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Sterben in Mexiko: Berichte aus dem Inneren des Drogenkriegs
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Sterben in Mexiko: Berichte aus dem Inneren des Drogenkriegs
eBook224 Seiten3 Stunden

Sterben in Mexiko: Berichte aus dem Inneren des Drogenkriegs

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Über dieses E-Book

In Mexiko befinden sich die staatlichen Institutionen in Auflösung. Drogenkrieg, Korruption und ein gigantischer illegaler Geldfluß bringen ein ganzes System zum Kollabieren. Die Bevölkerung ist der Gewalt zwischen rivalisierenden Drogenkartellen, Polizei und paramilitärischen Organisationen hilflos ausgeliefert. Es handelt sich nicht um einen Krieg gegen die Drogen, wie die mexikanische Regierung Glauben machen will, sondern um die Neuaufteilung der Märkte, bei der der Staat mitmischt. Gibler führte in vielen Landesteilen Mexikos Gespräche mit Journalisten und Opfern. Er enthüllt dabei das Innenleben einer Nation, die durch und durch korrupt ist. Ein Beitrag zur Debatte, daß der Drogenkrieg nicht gewonnen werden kann, so lange die Drogen nicht legalisiert werden.

Titel der Originalausgabe: "To Die in Mexico. Dispatches from Inside the Drug War", City Lights Books, San Francisco 2011.
SpracheDeutsch
HerausgeberFuego
Erscheinungsdatum7. Dez. 2012
ISBN9783862870615
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    Buchvorschau

    Sterben in Mexiko - John Gibler

    Coverbild

    John Gibler

    Sterben in Mexiko

    Berichte aus dem Inneren des Drogenkriegs

    Aus dem Englischen von Norbert Hofmann

    FUEGO

    Über dieses Buch

    In Mexiko befinden sich die staatlichen Institutionen in Auflösung. Drogenkrieg, Korruption und ein gigantischer illegaler Geldfluß bringen ein ganzes System zum Kollabieren. Die Bevölkerung ist der Gewalt zwischen rivalisierenden Drogenkartellen, Polizei und paramilitärischen Organisationen hilflos ausgeliefert. Es handelt sich nicht um einen Krieg gegen die Drogen, wie die mexikanische Regierung Glauben machen will, sondern um die Neuaufteilung der Märkte, bei der der Staat mitmischt. Gibler führte in vielen Landesteilen Mexikos Gespräche mit Journalisten und Opfern. Er enthüllt dabei das Innenleben einer Nation, die durch und durch korrupt ist. Ein Beitrag zur Debatte, daß der Drogenkrieg nicht gewonnen werden kann, so lange die Drogen nicht legalisiert werden.

    Karte

    Morir en México (Sterben in Mexiko) von Antonio Helguera. Veröffentlicht von der mexikanischen Tageszeitung La Jornada am 15. März 2010. Die Grabinschriften lauten im Uhrzeigersinn von oben links: »Sie muss an etwas beteiligt gewesen sein; Es war eine Bandenfehde; Sie brachten sich gegenseitig um; Was machte er dort zu der Stunde?; Rechnungen wurden beglichen; Sie kleidete sich provozierend; Wer weiß, worin er verwickelt war; Sie war eine Hure.«

    EINS

    »Das Schweigen verlangt, daß seine Feinde plötzlich und spurlos verschwinden.« Ryszard Kapuscínskí

    Die nackten Tatsachen sind so grauenerregend, daß sie die Grenze alles Glaubwürdigen überschreiten. Wer würde für wahr halten, daß die Direktorin eines Staatsgefängnisses verurteilten Mördern des nachts die Gefängnistüren öffnet und ihnen Dienstfahrzeuge, Schnellfeuergewehre und kugelsichere Westen zur Verfügung stellt, so daß sie in einem benachbarten Bundesstaat Dutzende unschuldiger Menschen niedermähen können, um anschließend ins Gefängnis zurückzukehren, mit einem perfekten Alibi? Wer würde glauben, daß eine paramilitärische Drogenorganisation, formiert aus Ex-Spezialkräften der mexikanischen Armee, einen einheimischen Polizisten kidnappen, ihn durch Folter zu dem Geständnis all der obigen Details über das Todeskommando der Häftlinge zwingen, das Geständnis auf Video aufnehmen, den Mann vor laufender Kamera mit einem Schuß ins Herz hinrichten und dann das Video auf YouTube zeigen? Wer könnte begreifen, daß der Generalbundesanwalt wenige Stunden nach dem Erscheinen des Videos im Internet die Gefängnisdirektorin festnehmen läßt und dann ein paar Tage später eine Pressekonferenz abhält, auf der er eingestand, daß das Killerkommando monatelang ungestört agierte und im Januar 2010 zehn Menschen in einer Bar, im Mai 2010 acht Menschen ebenfalls in einer Bar und im Juli siebzehn Menschen auf einer Geburtstagparty ermordete?

    Schwer zu glauben, aber all das ist wahr.

    Die Stadt heißt Torreón im Bundesstaat Coahuila, der eine Grenze mit Texas teilt. Am 30. Januar 2010 attackierte ein bewaffneter Konvoi drei Bars in Torreón und tötete zehn Menschen, vierzig wurden verwundet. Fünf Monate später, am 15. Mai, griff ein bewaffneter Konvoi die Einweihungsparty einer anderen Bar in Torreón an, acht Tote und zwanzig Verwundete. Am 18. Juli, etwa um halb zwei morgens, tauchte eine Gruppe Bewaffneter bei einer privaten Geburtstagsfeier im Quinta Italia Inn in Torreón auf. Fünf Männer, die kugelsichere Westen und AR-15-Sturmgewehre trugen, stürmten in den Festsaal und schossen wahllos um sich. Sie töteten siebzehn Menschen, darunter Carlos Antonio Mota Méndez, der seinen einunddreißigsten Geburtstag feierte, sein Bruder Héctor José und vier Mitglieder der gemieteten Band Ríos. Achtzehn weitere Personen wurden verwundet. Nach jedem Massaker fuhren die Mörder über die Staatsgrenze zwischen Durango und Coahuila zurück zum Staatsgefängnis von Gómez Palacio, das sich »Zentrum für Soziale Wiedereingliederung« nennt.

    Die Gefängnisdirektorin Margarita Rojas Rodríguez hatte Anweisungen gegeben, die Häftlinge unauffällig wieder hereinzulassen.

    Niemand hätte das geglaubt. Die Todeszahlen im Drogenkrieg stiegen, Schlagzeilen der Zeitungen listeten bei jeder Massakerszene die Toten auf, und Bundesermittler spekulierten, daß der Barbesitzer irgendwelche Verbindungen zum organisierten Verbrechen gehabt haben muß. Die Toten hätten bestimmt Dreck am Stecken. Und dann stellte jemand am 23. Juli 2010 ein Video ins Internet, das kurz danach auf der Website blogdelnarco.com zu sehen war.

    Was man sieht, ist nur schwer zu ertragen.

    Auf dem Video sind zunächst drei Männer zu sehen – das Bild ist ein wenig verwackelt, die Auflösung niedrig. Zwei Männer stehen mit AR-15-Gewehren da, sie tragen T-Shirts, darüber Armeewesten, beladen mit Munitionsstreifen, und ihre Gesichter sind von der Stirn bis zum Kinn mit etwas bedeckt, was wie schwarze Hockeymasken aussieht. Der dritte Mann zwischen ihnen ist auf den Knien, ohne Hemd, die Hände sind hinter seinem Rücken zusammengebunden. Nur sein Gesicht und ein Teil des Oberkörpers sind in dem Bildrahmen sichtbar. Eine Stimme hinter der Kamera fragt: »Wie heißt du?« Der kniende Mann antwortet: »Rodolfo Nájera.«

    Nájeras Gesicht ist entstellt. Die Schwellung unter seinem linken Auge läßt es aussehen, als ob ein Stein chirurgisch unter die Haut implantiert worden wäre. Sein linkes Ohr ist halb abgerissen. Blut rinnt aus dieser Wunde über seine Brust. Nájera schaut in die Kamera und beantwortet alle Fragen schnell und präzise. Er weiß, daß die Männer ihn töten werden.

    »Beruf?« fragt die Stimme.

    »Ich bin Polizeibeamter in Lerdo«, antwortet Nájera.

    Das Sprechen fällt ihm schwer. Seine Stimme scheint unnatürlich leise im Gegensatz zu der Stimme hinter der Kamera, die klar, ruhig und entschieden mit der Artikulation einer Person spricht, die gewöhnt ist, Autorität auszuüben.

    »Alter?«

    »Fünfunddreißig.«

    »Für wen arbeitest du?«

    Nájera zögert einen Moment. »Für den Piraten.«

    »Wer ist das?«

    »Einige Dealer in Lerdo.« Nájera benutzt den Ausdruck puchadores, der von »pusher«, dem englischen Wort für Straßendealer stammt.

    Das Video ist bearbeitet worden; es gibt zahlreiche Cuts. Das Blut, das Nájeras Brust hinunterrinnt, wird jedes Mal mehr, wenn das Bild einen zeitlichen Sprung macht. Die Stimme hinter der Kamera fragt, wer die Kuriere kontrolliert. Der Pirat. Er fragt, für wen der Pirat arbeitet. Nájera sagt: El Delta.

    »Wer ist El Delta?«

    »Ein Typ im Gefängnis.«

    Nájera fängt an zu zucken, sein Kopf bewegt sich ruckartig nach rechts und zurück.

    »Wie ist Deltas richtiger Name?«

    »Daniel Gabriel.«

    »Und was ist sein Job? Was macht dieser Kerl?«

    »Er schickt die Killer los, um Leute zu ermorden.«

    »Warum ist er im Gefängnis?«

    »Er wurde mit Drogen und Waffen festgenommen.«

    »Er ist ein Häftling?«

    »Ja.«

    »Wie oft verläßt er das Gefängnis?«

    »Jeden Abend nach acht.«

    »Wer läßt ihn gehen?«

    »Die Direktorin.«

    »Wie heißt sie?«

    »Ich kenne ihren Namen nicht.«

    Es gibt eine Pause, und man kann Stimmen im Hintergrund hören. Manche klingen, als kämen sie über Polizeifunk. Man hört den Wind in das Mikrophon der Kamera blasen und sieht, wie er die Äste des Baums im Hintergrund schüttelt. Der Mann zu Nájeras Linken in einem blauen T-Shirt schaut auf den Boden und verlagert sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und wieder zurück, dann schaut er in die Kamera. Er trägt über seiner Maske eine nach hinten gedrehte Baseballkappe. Er ist einige Zentimeter kleiner als der Mann auf der rechten Seite und scheint dünn und sehr jung zu sein.

    Die Stimme hinter der Kamera fragt nach Namen, Spitznamen und Dienstgraden von Polizei- und Regierungsbeamten, die für den Schutz der Todesschwadron aus dem Gefängnis sorgen. Nájera quält sich, aber liefert jedes Mal einen Namen, wenn die Stimme fragt: »Und wer noch?« In diesem Moment zoomt die Kamera Nájeras Gesicht heran. Sein rechtes Auge ist zugeschwollen. Man sieht Blutergüsse, Schnittverletzungen und Brandspuren auf seinem Gesicht. Nájera nennt einen weiteren Namen, worauf sofort dieselbe Frage folgt: »Und wer noch?« Er zögert, zuckt. Der Mann in dem blauen T-Shirt zu seiner Linken schaut von der Kamera zu ihm runter, greift dann nach dem halb abgetrennten Ohr und klappt es nach unten. Nájera liefert einen weiteren Namen. Und dann noch einen und noch einen und noch einen, bis die Kamera stoppt.

    In der nächsten Einstellung ringt Nájera nach Luft. Der Mann in dem blauen T-Shirt steht nahe hinter ihm, das Gewehr auf seinen Rücken gerichtet. Die Stimme fragt, wer dieser Güero Pollero ist. (Der Spitzname bedeutet in etwa »Blonder Schmuggler«.) Nájera sagt, daß er derjenige ist, der mit der Todesschwadron loszieht, um Menschen in Bars in Torréon zu töten. Die Stimme fragt, wer ihn schickt und warum. Nájera sagt, daß ein Mann namens Arturo, der nach Guadalajara geflohen sein soll, Güero Pollero losschickte, um Los Zetas in Torréon unter Druck zu setzen. Hier kann man eine andere Stimme außerhalb des Bildes zu Nájeras Linken hören, die ihm etwas sagt. Die Männer mit den Gewehren sind Mitglieder von Los Zetas, ein Kartell desertierter Soldaten einer Spezialeinheit der Armee, das während des von Präsident Felipe Calderon ausgerufenen Drogenkriegs das Hauptziel der staatlichen Kampfoperationen gewesen ist. In einer kurzen Pause, während Nájera die Warum-Frage beantwortet, wiederholt die Stimme links von der Kamera: »Um uns unter Druck zu setzen.« Nájera reagiert sofort auf das Stichwort und sagt: »Um Los Zetas unter Druck zu setzen.«

    Die Stimme, die die Befragung leitet, fragt: »Wer tötete die Leute im Quinta Italia?«

    Nájera: »Dieselben, Güero Pollero und seine Leute, auf Befehl von Arturo.«

    Nájera schildert dann, wie die Killer abends das Gefängnis verlassen, schwer bewaffnet, mit kugelsicheren Westen in Fahrzeugen des Gefängnisses. Man kann eine Stimme hören, die demjenigen, der das Gespräch führt, etwas zuflüstert. Nájera beschreibt noch mal, wie die Direktorin den Killern erlaubt, das Gefängnisgelände zu verlassen, wobei sie genau weiß, daß sie hinausgehen, um zu morden. Er wiederholt die Details mehrere Male: Die Männer verlassen das Gefängnis in der Nacht in Dienstfahrzeugen, mit Gefängniswaffen, um unschuldige Menschen im Territorium der Zetas zu töten, und die Gefängnisdirektorin läßt all das geschehen.

    Das Video ist neun Minuten und vierundfünfzig Sekunden lang. Um 21 Uhr 21 gibt es einen Schnitt, und dann ist es plötzlich Nacht. Die bewaffneten Männer stehen links und rechts von Nájera. Ein lautes mechanisches Geräusch füllt das Mikrophon, ein Generator vielleicht oder ein LKW-Motor. Scheinwerfer und Taschenlampen beleuchten Nájeras zerschundenes Gesicht. Das Blut, das über seine Brust rinnt, ist nun eine dicke Spur. Eine unsichtbare Stimme sagt, daß die vom »letzten Buchstaben« [gemeint sind Los Zetas] keine barbarischen Akte begehen oder unschuldige Menschen töten. Die Stimme fragt, warum die Gómez Palacio Gang Unschuldige in ihrem Territorium töte. Die Stimme fragt, ob die Gang lieber unschuldige Menschen tötet, weil sie es nicht wagen, »dem letzten Buchstaben« direkt gegenüber zu treten. Nájera antwortet: »Ja, Señor.«

    »Weil sie uns nicht besiegen können?«

    »Nein, Señor.«

    Wieder ein Schnitt. Nájera ist nun auf den Knien. Allein. Zwei Schatten treten zurück, einer auf jeder Seite. Ein Schuß, Nájera stürzt vornüber.

    Das Video wurde an einem Donnerstagabend ins Netz gestellt. Am nächsten Morgen verhafteten Bundespolizisten Margarita Rojas Rodríguez, die Direktorin des Gefängnisses in Gómez Palacio, und drei weitere Gefängnisbeamte. Am Sonntag gab der Sprecher des Büros des Generalbundesanwalts die Verhaftungen bekannt und bestätigte die Verantwortung der Todesschwadron für die jüngsten Massaker in Torreón, erwähnte aber das auf der Website blogdelnarco.com gepostete Video nicht.

    Ein Tod ohne Namen. Ein Tod, der auslöscht, wer du warst, zusammen mit dem, der du bist. Ein Tod, der dich der Welt zeigt als ein Zeugnis nur für den Tod selbst. Alles, was bleibt, ist dein zerstörter Körper auf einem unbebauten Grundstück, von einer Autobahnbrücke hängend oder eingeschlossen im Kofferraum eines Autos. Dein Name ist durchgetrennt, abgeschnitten und weggeworfen. Die einzige Geschichte, die mit deinem Körper verbunden bleibt, ist die deines besonderen Todes: Einschußlöcher, Verbrennungen, Schnittwunden, Quetschungen, abgetrennte Glieder. Die Vollstrecker auf diesem Tötungsfeld zerstören jeden Menschen zweimal. Zuerst löschen sie deine Welt aus; wenn du Glück hast, tun sie es mit einem Kugelhagel. Aber dann, wenn du tot bist, verwandeln sie deinen Körper in eine Botschaft. Du wirst als Kurzmeldung auf dem Fernsehschirm erscheinen. Du wirst mit Farbfoto auf den Titelseiten der Boulevardblätter gedruckt und an den Zeitungskiosken in den Städten überall im Land aufgehängt, deine entstellte Leiche neben den Fotos von Fußballspielern und Modells im Bikini. Du wirst deinen Namen verlieren. Du wirst deine Vergangenheit verlieren, die Geschichte deiner Lieben und Ängste, Triumphe und Fehlschläge und all der kleinen Dinge dazwischen. Die auf dich schauen, werden nur Tod sehen.

    Aber Namen sind zu vielen bekannt, um ganz ausradiert oder vernichtet zu werden. Namen hinterlassen immer Spuren. Selbst wenn sie dich töten, deinen Körper zerlegen oder mit Klebeband fesseln und deine Überreste am Straßenrand liegen lassen, dein Name wartet.

    José Humberto Márquez Compeán. Er wurde gefunden wie so viele: gefoltert, getötet, in eine Decke gewickelt (encobijado – der Verhüllte – heißt das Kunstwort) und auf ein leeres Grundstück am Rande von San Nicolás de los Garza, nahe Monterrey in Nuevo León geworfen. Auf den ersten Blick erschien er nur als ein weiterer Toter auf der Liste von 22000 Drogenland-Exekutionen in Mexiko zwischen Dezember 2006, als Präsident Felipe Calderon von der rechten Partei der Nationalen Aktion (PAN) seinen selbsterklärten »Krieg« gegen Drogenhändler startete, und Ende März 2010, als ein einheimischer Reporter Márquez Compeáns gefesselten, leblosen Körper auf einem vertrockneten Stück Erde fotografierte. Dies waren die Fakten: Tod, ein von Schlägen gezeichneter Leichnam, ein karges Feld in San Nicolás de los Garza. Hinter diesen Tatsachen kann man die Absichten derjenigen erkennen, die Compeán töteten und die Leiche dort abluden, sein Leben beenden und seinen Körper in eine namenlose tote Masse verwandeln.

    Aber es gab eine Panne. Der Reporter, der auf die Story angesetzt war, sah mehr als die Botschaft des Todes. Durch reinen Zufall erkannte Francisco Cantú, ein 37jähriger Reporter des Medienkonzerns Multimedios in Monterrey, ein kaffeebraunes Hemd mit einem auf der Brust angenähten orangefarbenen Buchstaben B wieder. Cantú hatte das Hemd und den Mann, der es trug, José Humberto Márquez Compeán, nur wenige Stunden zuvor gesehen. Ja, er hatte Compeán sogar fotografiert.

    Cantú hatte an jenem Montagmorgen um halb sechs gerade seine Schicht begonnen, als der Redakteur ihm mitteilte, daß es ein Feuergefecht in San Nicolás de los Garza gegeben habe. Cantú machte sich sogleich auf den Weg, aber unterwegs bekam er einen Anruf. Es handle sich nicht um eine Schießerei, sondern vielmehr um eine Leiche, die auf einem verlassenen Grundstück gefunden sei, sagte sein Redakteur. Er solle trotzdem hinfahren und ein paar Bilder machen. Cantú war der erste Reporter vor Ort. »Ich machte zuerst Aufnahmen aus einiger Entfernung«, erzählte mir Cantú, »und dann näherte ich mich langsam, um rauszufinden, ob die anwesenden Polizisten irgendetwas sagten.« Als er bemerkte, daß niemand ihm Aufmerksamkeit schenkte, ging er direkt zur Leiche. »Ich machte ein Foto, und als ich darauf schaue, sehe ich das B auf dem Hemd. Oh verdammt! Das ist doch der Typ von gestern.«

    Er ging zurück zu seinem Wagen und öffnete seinen Laptop, um sich die Fotos vom Vortag anzuschauen. »Ich sehe sofort, daß es dieselbe Person ist«, sagte Cantú, »wegen des T-Shirts, er hatte dasselbe braune T-Shirt, aber sein Gesicht war durch die Schläge entstellt.« Der Mann, der am Montagmorgen tot in San Nicolás de los Garza lag, war derselbe, den Cantú am Sonntagnachmittag fotografiert hatte. In der ersten Serie von Fotos geht Compeán mit auf dem Rücken gebundenen Händen, schaut nach unten, mit einem Gesichtsausdruck zwischen Trotz und Angst. Soldaten der mexikanischen Marine umringen ihn. Sie bringen ihn zu einem Pickup. Compeán ist in Militärgewahrsam, trägt Handschellen, ist aber unverletzt. Es ist Sonntagnachmittag. Dann erschien er wieder am Montagmorgen in der Öffentlichkeit als Toter auf einem Feld.

    Compeáns Frau, Hilda Rodríguez, erzählte Cantú und seinen Kollegen von Milenio Televisión, einem Sender von Multimedios: »Ich sah in den Nachrichten, wie sie ihn zu einem Polizeiwagen brachten und dann zu einem Hubschrauber, und am nächsten Tag findet man ihn tot. Warum haben sie ihn getötet? Wer tötete ihn? Ich will Gerechtigkeit. Ich habe drei Kinder.«

    Am Sonntag, den 21. März 2010, verhaftete ein Konvoi der örtlichen Polizei in Santa Catarina Compeán und José Adrián Lucio Barajas. Der Konvoi war auf dem Weg zur Stadthalle, als die Polizisten angeblich beobachteten, wie die beiden Männer Drogen verkauften. René Castillo, der Sicherheitschef von Santa Catarina, und der Polizeichef Luis Eduardo Murrieta saßen

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