sofort dazu. »Was ist mit ihm? Er sieht so seltsam aus!«

    Farie bemerkte, wie blass Gerrit aussah. Sie legte ihr Ohr dicht an seinen Mund. »Er atmet nicht!« Sie stemmte sich mit ihren Händen auf Gerrits Brustkorb und drückte ihn fest, aber dennoch vorsichtig hinunter.

    Siena schlug Gerrit auf die Wange. »Komm schon, atme! Bitte Gerrit!«

    Endlich rang er nach Luft. Keuchend und hustend setzte er sich auf. Seine Lippen schienen etwas sagen zu wollen.

    Siena nahm seine Hand. »Das war es, was dich so erschreckt hat. Feuer, nicht wahr?«

    »Ich – ich – hab – mich nicht bewegen können. Keine … Luft«, stammelte Gerrit seine ersten Worte.

    »Den Monden sei Dank!« Faries Blick fiel auf seinen rechten Unterschenkel. Die Haut war handflächengroß verbrannt. »Siena! Hol aus der Küche Blutwurzsud. Den gibst du auf ein Tuch und legst es Gerrit auf sein Bein.« Farie zeigte auf Gerrits Wunde. Siena folgte mit ihrem Blick, sah dann aber schnell zur Seite. Sie presste die Hand auf ihr Herz und schluckte hart.

    »Bitte Siena! Das muss sofort versorgt werden. Ich muss beim Löschen helfen.«

    Der Brand konnte mithilfe einer Wassereimerkette und dichten Decken gelöscht werden. Der Schlafraum der Jungen war danach unbewohnbar. Das Feuer hatte sämtliches Mobiliar vernichtet. Von den rußverschmierten Wänden abgesehen waren die Dielen an manchen Stellen nicht mehr tragfähig. Die Äbtissin teilte die Jungen auf mehrere kleinere Kammern auf, die früher einmal von Klosterschwestern bewohnt worden waren. Während die Zahl der Zöglinge im Kloster zunahm, hatte sich die der Schwestern verringert. Farie hatte gern die Aufgabe übernommen, sich um die Kinder zu kümmern. Um den beschädigten Raum wieder herzurichten, fehlten die Mittel. Weder das Holz für einen neuen Fußboden noch die Arbeit des Tischlers konnte die Vorsteherin bezahlen. Aber auch das hatte einen Vorteil: Gerrit und Talon schliefen von nun an in getrennten Stuben.

    Kurze Zeit darauf sah Lunia einen kräftigen, gut gekleideten Mann durch den Klostergarten gehen. Er ging auf die Äbtissin zu. Seine großen, hellbraunen Augen glänzten geheimnisvoll. Die buschigen Augenbrauen und seine breite Nase machten Lunia Angst.

    »Ich komme in einer Angelegenheit zu Euch, die uns beiden recht hilfreich sein wird.« Mit diesen Worten überreichte er der obersten Schwester ein Säckchen. Dem Geräusch nach waren darin bestimmt Goldstücke. Viele Goldstücke.

    »Die Monde werden es Euch vergelten.« Die Äbtissin neigte zum Dank ihren Kopf.

    »Wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, seid Ihr äußerst dankbar, wenn Eure Kinder eine Ausbildung erhalten.«

    Lunia mochte den Mann nicht. Die Vorstellung, bei ihm zu wohnen, ihn vielleicht bedienen zu müssen, missfiel ihr sehr.

    »Ihr verfügt über eine Möglichkeit, einem meiner Kinder eine Ausbildung zu gewähren?«

    Der Äbtissin konnte es ja egal sein. Hauptsache, sie war einen von ihnen los.

    »Nein, nicht ein Kind. Ich nehme fünf Kinder in meine Obhut. Jedoch habe ich eine Bitte.«

    Wie selbstsicher er das sagte!

    »Sie sei Euch gewährt.« Die Vorsteherin schaute sich um, welcher ihrer Sprösslinge gerade anwesend war.

    »Ich wähle die Kinder selbst aus. Sie erlernen bei mir besondere Fertigkeiten, für die sie gewisse Voraussetzungen benötigen.« Bei dem dunklen Klang seiner Stimme kroch Lunia ein Schauer über den Rücken.

    »Nun, dann werde ich die Kinder versammeln und Ihr werdet Euch entscheiden. Spielt das Alter der Kinder eine Rolle?«

    »Neun oder zehn Regenperioden sollten sie bereits hinter sich haben und ich bevorzuge Knaben.« Bei seinen Worten fiel Lunia ein Stein vom Herzen. Sie musste ihn also nicht fürchten.

    »Lunia!« Die Äbtissin sah zu ihr. »Du hast gehört. Sorge bitte dafür, dass sich die Jungen ab neun Sommern im Garten einfinden!«

    Lunia nickte und eilte zu Farie in die Küche. Sie berichtete ihr von dem unsympathischen Besucher sowie seinem Angebot.

    Farie riss ihre Augen weit auf. »Ich werde Gerrit hier in der Küche beschäftigen. Er darf nicht fortgehen! Geh und sag den anderen Bescheid!«

    Mit erhobenem Haupt stolzierte der Mann siegessicher wie ein Hahn an seinen Hühnern vorbei. Er musterte die aufgereihten Jungen von oben herab. Vor dem Größten blieb er stehen. »Talon, nicht wahr? Wir hatten bereits das Vergnügen, uns kennenzulernen.«

    »Ja, damals am Brunnen. Ich erinnere mich an Euch.« Talon nickte.

    »Gut, dass du dich erinnerst.« Am Ende der Reihe wandte sich der Mann zur Äbtissin um.

    »Wo ist Gerrit? Ich kann ihn nicht entdecken.«

    Die Äbtissin klatschte in die Hände. »Lunia?« Ihr Rufen wurde energischer. »Lunia!«

    Die rührte sich nicht. Sie hatte sich im Gebüsch versteckt, denn sie wollte nicht schuld sein, wenn Gerrit das Kloster verlassen musste.

    »Lasst nur! Ich werde mich erst einmal mit den anwesenden Knaben unterhalten.«

    Intensiv schaute er einigen in die Augen, andere fragte er nach ihrem Namen. Drei Mal ging er die Reihe auf und ab. »Meine Entscheidung ist gefallen, verehrteste Äbtissin.« Er lächelte zufrieden.

    »Bitte folgt mir! Hier sind zu viele Zuhörer.« Sie führte den Mann in ihr Kontor.

    Lunia schlich sich unter das Fenster und lauschte dem Gespräch.

    »Verzeiht, Herr …? Wie war doch gleich Euer Name?« Wo die Vorsteherin sonst viel Wert auf Anstand legte, hätte ihr auffallen müssen, dass der Mann sich gar nicht vorgestellt hatte.

    »Vamun. Mein Name ist Vamun. Ich bezog vor einiger Zeit eine herrliche Burganlage ungefähr drei Tagesreisen von hier entfernt. Dort werden auch die Knaben untergebracht sein.«

    »Die Ausbildung, von der Ihr spracht – was werden die Kinder erlernen?« Die Äbtissin klang übertrieben freundlich. So hatte Lunia sie noch nie erlebt.

    »Seht, Verehrteste, wir haben doch vieles gemeinsam – das Kloster und ich. Ihr verehrt das Zusammenspiel der Monde. Ich mache mir die Energie des roten Mondes zunutze. Die Jungen werden lernen, mit dieser Kraft umzugehen. Außerdem gehören zum Unterricht Pflanzenkunde, Tierkunde und das Schreiben selenorischer Schriftzeichen, um nur einige Dinge zu nennen. Ich denke, dass ich sie zu ganz besonderen Geschöpfen erziehen kann.«

    »Die Kinder werden von uns mindestens einmal nach der Regenperiode aufgesucht. Aber das wird Euch sicherlich keine Schwierigkeiten bereiten, nicht wahr?«

    »Die Knaben können jederzeit von Euch besucht werden.« Eine kleine Pause folgte. »Meine Auswahl habe ich getroffen und möchte Euch darum bitten, die Jungen reisefertig zu machen.«

    »Gewiss doch. Welche Buben habt Ihr gewählt?«

    »Hanar, Ramou, Erylan sowie Talon und Gerrit.«

    Als Lunia Gerrits Namen hörte, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Woher wusste dieser Mann von Gerrit? Und wie sollte sie das Farie beibringen? Vorsichtig verließ sie ihren Lauschposten und eilte in die Küche. »Farie!« Lunias Herz klopfte heftig. »Er hat ihn ausgewählt. Er wird mit ihm gehen.«

    »Was? Wer hat wen ausgewählt?« Farie sah Lunia fragend an.

    »Ich habe das Gespräch belauscht.« Lunia sah kurz zu Gerrit. »Der Mann heißt Vamun.«

    Ein sichtbares Zucken ging bei diesem Namen durch Gerrit.

    Auch Farie war das wohl aufgefallen. »Gerrit? Was ist?«

    Er schüttelte kurz den Kopf und ging ohne ein Wort aus der Küche.

    »Farie! Er nimmt Gerrit mit! Gerrit und Talon.« Lunia schluckte.

    »Warum Gerrit? Er war doch gar nicht dabei?« Farie rieb sich das Gesicht.

    »Ich erinnere mich an diesen Mann. Er kam damals an den Brunnen im Dorf, wo Talon und Gerrit ihren ersten Streit hatten. Er hatte sich nach ihren Namen erkundigt, wollte wissen, wo wir herkommen und dann sagte er, wir würden uns wiedersehen. Ich habe nicht mehr daran gedacht, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Er hatte Talon und Gerrit zu jener Zeit so eigenartig gemustert.«

    »Lunia, was können wir tun? Talon geht manchmal wie ein roter Monddrache auf Gerrit los. Nicht auszudenken, wenn dieser Vamun mit den beiden nicht richtig umzugehen weiß!« Farie sah verzweifelt aus.

    Die Klostervorsteherin brachte Vamun gerade hinaus zum Garten, als sie und Farie förmlich zusammenprallten. »Farie?« Die Äbtissin schien die Dringlichkeit der Jüngeren zu spüren.

    »Bitte, oberste Schwester. Habt Ihr einen Augenblick Zeit für mich?« Faries Mund war trocken.

    »Entschuldigt uns für einen Moment! Die Mädchen aus der Küche werden Euch gleich eine Mahlzeit bringen.« Die Äbtissin bot Vamun einen Platz auf der Gartenbank an und zog sich dann mit Farie in ihr Kontor zurück.

    »Verzeiht, oberste Schwester, aber Gerrit …«

    »Natürlich! Faries Liebling! Farie, es geht hier nicht um dich, sondern um die Kinder. Sie bekommen eine einzigartige Möglichkeit, sich einer Ausbildung zu unterziehen. Die werde ich ihnen nicht verweigern. Du weißt doch am besten, dass Gerrit außergewöhnliche Fähigkeiten besitzt. In unserem Kloster können wir ihm kaum etwas bieten, um sich zu entfalten.«

    »Darum geht es ja gar nicht. Der Mann, der Gerrit damals herbrachte, sagte, er würde ihn wieder zu sich holen, sobald es ihm möglich ist. Ich habe ihm versprochen, auf ihn achtzugeben. Wie soll ich meinem Versprechen nachkommen, wenn Gerrit fortgeht?«

    »Meine gute Farie! Das ist inzwischen über fünf Regenperioden her. Die Goldstücke aus jener Zeit sind längst aufgebraucht. Herr Vamun war äußerst großzügig. Außerdem haben wir die Aussicht, die Kinder regelmäßig zu besuchen. Falls dieser Mann von Gerrit wirklich einmal auftauchen sollte, brauchen wir ihn nur zur Burg zu schicken.« Die Äbtissin nickte ihr kurz zu und ging hinaus. Diesen Argumenten konnte Farie nichts entgegensetzten. Als sie im Garten an dem Mann vorbeiging und ihm in die Augen schaute, lief es ihr kalt den Rücken herunter. Er sah freundlich und gepflegt aus, woher kam nur diese Empfindung?

    Mit großer Eile kam ein Reiter aus dem Wald auf das Kloster zu. Hastig sprang er von seinem Pferd und rannte sogleich auf Vamun zu, um ihm ein Dokument zu übergeben. Nachdem Vamun diese Nachricht gelesen hatte, runzelte er die Stirn. Er stand auf.

    »Verehrteste, ich bin untröstlich! Aber es gibt einige Dinge, die meine Anwesenheit auf meiner Burg erfordern«, wandte er sich der Äbtissin zu. »Ich lasse Euch meinen Boten hier, er wird die Knaben zu meiner Burg geleiten. Wenn es Euch nicht zu viel Mühe macht, würde ich es begrüßen, wenn Ihr eine Eurer Schwestern als Begleitung entbehren könntet.«

    »Natürlich!« Die Klostervorsteherin neigte ihren Kopf. »Ich werde sie morgen früh gleich losschicken.«

    »Morgen früh erst? Nun denn, so soll es sein. Lebt wohl!« Vamun verbeugte sich, stieg aufs Pferd und ritt im schnellen Galopp davon.

    »Geht in die Küche!« Die Äbtissin sah zu dem Boten, »Dort lasst Euch etwas zu essen geben!«

    »Dürfte

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