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Der Gesang des Coyoten: Mexikanische Geschichten
Der Gesang des Coyoten: Mexikanische Geschichten
Der Gesang des Coyoten: Mexikanische Geschichten
eBook238 Seiten3 Stunden

Der Gesang des Coyoten: Mexikanische Geschichten

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Über dieses E-Book

GESCHICHTEN ÜBER MEXICO - so facettenreich, geheimnisvoll und schön wie das Land selber.

Christoph Janacs vermittelt in seinen Geschichten einen glaubhaften Einblick in die Kultur und eine große Vertrautheit zu seinen beschriebenen Figuren: Jerónimo erlebt mit seinen Freunden den Día de Muertos - der Tag endet für einen von ihnen tödlich; der Arbeiter Santiago zieht mit seiner Frau vom Norden Mexikos in die Hauptstadt, wo sie in den Slums von einem Wolkenbruch heimgesucht werden, der alles mit sich fortspült; ein Redakteur sieht in Vögeln, die vom Himmel fallen, die Vorboten einer Katastrophe; das Touristenpaar Robert und Doris durchstreift die Randbezirke der ausufernden Mexiko-Stadt und gerät in unheimliche Situationen.

Ein Kaleidoskop des modernen Mexiko.

Die Geschichten sind sehr facettenreicht. Und doch speisen sie sich aus einer gemeinsamen Quelle: einem Land, in dem die uralten Mythen der Azteken und Maya so lebendig sind wie der aktuelle Kampf ums Überleben, eine politische Situation, die zahlreiche Opfer kostet, und - nicht zuletzt - die Landschaft in ihren bizarrsten Ausformungen: einmal ist ihr Gesicht karg, dann wieder üppig, blühend, wuchernd, verschlingend.

Janacs verzahnt die Geschichten kunstvoll ineinander, lässt die Figuren einmal Neben- und ein andermal Hauptdarsteller sein. So entsteht ein Netz von verschiedensten Erlebnissen und Erfahrungen, die aus der Realität oft ins "Magische" und Absurde gleiten. Figuren und Leser werden gleichermaßen in Geheimnisse hineingezogen, durchleben dramatische Wendungen und Höhepunkte, die den Atem stocken lassen.

"Ich kann dieses Buch nur weiterempfehlen. Man spürt beim Lesen die Liebe des Autors zu Land und Leuten und sein Wissen über Mexiko."
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum24. Nov. 2014
ISBN9783709935194
Der Gesang des Coyoten: Mexikanische Geschichten

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    Buchvorschau

    Der Gesang des Coyoten - Christoph Janacs

    www.haymonverlag.at.

    Das rote Meer

    Er saß, die Hände über dem Strohhut gefaltet, der auf seinem Schoß lag, und blickte zum Fenster hinaus. Den Kopf hatte er an die Scheibe gelehnt. Das Schütteln des Busses störte ihn nicht, im Gegenteil: die Schaukelbewegung und das Beben, das durch seinen Körper lief, wenn sein Kopf sanft am Glas aufschlug, machten ihn nur angenehm müde und versetzten ihn in einen Dämmerzustand, in dem er manchmal nicht mehr wußte, wo sein Körper aufhörte und wo die Umgebung begann; dann spürte er auch nicht mehr die Hitze im Bus, den klebrigen Plastikbezug seines Sitzes und das verschwitzte Hemd, und er verharrte in dieser halb bewußtlosen Verfassung, bis er aussteigen mußte.

    Draußen zog die Steppe vorbei, goldgelb, rotbraun und ocker. Durch das verschmierte Fenster und den Staub, den der Bus aufwirbelte, wirkte sie noch unwirklicher, wie die Kulisse eines unverständlichen Theaterstücks, die von unsichtbaren Händen vorbeigeschoben wurde. Eigendich bewegte nicht er sich, sondern das Land da draußen. Schon als Kind hatte er Gefallen gefunden an der Vorstellung, daß alles andere sich um ihn herum bewegte und nur er allein, inmitten der Bewegung, ruhte.

    Er schlief nicht, träumte nur, manchmal, mit offenen Augen. Obwohl er Jahr für Jahr, Sonntag für Sonntag und Freitag für Freitag die Strecke entlangfuhr, einmal nach Süden, einmal nach Norden, konnte er nicht die Augen schließen, mußte er hinausblicken in die fiebernde Landschaft, bis ihn die Augen schmerzten.

    Die Steppe säumte eine Bergkette. Ein rotes Gewoge türmte sich dort am Horizont auf, eine steinerne Flutwelle, der vor Zeiten jemand Einhalt geboten hatte und die nun da stand, angehalten in ihrer Bewegung, und manchmal glaubte er, das Tosen und Brodeln zu hören, das in diesen Bergen eingesperrt lag und nur darauf wartete, losbrechen zu können und über der Steppe zusammenzuschlagen.

    Hin und wieder zweigte eine Schotterstraße ab, manchmal war es auch nur ein Fußweg, eine undeutliche Spur, und führte quer über die Ebene zu den roten Bergen, wo ein Dorf, ein Weiler oder auch nur eine einzelne Hütte lag. Dann hielt der Bus und ließ jemanden ein- oder aussteigen.

    Da draußen lebten Menschen, verborgen hinter Agaven, Kakteen und einem Licht, das gelb und orange und manchmal rot war vom Staub, den der Wind durch die Ebene trug und der unablässig wehte, körnig und heiß; Männer, die Sonntag abend wegfuhren und freitags heimkamen und dann ein Stück Boden beackerten und hofften, das Wasser würde reichen und die Pflanzen gedeihen lassen; Frauen, die fortsetzten, was die Männer begonnen hatten, die warteten, manche vergebens, bis sie das Warten aufgaben.

    Er hatte auch schon daran gedacht, manchmal. Er war noch immer heimgekehrt.

    Er spürte, wie aus seinem Körper nach und nach jedes Gefühl wich, und richtete sich auf.

    Neben ihm saß eine junge Gringa, eine große, schlanke Frau mit blonden Haaren, die sie offen trug und die ihr weit über die Schultern und das weiße T-Shirt fielen. Sie war zusammen mit einem älteren Paar eingestiegen und hatte sich neben ihn gesetzt, während die beiden anderen weiter hinten Platz gefunden hatten. Sie mußten zusammengehören: beim Kartenlösen war sie dem Paar behilflich gewesen, danach hatte sie sich anfangs immer wieder umgedreht und den beiden etwas zugerufen. Jetzt schlief sie: ihr Gesicht hatte sich entspannt und fast kindliche Züge angenommen. Er zeichnete mit seinem Blick aus den Augenwinkeln ihr Profil nach, die Stirn, die Augenbrauen, die Wimpern, die schmale Nase, die blassen Lippen, das Kinn, den Hals; dann die Rundungen ihrer kleinen Brüste, die sich unter dem gleichmäßigen Atem hoben und senkten.

    Warum er immer wieder heimgekommen war.

    Er sah zum Fenster hinaus. Der Bus bremste, rollte von der Fahrbahn hinab auf einen Schotterstreifen, schwankte und hielt quietschend. Ein Mann und eine Frau stiegen aus. Er sah den Strohhut des Mannes vor seinem Fenster halten, wegtauchen, hörte die Klappe des Laderaumes knarren, dann schlagen, spürte die Vibration, dann schwankten die beiden auf einem schmalen Pfad davon, bepackt mit Körben und Säcken.

    Sie würde schon auf ihn warten. Er würde, wenn in etwas mehr als einer Stunde der Bus stehenbliebe, aussteigen und in der rasch hereinbrechenden Dämmerung seinen Weg quer über die Ebene nehmen, vorbei an den verkrüppelten Sträuchern, halb vertrockneten Agaven und knorrigen Saguaros, die ihn seit seiner Kindheit wie Lebewesen eines fernen Planeten anmuteten, die in grauer Vorzeit aus dem Himmel gefallen waren und seitdem in dieser verrückten Wüstensteppe standen, angehalten in ihrer Bewegung, bevor sie ein Zauberspruch befreien würde und sie zu Staub zerfielen; er würde sich beeilen, um nicht zu tief in die Nacht zu geraten, aber trotz seiner weit ausholenden Schritte erst nach Einbruch der Dunkelheit ankommen, wenn der Holzzaun und die Hütte bläulich schimmerten, erhellt nur vom kalten Licht der Sterne, die den Himmel dann zu Tausenden bevölkerten, eine Herde gleichgültiger, stummer Tiere.

    Er würde eintreten in den kleinen, dunklen, nur von einem Herdfeuer und einer Petroleumlampe erleuchteten Raum, müde und unsicher, ob er sich erleichtert oder niedergeschlagen fühlen sollte, und das Päckchen auf den Tisch werfen.

    Mehr ist es nicht!

    Marcela würde nichts erwidern.

    Die Gringa streckte sich, gähnte, öffnete die Augen und lächelte. Er sah sie an, spürte, daß sein Lächeln mißlang, und drehte seinen Kopf weg.

    Wieder hielt der Bus. Diesmal stieg jemand ein: ein weißhaariger Alter, eine krumme Gestalt, die den Gang heranschlurfte, vor dem freien Platz gegenüber haltmachte und Mühe hatte, einen Leinensack hochzuhieven und im Gepäcknetz über den Sitzreihen zu verstauen; immer wieder mußte er sich dagegenstemmen, bis der Sack endlich nachgab und liegenblieb. Ein Junge kam herein und hielt zwei silbrige Schlangenhäute in die Höhe, die in seinen Händen plötzlich lebendig wurden, sich krümmten, zappelten; aber niemand kümmerte sich um ihn, nur die Gringa starrte nach vorn, die Augen weit aufgerissen.

    Als der Bus anfuhr, winkte er dem Jungen zu, der am Straßenrand stand und noch immer die Schlangen über seinem Kopf hin und her schwenkte.

    Er könnte einfach sitzen bleiben und weiterfahren.

    In der nächsten oder übernächsten Ortschaft würde er aussteigen und in einem billigen Hotel übernachten, und am nächsten Tag würde er weiterfahren, immer nach Norden, das Geld würde reichen bis zur Grenze, vielleicht sogar etwas weiter; irgendwie würde er schon an der Grenzkontrolle vorbeikommen, und wenn er sich im Laderaum des Busses verstecken oder zu Fuß gehen oder über den Fluß schwimmen mußte, er würde es schaffen, und drüben würde er eine Arbeit annehmen, irgendeine, er war ja nicht wählerisch und machte sich auch keine Illusionen, reich würde er die ersten Jahre sicher nicht werden, aber mehr verdienen als hier allemal. Eines Tages würde er dann zurückkommen, vielleicht.

    Die Gringa hatte nun ein Buch auf dem Schoß liegen und schmökerte, las hier ein wenig, blätterte, las dort. Es mußte ein Reiseführer sein: alle paar Seiten konnte er ein Foto, eine Zeichnung erkennen, einmal den Raster eines Stadtplans, und dazwischen zweispaltige Texte in verschiedenen Schriften. Wenn sie blätterte, glaubte er, trotz des Lärms, den der Bus machte, das Papier zu hören, wie ein Blatt am anderen vorüberglitt, es streifte.

    Seine Hände: die harten Fingernägel abgebrochen oder abgebissen, die Ränder schwarz; die Haut verschorft und spröde; sie würden Monate brauchen, um wieder glatt und weich zu werden und streicheln zu können. Er prüfte seine Finger, strich mit den Kuppen über die Hutkrempe, spürte nur ein ungenaues Schaben, mehr nicht.

    Irgendwann würde sie aufhören, auf ihn zu warten.

    Er sah nach draußen. Noch immer lagen die Berge da und rührten sich nicht, warteten auf das Zauberwort, das sie erlösen würde, damit sie, endlich, losbrechen könnten, eine gewaltige steinerne Flut. Noch immer zog die Ebene am Fenster vorbei, rostrot und rotbraun, mit gelben, grünen und ockerfarbenen Flecken, nur daß das Licht jetzt ein wenig flacher einfiel und die Schatten länger geworden waren. Und noch immer schnitt die Straße schnurgerade durch das Land, über sechzig Kilometer, hatte er einmal gehört, verlief sie ohne eine einzige Kurve, ohne eine Biegung, ohne auch nur die geringste Richtungsänderung, ein blauschwarzes, manchmal graubraunes Band, auf dem der Bus dahinpolterte, eine alles verdunkelnde Staubwolke hinter sich aufwirbelnd, ein Reißverschluß, der die beiden Teile der Ebene zusammenhielt und den der Bus jetzt öffnete; er wußte, wenn er sich jetzt umdrehte, würde er sehen, daß hinter ihnen ein Riß klaffte, wie dieser Riß immer breiter und breiter wurde und das rote Tuch der Steppe auseinanderbrach.

    Irgendwann würde sie ihn vergessen haben.

    Das war bei Ramón so gewesen und bei Alberto Pozas, und bei Sergio Ramírez ebenso. Irgendwann wußten diese Frauen nicht mehr, mit wem sie zusammengewesen waren und wie lange und wie der Mann hieß, von dem die Kinder stammten, und das würde bei ihm nicht anders sein.

    Er blickte zur Gringa hinüber. Sie war über dem Buch, das noch immer auf ihrem Schoß lag, eingeschlafen, ihr Kopf war vornüber gesunken und schwankte im Rhythmus des Busses hin und her.

    Dann hielt der Bus, drei Männer stiegen ein, und er wußte es sofort und verspürte nicht einmal Angst.

    Die beiden älteren blieben vorne stehen und plauderten beiläufig mit dem Fahrer, während der jüngere den Gang nach hinten ging.

    Dann drehten sie sich um und hielten Revolver in ihren Händen.

    Das ist ein Überfall!

    Die Gringa schreckte aus dem Schlaf hoch.

    Machen Sie keine Mätzchen, dann geschieht Ihnen nichts!

    Er sah zum Fenster hinaus, betrachtete sein Spiegelbild, das über der Landschaft flackerte. Er fühlte sich auf einmal hellwach und zugleich unendlich müde, fast erschöpft.

    ¿Un atraco?

    Die Gringa blickte ihn an, die Augen weit aufgerissen.

    Sí, señora. ¡Quédese en calma!

    Sie drehte sich um und rief dem älteren Paar hinten durch den Lärm etwas zu, nickte, hob die Hände, machte beschwichtigende Gesten, ließ sich auf den Sitz fallen, faltete die Hände, drückte sie so fest zusammen, daß die Knöchel weiß hervortraten.

    Die Männer begannen mit der Arbeit: langsam, ohne Eile, gingen sie von Reihe zu Reihe, der eine hielt den Fahrgästen den Revolver hin und sagte etwas, der andere mußte nur den Leinensack aufhalten, und hinein fielen Münzen, Scheine, Uhren, Ringe, Armbänder, Halsketten, Ohrringe. Wenn jemand aufbegehrte oder zögerte, brauchte der eine nur ein wenig mit dem Revolver winken, und schon leerte der Mann seine Geldtasche aus, streifte die Uhr vom Handgelenk, knipste sich die Frau den Schmuck von Hals und Ohren.

    Er sah zum Fenster hinaus. Die nächste Station erreichten sie in zehn Minuten, bis dahin waren die Männer längst fertig und ausgestiegen. Wahrscheinlich folgte dem Bus schon ein Wagen, der die drei sofort aufnehmen und mit ihnen davonbrausen würde.

    Nun standen sie bei der Gringa.

    Einen Moment lang sah es aus, als würde sie nichts bemerken oder als wolle sie Widerstand leisten, indem sie die Männer einfach nicht zur Kenntnis nehmen würde, oder als sei sie erstarrt, unfähig, sich zu bewegen.

    Perdóneme, señorita, su dinero.

    Die Gringa erwachte, sah die Männer an, als ob sie sich erst erinnern müßte, griff nach einem schwarzen Täschchen, das sie unter dem T-Shirt am Hosengürtel trug, holte einen braunen Lederbeutel hervor und leert~ ihn in den dargebotenen Sack.

    ¿Permítame?

    Der Mann mit dem Revolver beugte sich vor, tastete mit der Linken ihren Nacken ab, ließ die Hand den Rand des Ausschnitts hinab gleiten und zog ein Silberkettchen hervor.

    ¡Esto no, por favor! Es regalo, de mi novio.

    Der Mann zögerte, warf dem anderen einen Blick zu, dann zog er die Hand zurück und ließ das Kettchen auf die Brust der Gringa gleiten.

    ¡Guardéselo! Und geben Sie auf sich acht, Señorita!

    Dann winkte er mit dem Revolver: ¿Y tú?

    Er griff in den rechten Hosensack, holte ein paar Münzen und zwei Scheine hervor.

    ¿Es todo?

    Sí. No tengo más.

    ¡Levántate!

    Er erhob sich langsam, unendlich müde, hielt dabei den Hut auf die Oberschenkel gepreßt.

    ¡Vacía los bolsillos!

    Er griff in den linken Hosensack, stülpte ihn um.

    ¡Siga!

    Er griff in die Gesäßtasche, spürte das Bündel, fingerte ein paar Scheine heraus.

    ¡Todo, por favor!

    Er griff noch einmal hinein und holte den Rest hervor. Er sah nicht zu, wie die Scheine in dem Leinensack verschwanden.

    Er sank zurück auf den Sitz, vermied es, die Gringa anzusehen.

    Ein paar Minuten später waren die Männer fertig. Sie ließen den Bus anhalten, grüßten und stiegen aus. Als der Bus anfuhr, sah er, wie einer die Straße hinabspähte und winkte.

    Kein Wort würde sie ihm glauben. Sie würde denken, er habe wieder einmal alles Geld in einer der Spielhöllen verloren oder in der Casa Chica gelassen, deren Namen sie noch nie, nicht ein einziges Mal, ausgesprochen hatte.

    ¡Maldito idiota! Und ich dachte schon, du wärst endlich davon losgekommen!

    Sie hatte schon recht: hin und wieder hatte es ihn angewandelt, wenn er sah, wieviel Pedro einstreifte oder Emilio, während er sich von den lächerlichen Scheinehen, die man ihm gebündelt auf die Tischplatte knallte und für die er eine Woche lang geschuftet hatte, nichts ersparen konnte; keine Rede davon, sich irgendwann einmal ein Stück Grund kaufen und ein Haus bauen zu können, nicht einmal für die nötigsten Renovierungsarbeiten an seiner Hütte reichte es aus, gerade genug zum Leben, mehr war es nicht, und dann hatte er eben sein Glück versucht, versuchen müssen, wenn er nicht weitermachen wollte wie bisher: Woche für Woche die gleiche Schinderei für Woche für Woche weniger Geld. Aber das mit der Casa Chica war schon lange vorbei: seit Jorge bei ihr aus und ein ging und sich gebärdete, als sei er der Eroberer der Neuen Welt persönlich, hatte er sich zurückgezogen. Zwei streitende Gockel, das war nicht seine Sache.

    Draußen streckten sich die Schatten, legten sich erste Schleier über die Ebene.

    Und dann, plötzlich, sah er es, spürte er es, bevor der Bus die Geschwindigkeit verringerte und an dem Schotterweg hielt, wo er auszusteigen hatte: wie die goldgelben Wogen des versteinerten Meeres, die Jahrmillionen ausgeharrt hatten, angehalten in ihrer Bewegung vom Spruch, der Geste eines vorzeitlichen Magiers oder Gottes, sich aus ihrer Erstarrung lösten, in Bewegung setzten und heranrollten, tobend, brausend, Gischt aus Geröll und Kieseln und Sand versprühend, barsten, über dem Bus zusammenschlugen und ihn mitsamt seiner Fracht unter sich begruben.

    Der Vogel im Rinnstein

    Warum ihm der Vogel im Rinnstein aufgefallen war, konnte er nicht mit Sicherheit sagen, war ihm doch der Anblick toter Tiere in diesem Land, in dem man seit jeher über das Sterben gnädig hinweggeblickt hatte, dafür aber umso inniger den Tod zu feiern verstand, durchaus geläufig: jeden Freitag, wenn er, um in sein Wochenendhaus zu gelangen, die Calzada Ermita Iztapalapa und danach die Carretera Federal Mexico-Puebla hinausfuhr, vorbei an den ausufernden Stadtrandsiedlungen mit ihren fahlen Beronkolossen, den Werkstätten, die oft nur aus einfachsten Wellblech- und Bretterbuden bestanden, den Schwarzbauten aus zusammengestohlenen Ziegeln und den engen, staubigen Gassen, auf denen die Kriminalität gedieh wie ein ansteckender Virus, sah er dutzende Kadaver halbverhungerter Köter am Straßenrand liegen, aufgebläht oder zerhackt von den Schnäbeln unverschämter Vögel, die sich auf ihrer Suche nach Nahrung immer tiefer in die Stadt vorwagten (ein Anblick, der eine arbeitsreiche und meist von Streß und Ärger mit unfähigen oder unwilligen Kollegen und Handgeld erwartenden Beamten geprägte Woche beendete und den er sich bei der Rückfahrt nach einem erholsamen Wochenende ersparte, weshalb er immer erst spätabends heimkehrte, wenn die Nacht die Sicht auf die dunklen, meist nicht oder nur unzureichend elektrifizierten Viertel nahm); alle paar hundert Meter lag ein toter Hund auf dem Schorterstreifen neben der Fahrbahn, manchmal auch eine Katze oder ein anderes nicht mehr identifizierbares Tier, und wenn er bedachte, mit welch stumpfen, fiebrigen Blicken diese Kreaturen die Straßen entlangtrotteten, auf den Beinen gehalten nur noch vom Wunsch, irgend etwas Preßbares zu finden, und sei es ein Papier, das man gierig ausschlecken konnte, und wie sie unvermittelt, ohne auf den vorbeirollenden Verkehr zu achten, die Straßenseite wechselten, dann wunderte ihn die Zahl der von Autos überfahrenen Hunde nicht mehr, die in diesem Land in die Tausende gehen mußte; wo auch immer er hinkam, es lagen tote Tiere in den Straßengräben, nur daß es auf den Überlandstrecken andere, größere waren, Ziegen, Schafe, Esel, auch an den aufgeblähten Kadaver eines Pferdes konnte er sich erinnern, auf dem diese schwarzen, krummschnäbligen Vögel hockten und in den leeren Augenhöhlen wühlten, die Ratten, die über den Körper huschten und an Haut- und Gewebefetzen zerrten, und die beiden

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