Immer schaut ein Mensch hervor: Erzählungen
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Buchvorschau
Immer schaut ein Mensch hervor - Annette Gonserowski
Die schwarze Muschel
Sie steht auf der Seebrücke und schaut auf das Wasser. Heute hat die See ihre Sanftheit verloren. In rascher Folge branden die Wellen an die Seebrücke. Weiße, schäumende Gischt spritzt hoch gegen die dicken Bohlen, verläuft auf den Brettern und zwischen ihnen hindurch wieder zurück in die See. Der Saum ihrer Hose ist nass geworden. Sie bückt sich, krempelt die Hosenbeine hoch bis zum Knie. Sie schlüpft aus ihren Schuhen, nimmt sie in die Hand und betritt barfuß den Strand. Der feine Sand umspielt ihre Zehen. Sie liebt dieses Gefühl und spürt, wie die Füße in dem Sand versinken, Spuren hinterlassen im Vorwärtsschreiten. Heute ist sie allein am Strand. Die Ferienzeit ist vorbei, die meisten Urlauber sind abgereist. In den Gaststätten in Küstennähe hat man die Tische hereingeräumt, nur wenige Strandkörbe stehen verschlossen am Badestrand, warten darauf, ihren Platz im Winterquartier zu finden. Nur wenige Zimmer der Hotels sind belegt.
Sie liebt diese Jahreszeit, in der der lange Strand menschenleer ist, sich in seiner Einsamkeit ausdehnt bis zum Horizont. Dann beginnt die Zeit, in der sich die Äste der Kiefern im Sturm biegen, ihr Ächzen sich mit dem Tosen der Wellen mischt. Sie liebt es, wenn der Wald in der Nähe der Steilküste zum grünwogenden Meer wird, sich im Regen und Nebel mit ihm vereint
.
Durch das Rauschen der Brandung klingen einzelne Töne eines Saxophons zu ihr herüber, bevor sie von der Brandung verschluckt werden. Der Saxophonspieler geht in einiger Entfernung vor ihr über den Strand. Seine Silhouette hebt sich schwarz gegen die eilig ziehenden Wolken ab. Angestrengt versucht sie die einzelnen Töne zu einer Melodie zu fügen. Es gelingt ihr nicht. Und doch - sie tragen eine Erinnerung zu ihr, die sie längst vergessen glaubte.
Es war vor vielen Jahren, als sie ihm begegnete. Er verbrachte nur wenige Tage in einem der Häuser am Strand. Oben unter dem Dach eines Fischerhauses hatte er ein kleines Zimmer gemietet.
Es war Spätsommer als er ihr zum ersten Mal begegnete, der Sturm tobte wie heute von der See. Da entstieg er den Wellen, schüttelte das Wasser von sich wie ein junger Hund. Mit fröhlichen Augen lachte er sie an: „Kühl heute."
Sie lachte mit ihm.
Am nächsten Tag begegnete er ihr wieder, als sie am Abend in Gedanken versunken am Strand stand und der untergegangenen Sonne nachträumte. Die rosa und silbernen Wellen wiegten den schwindenden Tag, während der Horizont in pastellenen Farben einen neuen Morgen versprach.
Er gesellte sich zu ihr, gemeinsam schauten sie auf die See, sahen die Wellen kommen und gehen. Die aufkommende Abendbrise war voller Worte. Es dauerte nicht lange, da waren sie in ein Gespräch vertieft. Als sie sich später voneinander verabschiedeten, war es, als würden sie sich sehr lange kennen. Keine Fremdheit stand zwischen ihnen.
Am nächsten Tag ging sie mit Herzklopfen an den Strand.
„Ob er wohl auch heute einen Abendspaziergang machen wird? dachte sie und setzte sich in einen der leeren Strandkörbe, der unverschlossen am Saum der See stand. Wenig später kam er. Sie sah ihn nahen, wie er mit federnden Schritten leicht über den Sand lief. Auch er erblickte sie, klopfte leise an den Korb, steckte seinen Kopf von der Seite her hinein. Seine Augen strahlten: „Wie schön, dass ich sie wieder treffe.
Sie rückte ein wenig zur Seite, damit er sich neben sie setzen konnte. Wieder stellte sich nach wenigen Minuten diese unerklärliche Vertrautheit ein, die ihre Worte nur so sprudeln ließ. Als seine Hand wie unbeabsichtigt nach der ihren griff, durchfuhr die Berührung sie wie ein Blitz. Ihr Atem stockte, ihre Wangen glühten in der untergehenden Sonne. Sie hoffte, dass er es nicht bemerken würde.
Am folgenden Tag trafen sie sich wieder. Er brachte sein Saxophon mit und spielte darauf eine Weise voller Sehnsucht und Zärtlichkeit: „You stole my heart. Als die Töne verklangen sagte er leise: „Diese Zeile passt zu dir: „don‘t change your hair, don’t change your smile
, und fügte hinzu: „Weißt du, dass du ein nettes Lächeln hast? Lächeln ist eine starke, positive Kraft."
Daran erinnerte sie sich, als er abreiste und ihre Spaziergänge einsam wurden. Sie vermisste ihn.
Einige Briefe gingen in der folgenden Zeit hin und her, dann wurde der Kontakt weniger und weniger, verebbte schließlich.
Sie schlendert weiter, blickt auf den Sand, hofft für einen vergeblichen Moment, seine Spuren darin zu finden. Aber der Sand hat seine Spuren nicht bewahrt. Sie sind verweht wie die Zeit, die darüber hinweg gestrichen war. Nur eine schwarze Muschel liegt im Sand, hebt sich von den unzähligen weißen Muscheln ab. Sie bückt sich, hebt sie auf, streicht mit zärtlichen Fingern den Sand von der harten Oberfläche, steckt sie in ihre Jackentasche. Als sie den Kopf hebt, ist der Saxophon-Spieler verschwunden, kein sehnsuchtsvoller Ton dringt noch zu ihr. Nur das Branden der Wellen und der heisere Schrei der Möwen erfüllen die Abendluft.
Da tritt auch sie den Heimweg an.
Wenige Tage später erhält sie einen Brief. Er trägt einen schwarzen Rand und bringt ihr die Nachricht, dass er verstorben ist. Er hatte sie nicht vergessen und ihre Briefe fand man in seinen Unterlagen.
Als sie die Nachricht betrachtet, liest sie, dass ihn genau in dem Moment das Leben verließ, als sie den Tönen des fremden Saxophon-Spielers lauschte und die schwarze Muschel dort fand, wo einst seine Spur war.
Sie erinnert sich seiner Worte: „Lächeln ist eine positive Kraft" und lächelt traurig.
Begegnung im Regen
Der Regen kam mit dem Sturm von Westen. Er peitschte in Böen durch das Tal, beugte die Gräser bis sie waagerecht in Richtung Osten standen, wehte sie hin und her, so dass sie regenschwer am Boden liegen blieben. Der schmale Bach, der sich an stillen Tagen beschaulich durch die Auen schlängelte, war über die Ufer getreten, gebärdete sich mit lautem Brausen, schnellte stromgleich dahin, führte mit sich Geäst und die Flügel der Libelle, die noch vor wenigen Tagen grünschillernd im Sonnenlicht glitzerten. An manchen Stellen überschwemmte er die Landstraße, die hier fernab der Siedlungen durch das Tal führte. Kein Auto befuhr diese Straße an diesem Spätnachmittag, nur die schwarzen Wolken zogen eilig und sturmgepeitscht darüber hinweg. Eine einsame Fußgängerin beging diese Straße, gemeinsam mit ihrem großen, zottigen Hund. Heute, wie an jedem beginnenden Abend.
Die Kapuze ihrer Regenjacke hatte sie unter dem Kinn fest zugebunden, nur eine Strähne ihres Haares lugte unter ihr hervor. Von dieser Haarsträhne tropfte der Regen in dicken Tropfen auf ihre Lippen, die sie hin und wieder mit der Zunge aufzufangen versuchte, bevor diese weiterrannen, über ihr Kinn hinweg. Der Regen lief in Rinnsalen an ihrer gewachsten Jacke hinunter, auf ihre Oberschenkel, der Stoff ihrer abgetragenen Jeans war lange schon durchnässt. Der Hund lief missmutig neben ihr, schüttelte hin und wieder die Nässe aus seinem Fell, so dass Tropfenfontänen in den unablässig strömenden Regen sprühten.
Sie genoss diese Einsamkeit, diese laute Stille, in der die Stimmen der Natur hörbar waren: das Heulen des Windes, wie er durch das Tal fegte und an ihrer Kapuze zerrte, gegen den sie sich stemmen musste, bei jedem Schritt, der den Gräsern und Blättern heute eine laute Sprache gab, die Zweige der Bäume am Wegrand brach und die Äste ächzen ließ.
Sie lauschte dem Springen der Wellen des Baches über den Steinen, hörte das Trommeln der Regentropfen auf dem Asphalt, vernahm ihren Schritt. Der Regen wurde aufgewirbelt bei jedem ihrer Schritte. Sie passte sich dem Tempo ihres Hundes an, der auch heute rechts und links der Straße die Witterung des Wildes und der vorangegangenen Hunde aufnahm. Sie lauschte nach innen, spürte ihr Herz gleichmäßig schlagen, ließ die Gedanken kommen und gehen. Nichts Spektakuläres störte ihr Gleichmaß, die Gedanken verweilten im Hier und Heute, streiften die Geschehnisse des Berufsalltags, auch er war ohne Höhen und Tiefen in immerwährender Wiederholung dahingegangen. Ihre Augen blickten ruhig und zufrieden unter den Augenwimpern, in denen sich der Regen verfangen hatte.
Von weitem hörte sie das Motorbrummen eines nahenden Autos. Ihr Herz setzte für den Bruchteil einer Sekunde aus. Es war sein Auto.
Gleich würde er an ihr vorbeifahren, wie an jedem Tag.
Er würde sie anschauen, die Augen hinter der dunkel umrandeten Bille würden sie ernst mustern, er würde nicken, kaum merklich, seine Mine würde sich nicht verändern, kein Lächeln seinem Mund das Ernste nehmen. Dann würde er schon vorbeifahren und vorbeigefahren sein, die Auspuffgase würden in ihre Nase dringen, ein Fahrtwindzug würde sie streifen und vergehen, das Motorengeräusch sich entfernen. Sie würde dem Verlangen, ihm nachzuschauen, nicht nachgeben, nicht sehen, wie das Auto kleiner und kleiner wurde gegen den Horizont, wie es sich hinter der Kurve verlieren würde. Nur ihre Gedanken würden mit ihm gehen, über das Ende des Horizonts hinaus. Sie würde wissen, wie dunkel seine Augen jetzt sein würden. In ihren Gedanken würde sie noch einmal in seinen Augen und der Unendlichkeit versinken, in dem dunklen Kranz um seine Iris, bevor sich, wie damals, auch um ihre Augen ein Schleier legen und die Gedanken ausschalten würde.
Das Auto nahte. Das dunkle Braun der Karosse hob sich kaum gegen die Regenschwaden ab. Beim Durchfahren der Pfützen spritzte das Wasser rechts und links am Auto hoch.
Noch eine kleine Kurve, dann die Brücke – dann würde er da sein und sie nicht einmal den Kopf erkennend heben. Er würde es nicht bemerken, dass ihr Blick ihn erfasste, ja, erwartet, ihn erhofft hatte, ersehnt - wie an jedem Tag.
Er würde ihren Herzschlag nicht hören, der ein wenig aus dem Rhythmus gekommen