Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

DSA 126: Der Schrecken von Arlingen: Das Schwarze Auge Roman Nr. 126
DSA 126: Der Schrecken von Arlingen: Das Schwarze Auge Roman Nr. 126
DSA 126: Der Schrecken von Arlingen: Das Schwarze Auge Roman Nr. 126
eBook309 Seiten4 Stunden

DSA 126: Der Schrecken von Arlingen: Das Schwarze Auge Roman Nr. 126

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Winterstürme peitschen das Meer an die steilen Küsten des Windhags, als sich in einem kleinen Ort eine Serie grauenvoller Morde ereignet. Die Bewohner des Fischerdorfes sind überzeugt, dass sich hinter dem Schrecken Übernatürliches verbirgt: Das Böse, so sagen sie, sei nach Arlingen gekommen.

Der eilends aus Grangor herbeibeorderte junge Gelehrte Geron di Montacci hingegen vermutet Menschenwerk in den Verbrechen. Allzu schnell muss er jedoch feststellen, dass hinter dem Grauen mehr steckt als bloßer Aberglaube. Bald wird der Jäger zum Gejagten - und nicht nur der Schrecken von Arlingen ist Geron dicht auf der Fährte, sondern auch die Dämonen seiner eigenen Vergangenheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberUlisses Spiele
Erscheinungsdatum7. Nov. 2013
ISBN9783868898712
DSA 126: Der Schrecken von Arlingen: Das Schwarze Auge Roman Nr. 126

Ähnlich wie DSA 126

Titel in dieser Serie (100)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Rollenspiele am Tisch für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für DSA 126

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    DSA 126 - Thomas Walach-Brinek

    Biografie

    Thomas Walach-Brinek wurde 1983 in Wien ­ge­­boren. Er studierte Politikwissenschaft und Geschichte, lebt und arbeitet in seiner Geburtsstadt. Außerdem war er noch Fechttrainer, ­Rettungssanitäter und Tanzlehrer und ist mit einer wundervollen Frau verheiratet.

    Titel

    Thomas Walach-Brinek

    Das Schecken von Arlingen

    Ein Roman in der Welt von

    Das Schwarze Auge©

    Originalausgabe

    Impressum

    Ulisses Spiele

    Band 11063EPUB

    Titelbild: Arndt Drechsler

    Aventurien-Karte: Ralph Hlawatsch

    Lektorat: Florian Don-Schauen

    Redaktion & Lektorat: Catherine Beck

    Buchgestaltung: Ralf Berszuck

    E-Book-Gestaltung: Michael Mingers

    Copyright © 2010, 2013 by Ulisses Spiele GmbH, Waldems.DAS SCHWARZE AUGE, AVENTURIEN, DERE, MYRANOR, RIESLAND, THARUN und UTHURIA sind eingetragene Marken der Significant GbR.

    Titel und Inhalte dieses Werkes sind urheberrechtlich geschützt.

    Der Nachdruck, auch auszugsweise, die Bearbeitung, Verarbeitung, Verbreitung und Vervielfältigung des Werkes in jedweder Form, insbesondere die Vervielfältigung auf photomechanischem, elektronischem oder ähnlichem Weg, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der Ulisses Spiele GmbH, Waldems, gestattet.

    Print-ISBN 3-89064-146-1

    E-Book-ISBN 978-3-86889-871-2

    Kapitel 1

    Arlingen, 1030 nach Bosparans Fall

    Der Himmel heulte mit tausend Stimmen aus Eis. Kalter Regen peitschte das schäumende Meer auf, das sich unter sprudelnd weißen Wogenkämmen unnachgiebig gegen das Land warf. Wo die Brandung auf den flachen Strand unterhalb des Dorfs traf, grub sie sich mit dem schrecklichen Geräusch zermahlener Knochen tief in den bleichen Kies. Ein bleischwerer Himmel hing über der rauen Küste, seine Regenwolken hetzten über die Klippen, als wollten sie es dem Ozean gleichtun und sich auf das windumtoste Land werfen.

    Was sich ducken konnte, das duckte sich unter diesem Sturmangriff der Elemente. Die Ansammlung ärmlicher, torfgedeckter Hütten oberhalb des Strandes klammerte sich an einen schmalen Streifen zwischen Ertrinken und Gewittersturm. Bei Flut leckten die Wogen des Meers gierig an den Mauern der untersten Wohnstätten. Über die flachen Giebel der obersten Hütten brauste donnernd der Sturm. Die wenigen Bewohner dieses Dorfs am Abgrund nannten ihre Heimat Arlingen.

    Noch das kleinste Kind in Arlingen, ja selbst der verwirrteste Greis wusste, dass man in einem solchen Sturm keinen Fuß vor die Tür setzte, denn das hieße, das Schicksal zu versuchen. Und dennoch krochen in jener Nacht zwei Gestalten über den Kies auf die brodelnde Gigantenmühle der Brandung zu. Ja, sie krochen buchstäblich auf allen vieren, krallten Hände und Füße in die losen Steine des Strands, klammerten sich an den Boden wie ein Säugling an die Brust seiner Amme und krochen Spann um Spann zum Wasser.

    Der Sturm, zu Recht empört über die Anmaßung dieser Würmer, die meinten, ihm trotzen zu können, strafte sie mit der ganzen Wucht seiner geballten Faust. Er prügelte auf sie ein, versuchte sie mit seinem Regen zu ertränken, wollte ihnen mit eisigem Griff die Haut vom Leib schälen. Allein, die beiden Würmer krochen weiter.

    Hätte man durch die Regenwand und unter ihre Mäntel blicken können, so hätte man erkannt, dass es ein Mann und eine Frau waren. Und hätte man in ihre Herzen schauen können, dann hätte man gesehen, dass es ein Ehemann und eine Ehefrau waren, einander in aufrichtiger Liebe zugetan.

    Der Mann und die Frau krochen also, und nach schier endlosem Kampf erreichten sie eine Reihe von hohen Pfählen aus dunklem Holz, die gut zwei Schritt tief in den lockeren Boden gerammt worden waren, aber noch doppelt so hoch darüber hinausragten. An diese Säulen aus den Herzen mächtiger Erlen waren ungleich zerbrechlichere Objekte aus Holz gebunden: eine kleine Flottille von Fischerbooten, die auf den Wellen des abfließenden Wassers wild und bockig tanzten, ausschlugen und ungehorsam an den Tauen rissen, welche sie an den reglosen Holzpfählen festhielten.

    Mann und Frau klammerten sich an einen der nassen Stämme, zusammen mit einer Kolonie von Muscheln, die, an ihrer senkrechten Welt festgesaugt, dem Sturm trotzten. Die Frau öffnete den Mund und schrie, brüllte mit der beträchtlichen Kraft ihrer Lungen. Doch die Stimme des Wetters machte sie stumm, ihr Rufen unhörbar. Der Mann aber musste sie nicht hören, um zu wissen, was seine Frau rief, dachte er doch denselben, unsäglich erleichterten Gedanken: Der Sturmherr war gnädig – es war noch da!

    Mitten unter der Schar von Nussschalen hüpfte und sprang ein fesselloses Boot auf den Schaumkronen der Wellen. Die Flut hatte es zwischen seine Nachbarn getrieben, und als das Wasser mit Einsetzen der Ebbe begonnen hatte, sich widerwillig zurückzuziehen, war es schon zwischen den Planken der übrigen Boote verkeilt gewesen. Und die See würde es, da waren Mann und Frau sich sicher, diesmal noch nicht zu sich holen, denn schon umspülte das Wasser kaum noch seinen Kiel, schon grub sich das Boot mit jedem Sturz von der Spitze eines Wellenkamms tiefer in den Kies.

    Das besorgte Paar richtete ein stummes Dankgebet an Efferd, den launenhaften Gott des Meeres. Der Sturmbringer hatte sie noch einmal verschont. Wenn der Frühling kam, dann würden sie mit ihrem kleinen Boot aufs Meer hinaussegeln können, um ihre Netze auszuwerfen. Sie würden, Efferds Gnade und Segen vorausgesetzt, zu essen haben, und auch ihre einzige Tochter würde nicht hungern müssen.

    Mit jedem Anbranden der Wogen zog sich das Meer weiter zurück, gab den Blick auf einen umgepflügten Strand frei. Ein Schemen wurde im gurgelnden Schaum des abfließenden Wassers sichtbar, dann von der nächsten Welle bedeckt, um alsbald wieder aufzutauchen. Es war ein weißer Schatten von seltsam vertrauter Form. Als die Frau schließlich erkannte, was da im aufgewühlten Wasser zwischen den Booten trieb, war es, als fasste der Sturm mit eiskalter Hand nach ihrer Brust. Ein saures Brennen stieg in ihr hoch, bahnte sich seinen Weg in ihre Kehle und ergoss sich als bitterer Schwall aus ihrem stumm aufgerissenen Mund. Schwindel übermannte sie, ihre Hände glitten vom glitschigen Pfahl, Haut und Fleisch wurden von den scharfen Rändern der Muscheln durchtrennt, dunkelrot und salzig quoll das Blut hervor. Dann spürte sie, wie ihr Mann sie in seinen Armen auffing und sie gemeinsam in das tosende Nass stürzten.

    Zwischen den Tauen der Boote hatte sich verfangen, was früher einmal ein menschlicher Körper gewesen sein musste. Teile davon waren noch gut zu erkennen. Irgendetwas hatte den Bauch der Leiche mit einem langen Schnitt geöffnet, sodass die Gedärme hervorgequollen waren und sich im Wasser treibend um die zerschlagenen Glieder gewickelt hatten. Die Wucht der Wogen musste den Leichnam einem Spielball gleich wieder und wieder gegen die Pfähle geworfen, ihn unter den Kielen der Boote zermalmt haben. Arme und Beine standen in unmöglichen, ekelerregenden Winkeln vom Körper ab, beinahe überall war die Haut über dem nackten Fleisch aufgeplatzt und zerschunden. Das Schlimmste aber war das Gesicht des Toten. Wie durch ein Wunder war es vollkommen unversehrt und starrte mit einer Maske unaussprechlichen, blanken Entsetzens in den bleiernen Himmel.

    So haben die beiden Augenzeugen es uns berichtet, und so habe ich es getreulich zu Pergament gebracht. Wir schrieben den siebten Tag des Hesindemonds im Jahr 1030 nach Bosparans Fall, und jener tote Fischer war das neunte Opfer des ›Schreckens von Arlingen‹.

    Doch ich will von vorne beginnen, um nicht etwa ein Detail zu vergessen. Mein Name ist Geron di Montacci, und ich war in jenem denkwürdigen Winter gerade neunundzwanzig Götterläufe alt. Begleitet nur von meinem getreuen Diener, war ich vom strahlenden Grangor in die Abgeschiedenheit und karge Einsamkeit der Markgrafschaft Windhag gereist, um Licht in eine finstere Angelegenheit zu bringen.

    Wir erreichten den winzigen Flecken Arlingen just in jener Stunde, da jenes jüngste Opfer einer Reihe von grausamen Morden in dem besagten Fischerdorf zu Grabe getragen wurde. Von der Höhe der Klippen aus konnte man sehen, wie sich der Leichenzug den einzigen Pfad hinaufwand, der während der Winterstürme Arlingen mit der großen, weiten Welt verband. Und welch schmales Nadelöhr dieser Pfad war! Nur unter kaltblütiger Missachtung der Gefahr eines tiefen und gewiss tödlichen Falls auf die Felsen hätten wir unsere Pferde nebeneinander darauf gehen lassen können.

    So blieb uns nichts anderes übrig, als an einer Weggabelung zu warten, um die Prozession vorbeizulassen. Zum ersten Mal seit Stunden harten Ritts durch die karge Wildnis der Berge richtete mein Diener und väterlicher Freund das Wort an mich: »Erwartet keine herzliche Begrüßung, Geron! Die Menschen in diesem Land lieben keine Fremden. Und unseren Herrn, den erlauchten Herzog in Grangor, lieben sie noch weniger.«

    »Aber ist nicht«, so wandte ich ein, »Seine Hoheit auch der Fürst und Lehnsherr der Leute hier?«

    »Oh, ja – wenn Ihr meint, dass sie ihre Steuern an Grangor entrichten. Obwohl ich bezweifle, dass die ganze Ortschaft mehr als ein paar kümmerliche Dukaten im Jahr einbringt. Aber lieben müssen sie den Fürsten deshalb nicht. Die Menschen hier leben fernab der weiten Welt, und die steinige Erdkrume, die sie ihre Scholle nennen, ringt ihnen seit vielen Generationen Blut und Schweiß ab. Hier haben sich viele Bräuche erhalten, die uns seltsam erscheinen mögen. Wen wundert es, dass sie da nur auf sich selbst vertrauen? Nein, Herr – man wird uns gewiss nicht freundlich empfangen. Schon gar nicht jetzt, da die Menschen in Furcht vor diesem Bösen leben.«

    »Einem eingebildeten Bösen!«, gab ich zu bedenken. »Nun, zumindest diesen Aberglauben werden wir ihnen mit Hesindes Segen nehmen können, Grimaldo! Ein unheiliger Schrecken – pah! Als ob es das bräuchte, um in einem Dorf wie diesem Furcht zu säen! Nein, mein alter Freund, die Menschen sind manchmal selbst Schrecknis genug, nicht wahr?«

    Grimaldo schwieg nachdenklich. Inzwischen hatte der sich nähernde Trauerzug meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Das ganze Dorf schien zusammengekommen zu sein. An der Spitze des Zugs schritt mit sorgenvoller Miene eine Frau mit langem Haar, das so weiß war wie frisch gefallener Schnee an einem klaren Morgen. Ihre wettergegerbte Haut bildete einen seltsamen Kontrast zur Zerbrechlichkeit ihres zarten Leibs. Ich hielt sie zunächst für eine Greisin, doch als sie sich näherte, erkannte ich, dass sie kaum mehr als vierzig oder fünfzig der allzu kurzen Sommer dieses rauen Landes erlebt haben konnte.

    »Welches Schicksal«, so fragte Grimaldo leise, »konnte wohl eine Frau so sehr vor der Zeit altern lassen?«

    An ihrer Tracht war sie leicht als Geweihte des Efferd zu erkennen: Ein Kleid aus blaugrün gefärbtem Flachs, das über und über mit Muschelschalen bestickt war, schlotterte um ihren schmalen Leib. In den schlanken Händen trug sie einen Krug. Sie setzte ihre Schritte mit Bedacht, um nicht etwas daraus zu verschütten. Als sie vorüberging, schenkte sie uns keine Beachtung.

    Wenige Schritte hinter ihr folgte eine Gruppe von Dorfbewohnern, die eine Bahre auf ihren Schultern trugen. Der Wind zerrte an ihren Kleidern, wie er auch an den weißen Stoffbahnen zerrte, die den Leichnam auf der Bahre verhüllten. Plötzlich wehte eine Böe eines der Tücher davon und trug es hoch über das Heideland auf den Klippen. Mein Blick folgte dem weißen Stück Stoff, das sich in der Ferne verlor, ehe er sich unwillkürlich auf das bleiche Antlitz des Toten richtete. Bis zu jenem Tag hatte ich geglaubt, der Herr Boron würde den Sterbenden in ihren letzten Atemzügen Ruhe bringen, aber der Anblick des Toten über den Klippen belehrte mich eines Besseren.

    Seine Züge waren verzerrt und im Tod zu einer Grimasse ungläubiger Furcht erstarrt. Nicht Schmerz schien aus ihnen zu sprechen, sondern vielmehr nackte Angst. Ein kalter Schauer lief über meinen Rücken. Fröstelnd zog ich den Mantel enger um mich. Die Männer und Frauen, die den Leichnam auf ihren Schultern trugen, weinten nicht. Stattdessen sprachen ihre Mienen von Verbitterung und Besorgnis. Sie hielten ihre Blicke fest auf den steinigen Pfad gerichtet, während sie sich Schritt für Schritt dem Boronanger auf der Spitze der Klippe näherten.

    Der kalte Wind trieb graue Wolken über die Küste. Einige Regentropfen fielen, während die Prozession schweigend an uns vorüberzog. An ihrem Ende ging ein junges Mädchen. Es fiel mir nicht wegen der Mähne aus rotblonden Locken auf, die sein ernstes Gesicht umrahmte, sondern wegen der beschwingten Schritte, mit denen es weniger bergan ging, sondern gleichsam hüpfte. Als es an unseren Pferden vorübersprang, wandte es sich zu mir um und schenkte mir ein Lächeln, das dem tief hängenden Himmel zu spotten schien. Es hatte meergrüne Augen und entblößte lachend eine reizende Lücke zwischen den Schneidezähnen.

    Mit einer galanten Verbeugung lüpfte ich meinen Federhut und schenkte ihm ein Lächeln, das, wie ich wohl sagen darf, noch bei keinem Mädchen seine Wirkung verfehlt hatte. Grimaldo neigte sich zu mir. »Meint Ihr, junger Herr, dass ein Begräbnis der rechte Rahmen ist, um einem Mädchen schöne Augen zu machen?«

    Das Lächeln der rothaarigen Dorfschönheit hatte meine trüben Gedanken vertrieben. »Gewiss!«, antwortete ich also schelmisch. »Es gibt kaum Gelegenheiten, zu denen mehr junge Menschen zusammenkommen, die wild entschlossen sind, fröhlich zu sein, als Hochzeitsmahle und Begräbnisse.«

    »Warum das?«, fragte mein Diener.

    »Weil in beiden Fällen die Hinterbliebenen glücklich sind, dass ihnen das traurige Schicksal erspart blieb, das einen Anderen getroffen hat!«

    »O schämt Euch, Geron, in Borons und Traviens Namen!«, rief Grimaldo aus, doch als er sein Pferd langsam hinter dem Begräbniszug hertrotten ließ, konnte ich sehen, dass der alte Haudegen milde lächelte.

    Langsam wand sich die Prozession der hohen Klippe entgegen, an deren Spitze der Boronanger des Dorfs lag. Dies war, so erzählten mir die Fischer später, der einzige Ort in vielen Meilen Umkreis, an dem die Erdschicht dick genug war, um die Toten in ihren flachen Gräbern zu verscharren.

    Einige Schritte abseits des Wegs befand sich ein ärmlicher Schrein. Auf den verwitterten Steinen, die zu niedrigen Mauern aufeinandergeschichtet waren, wuchsen dunkles Moos und ein wirres Muster von Flechten und Gräsern. Das Dach aus Torf war eingesunken und löchrig.

    Steinerne Boronsräder säumten beide Seiten des Pfads. Die Prozession folgte ihm bis zu einer flachen Grube, die zwei Fischer mit Harken und Schaufeln bereits ausgehoben hatten. Die Dorfgemeinschaft versammelte sich um das Grab. Vorsichtig setzten die Träger ihre schwere Last ab und ließen den Leichnam in die Grube gleiten.

    Während die Totengräber den Verstorbenen mit Erde bedeckten, nahm der Wind an Stärke und Kälte zu. Schließlich erhob die Efferd-Geweihte ihre dünne Stimme über das Rauschen des hohen Grases im Wind.

    »Keiner von euch möchte glauben, dass sich in unserer Mitte ein Mörder befindet«, rief sie den Dorfbewohnern zu. »Niemand von euch verdächtigt seine Nachbarn, seine Kinder oder Eltern!«

    Viele in der Versammlung schüttelten stumm die Köpfe.

    »Ich lebe nun schon lange in Arlingen, und ich weiß, dass dieser Flecken Land zwischen Bergen und Meer von ehrlichen, aufrechten Menschen bewohnt wird. Nein, niemand von uns wäre zu solchen Gräueltaten fähig – kein Mensch, ja nicht einmal der gottloseste Ketzer würde die Hand zu solch grausamen Morden erheben! Und dennoch ist es geschehen. Dennoch tragen wir heute den neunten Menschen aus unserem Dorf zu Grabe, der auf schreckenerregende Art und Weise sein Leben verloren hat. Und wenn diese Verbrechen also kein Menschenwerk sind, dann kann uns auch kein Mensch, und käme er auch von weit her, davor bewahren!«

    Die Geweihte warf einen hasserfüllten Blick in unsere Richtung. Mit aller Gelassenheit, die ich aufbringen konnte, erwiderte ich ihr Starren. Schließlich fuhr sie fort.

    »In die Götter allein müssen wir unser Vertrauen setzen, meine Brüder und Schwestern! Denn wer außer den Erhabenen in Alveran kann uns vor dem Schrecken bewahren, der über uns gekommen ist?« Ein zustimmendes Raunen ging durch die Gemeinde. »Lasst uns also beten für die Seele des Verstorbenen, auf dass sie den Weg über das Nirgendmeer in Efferds Paradies finden möge.«

    Die Geweihte erhob beschwörend die Arme und wendete sich in Richtung der bleigrauen See. »Herr des Meeres, einen Menschen wollen wir dir anempfehlen. Bitte für ihn bei deinem Bruder Boron, dem Herrn der Toten, und lass deine Gerechtigkeit den Urteilsspruch finden für diesen Deresohn. Möge Boron Raben ausschicken, seine rastlose Seele zu fangen. Möge Golgari sie führen vor Rethon, die Allwissende. Möge diese Seele nach deinem Urteil finden, wofür sie bestimmt ist.«

    Dann zog sie ein Messer aus ihrem Gewand hervor und schnitt sich damit in die Hand. Sie ballte sie zur Faust und ließ einige Tropfen roten Blutes daraus hervorquellen und in den Krug tropfen, den sie vom Dorf zum Gräberfeld getragen hatte.

    »Wir wollen nun«, so rief sie feierlich, »das Salz des Meeres mit dem Salz unseres Blutes vermischen, auf dass die Seele des Toten immer zum Meer finden möge. So ist es seit jeher Brauch in diesen Landen, und so soll es bleiben!«

    Der Krug ging reihum, und jeder der Anwesenden gab einige Tropfen seines Blutes hinein. Einer der Fischer stimmte einen Gesang an, und kurz darauf fielen die anderen ein. Ihre rauen Stimmen klangen nach dem Wind im Heidekraut und nach der Brandung an den Felsen. Es war ein langes Lied, und ich konnte bloß einen kleinen Teil davon behalten. Die urtümlichen Worte entsprangen dem Dialekt jenes einsamen Landstrichs, und ich hatte Mühe, sie zu verstehen. Dennoch habe ich sie festgehalten, so gut es ging:

    »Füllt mit mir den Krug zum Abschied voll.

    Weiß ich auch nicht, wohin ich gehen soll.

    Ich nehme mit mir Freud und Weh,

    bis ich euch einst wiederseh’.«

    Schließlich kehrte der Krug, angefüllt mit dem Blut der Dorfgemeinschaft, zurück in die Arme der Geweihten, die ihn über dem frischen Grab ausgoss. Der Gesang endete, und endlich begannen die Menschen zu weinen. Mit bitteren Tränen wiesen sie der Seele des Verstorbenen den Weg zum Meer.

    Ungewollt flogen meine Gedanken fort. Sie ließen die raue Küste hinter sich, erhoben sich über das Meer und kehrten zurück in meine Heimat. Zurück an jenen Tag, als mein Vater mich, seinen einzigen Sohn, an sein Bett holen ließ, um mir zu eröffnen, dass er sterben würde.

    Kapitel 2

    Montacci an den Ufern des Phecadi,

    1014 nach Bosparans Fall

    Ich war damals alt genug, um über den Tod Bescheid zu wissen, aber zu jung, um ihn zu verstehen. Ich wusste nur, dass Vater fortgehen und ich ihn niemals wiedersehen würde. Meine kleinen Hände krallten sich in das Laken, das von Vaters kaltem Schweiß durchtränkt war. Ich weinte bitterlich. Der Schmerz in meiner schmalen Brust war umso tiefer, da ich wusste, dass nichts und niemand das Schicksal abwenden konnte.

    Ich blickte mich in dem Dämmerlicht des Schlafgemachs um. Am Fußende des breiten Betts saß in einem hohen Sessel der Arzt, der meinen Vater längst aufgegeben hatte. Verborgen in den Schatten wartete ungerührt schweigend ein Diener Golgaris darauf, dass Vater seine Schuld beim Herrn der Toten beglich.

    Mein Blick fiel auf den wuchtigen Schreibtisch, auf dem sich Pergamente und seltsame Gerätschaften stapelten. Eine Eidechse mit zwei Köpfen trieb in einem Glas, das mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Ich wusste, dass die Kästen in Vaters Arbeitszimmer voll von obskuren Objekten wie diesem waren. Die Leute in der Umgebung erzählten sich flüsternd, dass der Herr von Montacci mit Dämonen im Bunde sei und unheilige Dinge in den Mauern unseres Hauses vor sich gingen. Vater hatte immer bloß über den Aberglauben der Bauern gelacht. An seiner Wissenschaft, so hatte er mir einmal erklärt, sei nicht das Geringste unheilig. Und dann hatte er mir eine Dose aus duftendem Holz und grüner Jade geschenkt, in deren Inneren eine Nadel aus Metall auf wunderbare Weise in Richtung der Mittagssonne wies, wohin man die Dose auch drehte und wendete.

    »Das ist keine Magie«, hatte Vater zu mir gesagt, als meine Augen sich staunend geweitet hatten. »Nur das Wunder der Wirklichkeit!«

    ***

    Während wir unsere Pferde auf dem gewundenen Pfad steil bergab nach Arlingen lenkten, tastete meine Hand unwillkürlich nach dem Kompass in meiner Tasche. Seit jenem Tag trug ich ihn ständig bei mir, wie einen Talisman, der mich an die Worte meines Vaters erinnern sollte. Auch als wir uns nass vom Regen dem Strand näherten, verweilten meine Gedanken immer noch in jenem Zimmer, an jenem Bett.

    ***

    Die Dienerschaft lauschte aufgeregt wispernd an der Tür. Einzig Grimaldo, Vaters Kampfgefährte von einst, stand hinter mir. Er legte die Hand auf meine Schulter. Erstaunt blickte ich auf, als ich spürte, wie sein sonst so ruhiger Schwertarm zitterte. Tränen liefen über das narbige Gesicht des alternden Recken. Ich denke heute noch, dass es wohl keinen größeren Beweis für die Tugend und Gerechtigkeit eines Mannes gibt, als wenn seine Diener am Totenbett um ihn weinen.

    Mühsam richtete Vater sich auf und legte eine verdorrte, kraftlose Hand unter mein Kinn. Ich konnte die Angst in seinen Augen sehen. Seine Stimme war ein Röcheln, als er sich an Grimaldo wandte. »Wenn ich zu Boron gegangen bin, wird mein Sohn ganz allein sein!«

    Der Druck von Grimaldos Pranke auf meiner Schulter verstärkte sich. »Nein Herr, das wird er nicht!«

    Ein erleichtertes Seufzen entrang sich Vaters Brust. »Ich danke dir, mein alter Freund.« Die Angst in den geliebten Augen wich jener gelassenen Ruhe, mit der Vater stets dem Unbekannten entgegengesehen hatte. Ein Aufatmen ging durch den todgeweihten Leib. Vater ließ sich auf das Laken zurücksinken.

    »Nun geht!«, sagte er mit fester Stimme. »Lasst mich alleine – es wird Zeit, endlich zu schlafen.« Sein Blick fiel auf den schwarz bekutteten Boron-Geweihten, der bedrohlich schweigend an sein Bett trat. Mit sanfter Gewalt drängte Grimaldo mich aus dem Zimmer. Ich blickte nicht zurück.

    Wir begruben Vater in der Gruft unserer Ahnen auf dem Boronanger des Dorfes, wo auch die Gebeine meine Mutter schon zur ewigen Ruhe gebettet worden waren, als ich noch nicht einmal laufen konnte.

    Noch am selben Tag liefen die meisten Diener fort. Schaurige Gerüchte gingen um. Vater sei an der Keuche gestorben, an der Dämonenfäule

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1