Erleben
Von Philipp Wohlwill
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Über dieses E-Book
Dieses Buch entführt Sie aus Ihrem Alltag. Entdecken Sie Neues aus fremden Blickwinkeln: Eine Wiedergeburt in einem Bergsee, dunkelbunter Drum ‘n‘ Bass, die Fernbedienungswichtel. Erleben Sie Heldentum und überleben Sie die Energiewende. Werden Sie vom Dieb zum Apfelbauern und verlieren Sie die Kontrolle. Sie erfahren, wie relativ Zeit ist und warum Deutschland mehr Gondeln braucht.
Lesen ist Emotion, erleben Sie es!
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Buchvorschau
Erleben - Philipp Wohlwill
vorbehalten
Wiedergeburt
Salomon irrte durch den Wald. Er war barfuß. Die Dunkelheit wirkte so bedrückend, dass sie ihm den Atem raubte. Jeder einzelne seiner flachen Atemzüge verschlang Unmengen seiner knappen Kraftreserven. Seine Muskeln wurden nur unzureichend mit Sauerstoff versorgt, jeder Schritt wurde zu einer Unternehmung epochalen Ausmaßes. Meter für Meter schleppte er sich in Richtung des ewig gleichen Dunkels. Es schien ohne Anfang und Ende zu sein, ihn fest und schwer zu umschlingen. Wie das Totentuch eine Leiche fesselte ihn die Dunkelheit und ihre Allgegenwärtigkeit raubte ihm die Fähigkeit zu denken. Orientierungslosigkeit lähmte seinen Geist.
Er schleppte sich von einer Baumwurzel zur nächsten. Seine nackten Füße waren von der Baumrinde aufgerissen und blutig. Angenehm quoll Matsch zwischen seine Zehen hindurch und kühlte die geschundenen Extremitäten. Salomon fühlte zwar, dass er auf dem richtigen Weg war, wusste aber nicht genau, ob dieser Weg ein geographischer war.
Wieder blieb er mit einem Fuß an einer Wurzel hängen und fiel vornüber auf die Knie. Sofort spürte er, wie die festen Dreckkrusten auf seinen Schienbeinen begannen, die Feuchtigkeit des Untergrundes in sich aufzunehmen und wieder weich und flexibel wurden. Die Kühle der Erde drang in seinen Körper und ließ ihn tiefer atmen. In der alles umfassenden Dunkelheit sah er vor seinem inneren Auge sich selbst, er sah wie sich sein Gesicht entspannte, weil er fühlte wie sich sein Gesicht entspannte. Jeder Muskel in seinem Körper war angespannt gewesen, warum? Mit der Entspannung veränderte sich die Dunkelheit. Sie breitete sich aus. Hatte er bisher das Gefühl gehabt, sich bloß aus einer dunklen Umarmung befreien zu müssen, wurde ihm nun bewusst, dass auch hinter dem nächsten Baum, dem nächsten Felsen, an der nächsten Biegung und sogar hinter dem Horizont nur Dunkelheit auf ihn wartete. Aber das machte ihm keine Angst, denn dadurch erweiterte sich sein Spielraum. Er war nun ganz in die Dunkelheit eingetaucht und konnte sich in ihr bewegen, anstatt ihr Sklave zu sein.
Mit beiden Händen griff er unter sich in den Schlamm und hob ihn an das Gesicht, er roch übel, nicht nach Erde, er roch nach Tod. Salomon tastete sich weiter und bekam eine Wurzel zu fassen, die er in Richtung ihres dickeren Endes weiter verfolgte, bis er den Stamm erreicht hatte. Er tastete den Baum ab, an einigen Stellen fühlte sich die Rinde seltsam schmierig an und roch metallisch. Etwas lief an den Bäumen herab oder quoll aus ihnen heraus. Salomon nahm ein wenig der dickflüssigen Substanz zwischen seine Finger und rieb sie aneinander. Es war kein Harz, aber auch kein Wasser. Er roch abermals daran, konnte in der Dunkelheit aber nicht erkennen, worum es sich handelte. Salomon fasste sich ein Herz, und berührte die Substanz auf seinen Fingern mit der Zunge.
Es war Blut. Kalte Panik und rasende Verzweiflung erfassten ihn. Der Fluchtinstinkt trieb, doch die Dunkelheit lähmte ihn. Er tastete sich weiter zum nächsten Baum, auch der voll von Blut, am nächsten Baum das gleiche. Was war hier passiert? Er richtete sich an einem Stamm auf und stand einfach da. Dann tastete er sich ab, um sich zu vergewissern, dass das Blut nicht seines war. Wieder stand er einfach da, umgeben von Blut und Dunkelheit, bis er begriff, dass die Bäume selbst bluteten. Aber sie verbluteten nicht, das Blut quoll lediglich als Zeichen ihrer Lebendigkeit aus ihnen heraus. Sie waren lebendig und um ihm das klar zu machen, bluteten sie. Salomons Panik legte sich schlagartig.
Er hatte das Zeichen verstanden und wusste nun, dass er in der Dunkelheit nicht allein war. Er setzte seinen Weg fort. Er akzeptierte die Situation und begann sich bewusst an den Bäumen und ihren Wurzeln zu orientierten, sie zeigten ihm den Weg, geographisch oder nicht. Die Dunkelheit war für ihn jetzt so selbstverständlich wie es das Licht schon immer war. Salomons Kleidung hing schwer an ihm herab, und da es vollkommen dunkel war, begann er sich ihrer zu entledigen. Als er damit gerade anfing, meinte er einen Schimmer Licht vor sich erkannt zu haben, wusste aber sofort, dass es eine Täuschung war. Mit jedem Kleidungsstück, das er ablegte, wurde es heller und heller. Der Abschied von seinen neuen Freunden Dunkelheit und Einsamkeit fiel ihm nicht schwer, denn jetzt war es für ihn immer Tag, ob die Sonne schien oder nicht. Als er vollkommen nackt war, schien die Sonne heiß durch das Blätterdach und Salomon kam an eine Lichtung, die auf einer Seite durch einen schroffen felsigen Abgrund begrenzt war. Wieder stand er einfach einige Zeit da, obwohl er wusste, dass er sein Ziel noch nicht erreicht hatte. Er wusste allerdings auch, dass es eigentlich kein Ziel gab. Er war immer fast am Ziel, es lag immer nur wenige Zentimeter vor ihm. Aber diese wenigen Zentimeter galt es trotzdem zurückzulegen.
Er lehnte sich gegen einen Felsen, den die Witterung rund geschliffen hatte. Die Wärme des Steines trat durch seinen nackten Hintern in seinen Körper ein und schlängelte sich gemächlich und dickflüssig wie das Blut der Bäume seinen Rücken hoch. Sie entspannte die Muskeln und beruhigte die Nerven, die darin endeten. Im Nacken angekommen verteilte sie sich über die Schultern in die Arme und sank träge an ihnen herunter bis in die Hände. Gleichzeitig hatte sie sich durch seinen Hintern in die