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Venusschuh: Roman
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Venusschuh: Roman
eBook183 Seiten2 Stunden

Venusschuh: Roman

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Über dieses E-Book

Plötzlich sah er - und zwar klar und deutlich - diesen ­kleinen unsichtbaren Schuh, der sich in den Schnee gegraben und einen scharfen, unauslöschlichen Abdruck hineingestanzt hatte. An dem Loch, das der schmale Absatz außerhalb des gepfadeten Wegs hinterlassen hatte, erriet man den verzweifelten Willen des Körpers und seinen Drang Richtung Wald.
SpracheDeutsch
HerausgeberRotpunktverlag
Erscheinungsdatum16. Juli 2015
ISBN9783858696731
Venusschuh: Roman

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    Buchvorschau

    Venusschuh - S. Corinna Bille

    C.

    I

    Im Bett der Rhone

    Mit heftigen Schulter- und Kniebewegungen stapfte er über den Deich. Fraglos hatte Martin Lomense mit seinem Gang etwas von einem Zentauren an sich, wenn auch einem unscheinbaren, eher Maultier als Pferd, und zentaurenhaft war auch sein doppelter Blick und sein Hang zu dunklen Erwartungen.

    Bei seinem Anblick ließ ein Kind all das Schwemmholz fallen, das es gesammelt hatte, und eine Elster mit langem Schwanz schrak im Sanddornstrauch hoch. Insgeheim genoss Martin Lomense die lächerlich starke Wirkung seiner Person, die hier in der Einsamkeit und im weichen Widerstand des Sandes besonders zur Geltung kam.

    Seit Tagesanbruch stieg er nun schon am Fluss entlang hinauf. Das kalte Wasser war so nah, dass er es geradezu durch seinen Körper fließen und zwischen seinen Fingern plätschern spürte, doch er schaute kaum hin. Es erfüllte ihn mit Unbehagen. Unmerklich floss es dahin, Schatten mischten sich hinein; es war kaum breiter als ein Bach, den man barfuß hätte durchqueren können. In den kleinen Buchten, wo das von den Deichmauern zurückgehaltene Wasser unbeweglich stand, hatte sich um die Kieselsteine ein Rand aus Eis gebildet. Martin betrachtete lieber die Inseln aus Gestrüpp unterhalb der Böschung, die der Trockenlegung der Sümpfe widerstanden hatten und jenen Gärten tief im Innern der Osterinseln glichen. Dahinein senkte der junge Mann seine schwarzen Augen, die so gewölbt waren, dass sich die blassen Augenlider darüber spannten wie bei einem Vogel. Er konnte dem Verlangen nicht widerstehen, in das Dickicht hinunterzusteigen und das Gras niederzutreten, dem der Reif eine trügerische Festigkeit verliehen hatte. Doch als er sich bückte, um über die Mauer zu springen, blieb auf dem mit Raureif bedeckten Deich der Abdruck seiner linken Hand zurück. Betroffen bemerkte er, dass ein Finger fehlte. Er hatte schon fast vergessen, wie er sich als Kind den Zeigefinger mit einer Axt abgeschlagen hatte. Die Stimmen seiner Eltern waren dabei über seinem Kopf aufeinandergeprallt wie die Stimmen erzürnter Götter. ›Um sich an ihnen zu rächen …‹ Schnell wischte er den Abdruck weg, rührte im Sand und im morgendlichen Schaum, der sich bei der leisesten Berührung auflöste. Er fluchte; dabei riss die kalte Luft auf seinen Lippen die kleinen Schründe vollends ein. So schwieg er. Dann stürmte er los, zerbrach Zweige und Eisschichten. Beschämt von so viel Lärm blieb er stehen und lauschte. Im feuchten Halbschatten der Gehölze, in die die Sonne noch nicht gedrungen war, entströmte den Bäumen am Wasser ein Pfeffergeruch wie am Meer, jener Flechten- und Algenduft, der ihn immer an eine Frau denken ließ.

    Hier hätte er ihr begegnen wollen, an diesem fast unterirdischen Ort mit den verschwiegenen, von Schilf umstandenen Spalten. Nicht einfach ihr begegnen, entdecken wollte er sie, begraben im Schlamm – an diesem Morgen hatte er einen toten Widder gesehen, der halb von Wasserpflanzen bedeckt war –, eine lebende Frau, die er aus dem Boden holen würde, mit den Fingernägeln würde er sie ausgraben und den ganzen Körper freikratzen, dessen Formen sich ihm mehr und mehr darbieten würden. Und die Haut wäre nicht weiß, auch nicht rosa oder braun, sondern quecksilbergrau, wie der Glimmerstaub, der die Dinge färbt.

    Er war allein; allzu schnell gelangte er zu den bebauten Feldern, die auf das Gesträuch folgten und es dann zu einer lächerlichen Hecke zusammenschrumpfen ließen. Die letzten Blätter, schwarz und gelb glänzend wie ein Salamander, hinterließen schmierige Spuren auf seinem Mantel. Eines fiel auf seine Wange, eine zartbraune Wange mit glatter Haut, auf der dicht, wie die den Sand säumenden Brombeerranken, die Stoppeln eines schlecht rasierten Bartes wuchsen. Manchmal befühlte er sich. Seine eigene Wärme, die sich der Kälte entgegenstellte, schuf eine Grenze dazwischen, die ihn seine ganze Körperoberfläche spüren ließ. Er genoss dieses intensive Gefühl. Die sanften Ein- und Ausbuchtungen seines Rumpfs wurden ihm bewusst, und auch die Wölbung seiner Hüften, die ihn mit ihrer unbegreiflichen Weiblichkeit quälte. Von ihnen und von seinen kräftigen Beinen her stammte dieser Gang eines Schützen. In einer Allee von Weidenbäumen suchte er sich eine Gerte aus und rollte sie gedankenverloren um sein Handgelenk.

    Mit dieser Kinderwaffe ausgerüstet stieg er wieder auf den Deich, den bald die Sonne erreichen würde. Das andere Ufer hellte sich schon auf, grell rotbraun und deutlich. Martin Lomense schritt geblendet vorwärts zwischen einem Land des Lichts und einem Land der Nacht, begleitet von dem Engel des Feuers und dem der Finsternis.

    Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, ließ die Sonne den Fluss in den Regenbogenfarben schillern. Da sah er eine Frau, die auf dem Wasser ging. Nur mühsam kam sie voran, die Steine und die Strömung behinderten sie. Der Fluss reichte ihr bis an die Waden und tränkte ihren Rocksaum; sie machte sich nicht die Mühe, ihn hochzuraffen. Obwohl sie einige Male fast ausgeglitten wäre, unternahm sie nicht den geringsten Versuch, das Ufer wieder zu erreichen, sie ging weiterhin die Rhone hinunter, als ob es keinen anderen Weg gäbe. Es war eine ältere Dame mit stolzem, entschiedenem Gang, in der Art der alten Aristokratinnen aus Martins Geburtsstadt.

    »Heh!«, schrie er schließlich, bedauerte es aber sofort, denn sein Rufen hätte die Vision, die ihn da zum Narren zu halten schien, vertreiben können.

    Die Unbekannte wandte sich nicht um. Sie befand sich einige Meter von ihm entfernt. Deutlich sah er ihr spitzes Gesicht und die rosigen Hände, die sich an das dunkle Gewand klammerten. Sie sah verärgert aus, fast böse. Ohne das Gleichgewicht zu verlieren, sank sie noch etwas tiefer ein. Das Wasser reichte ihr nun bis an die Knie. Der junge Mann sah sie schon fallen, aber sie richtete sich wieder auf und folgte unbeirrt würdig ihrem Weg.

    ›Wenn ich hier so tatenlos stehen bleibe, dann wird sie vielleicht für immer verschwinden.‹ Er rannte ans Ufer.

    »Madame!«

    Hörte sie ihn? ›Wenn sie taub ist, muss ich wohl in das Wasser steigen.‹ Diese Aussicht verdross ihn.

    »Halt!«

    Er brüllte. Eichelhäher mit großen blauen Flügeln flogen mit rauem Schrei auf. ›Sogar die Fische müssen mich hören!‹

    Endlich schien die Frau aufmerksam zu werden, zögernd horchte sie auf.

    »Hierher!«, befahl er.

    Er stand dicht am Wasser und streckte die Arme aus; bei der Vorstellung, sie bald zu berühren, zitterte er. Folgsam ging sie auf ihn zu. Ihr Rock kam aus dem Wasser heraus, die Knöchel wurden sichtbar, aber die Beine, die im Fluss so stark gewesen waren, strauchelten, sobald sie das Ufer erreichten. Martin packte die Frau und trug sie bis zur Dammaufschüttung. Sie war nicht schwer.

    Er setzte sie auf einen Erdklumpen und betrachtete sie. Da er damit gerechnet hatte, Worte einer Irren zu hören, war er erstaunt, als sie mit ruhiger Stimme sagte:

    »Ich danke Ihnen.«

    Sie sah ihn nicht an. Wie alt sie wohl war? Trotz einiger Fältchen und blutiger Lippen war ihr Gesicht immer noch schön, geprägt von einer etwas verstörten Würde. Ihre glatten Haare ohne jede widerspenstige Strähne, der sorgfältig zugehakte Stehkragen aus Samt, die mit schwarzem Garn bezogenen Knöpfe an ihrem Bauernmantel, von denen kein einziger fehlte, all das stand im Widerspruch zu dem jammervollen Zustand ihres Rocks, der mit seinem Schlammrand von Wasser triefte, und den groben Schuhen, die Rostspuren auf dem Sand hinterließen. An einer Kordel hielt sie etwas in der Hand, was er zunächst für eine Tasche oder einen Beutel gehalten hatte – es war aber ein ovaler, mit violettem Stoff gefütterter Strohhut.

    Er kniete sich vor sie hin und begann, ihr die Schuhe auszuziehen. Als er sich umwandte, um das Wasser herauszuschütten, zog sie die Strümpfe aus. Er fand sich zwei mageren wachsgrauen Füßen gegenüber, dicht aneinandergepresst, mit langen steifen Zehen.

    Solche Füße des gekreuzigten Christus hatte er auf seinen Wegen oft gesehen; auf einem kleinen Schneesockel aufliegend waren sie Wind und Wetter ausgesetzt. Heute empfand er bei ihrem Anblick das gleiche tiefe Mitleid, doch dieses Mal – und in welch merkwürdiger Situation! – war es ihm gegeben, sie zu wärmen. Aber wie sollte er das anstellen in dieser Einsamkeit, wo es nichts gab, womit er hätte Feuer machen können? Er hüllte sie in ein Stück seines Mantels und rieb sie. Es waren die Füße einer Toten.

    »Ach was«, sagte sie, »das bin ich gewohnt.«

    Sie zeigte keinerlei Müdigkeit und dachte nicht daran, ihren Rock auszuwringen. Ob sich ihre Teilnahmslosigkeit auf Martin übertragen würde?

    Er blickte über die Ebene und hielt Ausschau nach einem Haus, zu dem er dieses der Rhone entstiegene Geschöpf bringen könnte. Aber er sah nichts.

    »Einerlei«, sagte er mit plötzlich grobem Ton, »was haben Sie denn da im Wasser gesucht?«

    Ein leichtes Zittern überlief sie, sie schwieg weiter.

    »Wo wohnen Sie?«, fragte er noch.

    Ohne zu antworten, stand sie auf. Sie war genauso groß wie der junge Mann. Nun gingen sie nebeneinander her, und Martin Lomense spürte die Nachbarschaft dieser Unbekannten wie eine Eiskruste, die jetzt ein Teil von ihm war.

    Am rechten Ufer weideten auf den hellen Abhängen der Hügel Ziegen; junge Burschen sprangen hinter ihnen her und jagten sie. Ihre Schreie, vermischt mit dem rauen Gemecker, versetzten ihn in Erregung. Ach! Wenn ihm diese Ebene gehört hätte, gäbe es dann so viele bebaute Felder, so viele regelmäßig angepflanzte Bäume? Gestrüpp und die Rhone wären wieder die Herren, und die ausgestorbenen Tiere würden sich überall darin herumtreiben. Er stellte sich den Lauf eines Wildschweins im hellvioletten Nebel des Dickichts vor, aus dem sich der weiße Stamm der Birken erhob wie ein sanfter Pfeifton, wie ein Ruf. Blumen und Blätter gäbe es nicht mehr auf der Erde, und trotzdem wäre alles zart, feiner als eine Blume; und die dünnen glänzenden Äste würden die fernen Zweige durchscheinen lassen, so zart wie ein Federkleid.

    »Madame…«, begann er, befangen, mit einer Frau zu sprechen, die vielleicht taub war, »Madame …«

    Ein unwillkürliches Mitleid nötigte ihn zu dieser übertriebenen Höflichkeit. Aber ehe er fortfuhr, pflückte er im Vorübergehen von den kleinen, runden, dunkelvioletten Früchten eines Schlehenbusches, wie Murmeln rollte er sie zunächst in der hohlen Hand, noch traute er sich nicht, sie in den Mund zu stecken. Er warf einen schrägen Blick auf seine Begleiterin. Sie schien sich um ihn nicht mehr Gedanken zu machen als um ihre durchnässte Kleidung. Heimlich steckte er die Schlehen in den Mund; die Kälte traf seine Zähne, seinen Gaumen. Er kannte den bitteren Geschmack dieser Beeren, der nur durch den Frost gemildert wird, und ganz vorsichtig betastete und zerdrückte sie seine Zunge. Schnell schluckte er sie hinunter, kaum dass er sie kaute, um das pelzige Gefühl zu vermeiden. Erst als er seinen gierigen Appetit befriedigt hatte, sprach er mit lauter Stimme: »Wohnen Sie da?« Er zeigte irgendwo vor sich hin.

    »Nein, da nicht.«

    Sie hatte so entschieden geantwortet, dass Martin beschloss, seine Fragen auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. So kamen sie schließlich zu einem dieser verfallenen Bauernhäuser, die einmal wahre Schlösser waren, nun aber Bruchbuden glichen. Ein Torbogen öffnete sich zu einem Hof, in dem verfaulte Kürbisse herumlagen.

    »Hier könnte man Ihnen vielleicht helfen.«

    Sobald sie das verstanden hatte, wandte sie sich ab und lief davon. Wider Willen musste er ihr folgen. ›Sie will vielleicht nicht, dass die Leute sie sehen …‹

    Mit gerunzelter Stirn und blutunterlaufenen Augen stemmte die Alte sich gegen die grelle Helligkeit. Sicherlich wäre sie lieber im Schatten gewesen, am linken Ufer, über dem immer noch ein dichter Nebel lag, durch den kaum die ersten Strahlen drangen. Martin spürte nun kein Mitleid mehr. Er streifte von seinen Schuhen die Eisreste ab, die sich beim Laufen über die Steine daran festgesetzt hatten.

    Den ganzen Deich entlang glänzten die feuchten gelben Gräser, aus den Gärten stieg ein saurer Geruch auf. Auf der anderen Flussseite fuhr ein Zug vorbei – dass sie von den Reisenden gesehen wurden, die weder etwas für noch gegen sie unternehmen konnten, ließ den jungen Mann lächeln. Aber seine aufgesprungenen Lippen, die davon schmerzlich überrascht wurden, erstarrten.

    Ein Pfad führte zwischen rötlichen Spargelbüschen und Maisstoppeln auf ein niedriges Haus zu. Ohne sie um ihre Meinung zu fragen, stieß er die alte Frau über die Schwelle, aber sie wehrte sich und riss sich mit einer derartigen Gewalt los, dass er keuchend zurückblieb.

    »Ich brauche nichts«, sagte sie, »mir ist warm, es geht mir gut.«

    Ohne auf ihn zu warten, ging sie weiter.

    »Wo gehen Sie hin?«, rief er und rannte ihr nach.

    Sie erwiderte: »Gehen Sie Ihrer Wege, wohin auch immer, ich weiß schon, wo ich hingehe!«

    »Ich gehe mit Ihnen …«

    Sie machte keinerlei Anstalten, ihn zurückzuhalten, ermunterte ihn aber auch nicht. Jetzt war sie es, die ihn führte.

    Eine eiserne Brücke überspannte die Rhone. Würde sie an dieser Kreuzung nach links gehen oder nach rechts oder weiter den Fluss entlang? Martins Herz pochte. ›Ich werde sie begleiten, wenn ich auch meine Verabredung versäume.‹ Ihr Dorf? War es eines von den beiden, die man am anderen Ufer sah, von kleinen Wiesen und Weinbergen umgeben, auf denen Hähne und gesprenkelte Hühner herumspazierten? ›Wo sie hingeht,

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