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Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten
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eBook383 Seiten5 Stunden

Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten

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Über dieses E-Book

Wer Peru literarisch kennenlernen will, muss Arguedas lesen: Sein Meisterwerk "Die tiefen Flüsse" ist ein interkultureller Bildungsroman, ebenso indianisch wie westlich geprägt.

Jahrelang ist Ernesto mit seinem Vater, einem mittellosen Anwalt, von einem Dorf zum nächsten gereist. Dem Kindesalter entwachsen, kommt er schließlich auf ein katholisches Internat in der Provinzhauptstadt Abancay, hoch oben in den Anden. Dort ist zum Beispiel Añuco, der Sohn des verarmten Großgrundbesitzers, der zusammen mit dem Kraftprotz Lleras die jüngeren Schüler malträtiert; Palacitos, ein scheuer, kaum des Spanischen mächtiger Indio; Gerardo, der Sohn des Militärkommandeurs; Ántero, der Ernesto mit der Magie eines Kreisels verzaubert, dessen sphärischer Klang den Schulhof erfüllt und zum letzten Mal unbeschwerte Kindheit vorgaukelt. Denn des Nachts wird derselbe Schulhof zu einem düsteren, unheimlichen Ort, wo sich die schwachsinnige Küchenmagd den älteren Schülern hingibt. Arguedas zeichnet sie als Vorbotin der Katastrophe, die über Abancay und das Internat hereinbricht – und in der allein Ernesto einen kühlen Kopf bewahrt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Sept. 2019
ISBN9783803142634
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    Buchvorschau

    Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten - José María Arguedas

    Aus dem peruanischen Spanisch von Matthias Strobel

    Mit einem Vorwort von Marco Thomas Bosshard

    Die Originalausgabe erschien 1971 postum unter dem Titel El zorro de arriba y el zorro de abajo bei Editorial Losada in Buenos Aires, die kritische Ausgabe (herausgegeben von Eve-Marie Fell), die hier als Textgrundlage dient, 1990 bei ALLCA XX in Madrid.

    Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom e.V. – Literaturen der Welt.

    Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die Förderung seiner Arbeit am vorliegenden Text.

    E-Book-Ausgabe 2019

    © 1971, 2019 Sybila Arredondo de Arguedas

    © 2019 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

    Covergestaltung: Julie August. Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    ISBN: 9783803142634

    Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3316 8

    www.wagenbach.de

    Marco Thomas Bosshard

    Literatur als Vermächtnis

    Der Jahrhundertroman Der Fuchs von oben und der

    Fuchs von unten und das Leben und Sterben seines Autors

    Vor fünfzig Jahren setzte José María Arguedas, der wichtigste peruanische Romancier des 20. Jahrhunderts, seinem Leben ein Ende. Am 28. November 1969 schoss er sich in der Universidad Nacional Agraria in Lima, wo der gelernte Ethnologe seit 1967 dem soziologischen Institut vorstand, in die Schläfe und verstarb vier Tage später, am 2. Dezember 1969, im Krankenhaus. Sein letzter und erst 1971 postum veröffentlichter Roman Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten (im Original El zorro de arriba y el zorro de abajo), den der Wagenbach Verlag anlässlich seines fünfzigsten Todestages hiermit erstmals in der ergreifenden Übersetzung von Matthias Strobel dem deutschsprachigen Publikum zugänglich macht, zeugt von der wachsenden Verzweiflung und Depression Arguedas’, denn Teile seiner Tagebücher sind fester Bestandteil dieses Fragment gebliebenen Romans.

    Verglichen mit unserer Zeit, in der das Spiel mit autobiographischen Referenzen und Autofiktionen in der Gegenwartsliteratur manch postmoderne Blüte treibt, ist Arguedas’ Roman – authentischer Bericht und Fiktion in einem – von anderem Kaliber. Literatur war für Arguedas nie ein Selbstzweck, auch kein Mittel zur Evasion oder gar zur Befriedigung von Leserbedürfnissen. Im Gegenteil bildeten Kunst und Leben bei ihm eine unzertrennliche Einheit – und das, wie das Beispiel von Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten zeigt, bis zum bitteren, letzten Ende.

    Ein Jahr vor seinem Tod, in einer vorübergehenden Phase des Optimismus und des kreativen Schaffens an seinem letzten Roman, hat Arguedas anlässlich der Verleihung des Premio Inca Garcilaso in seiner Dankesrede die wohl programmatischsten Äußerungen zu seinem Selbstverständnis als Künstler und seinem Werk getätigt. Diese Rede sollte nach dem letzten Willen Arguedas’ seinem Roman Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten als Prolog vorangestellt werden (in dieser Ausgabe findet sie sich, in Anlehnung an die kritische spanischsprachige Ausgabe, die der vorliegenden Übersetzung zugrunde liegt, am Ende des Romans). In ihr verkündet der Autor mit Blick auf den in seinen Texten allgegenwärtigen Zusammenprall der indianischen mit der europäischen Kultur, an die sich erstere in den Augen der westlich geprägten Eliten Perus anzupassen beziehungsweise zu »akkulturieren« habe: »Ich bin kein Akkulturierter; ich bin ein Peruaner, der mit dem Stolz eines glücklichen Teufels sprechen kann wie ein Christ und wie ein Indio, auf Spanisch und auf Quechua.« Und er fährt fort, indem er dem westlichen Fortschrittsdenken den Reichtum der andinen Kultur entgegensetzt: »In der Technik sind sie uns überlegen, beherrschen sie uns, wer weiß wie lange noch, aber in der Kunst können wir sie bereits zwingen, von uns zu lernen, können es sogar tun, ohne uns von hier zu entfernen.« Denn mit ihren »sprechenden Enten« in Seen auf 4000 Metern Höhe, wo »alle Insekten Europas ersticken würden«, und mit ihren »Kolibris, die bis zur Sonne fliegen, um ihr Feuer zu trinken«, bildet die Mythenwelt der Anden die Keimzelle von Arguedas’ Schaffen. Die beiden titelgebenden sprechenden Füchse aus seinem letzten Roman, die wie ein in die Anden versetzter griechischer Chor das Schicksal von Arguedas’ Romanfiguren kommentieren, gehören in dieselbe Reihe mythischer Gestalten, die in einen Dialog mit der westlichen Moderne treten.

    Diese Spannungen zwischen der andinen, indianischen Kultur und dem Okzident haben Arguedas zeit seines Lebens geprägt. Geboren 1911 in dem Andenstädtchen Andahuaylas, ist Arguedas’ Kindheit und Jugend gekennzeichnet von steten Ortswechseln in ganz Peru. Arguedas’ Mutter, Tochter eines wohlhabenden Großgrundbesitzers, stirbt schon früh. Der Vater heiratet wenig später erneut und siedelt mit seinen beiden Söhnen Arístides und José María nach Puquio und dann nach San Juan de Lucanas über. Während Arguedas’ älterer Bruder schon bald nach Lima geht, um dort die Schule zu besuchen, und der Vater oft monatelang beruflich unterwegs ist, bleibt José María allein bei seiner Stiefmutter und seinem verhassten Stiefbruder Pablo zurück, den Arguedas als Inbegriff eines gamonal porträtiert, eines ausbeuterischen, die indianischen Bediensteten und Arbeiter verachtenden Großgrundbesitzersöhnchens. Arguedas hat behauptet, dass er in Abwesenheit seines Vaters gezwungen wurde, mit den indianischen Dienstboten der Hazienda in der Küche zu essen und dort zu schlafen. Die emotionalen Bezugspersonen während seiner Kindheit waren deshalb, neben dem selten anwesenden Vater, mehrheitlich Indigene, sodass Arguedas eine besondere affektive Beziehung zum Quechua aufbaut, das er nicht nur einfach – wie jedermann im peruanischen Hochland zu jener Zeit – spricht, sondern in dem er sich vor allem in seiner Lyrik auch künstlerisch ausdrücken wird.

    Im Alter von zwölf Jahren begleitete Arguedas seinen Vater, der als Anwalt tätig war und auf der Suche nach Arbeit von einem Ort zum nächsten zog, auf einer seiner langen Reisen, die ihn unter anderem in die großen andinen Städte Huamanga (Ayacucho), Cuzco und Abancay führte, wo er zwei Jahre lang ein Klosterinternat besuchte. Diese einschneidend-eindrückliche Erfahrung bildet den – wie so oft bei Arguedas – autobiographischen Hintergrund des 1958 erschienenen Romans Die tiefen Flüsse (im Wagenbach Verlag als Taschenbuch lieferbar). Die Sekundarschule absolvierte er dann, weiterhin nomadenhaft, zunächst in Ica an der peruanischen Pazifikküste, später wiederum im andinen Huancayo – um schließlich das letzte Schuljahr in der Hauptstadt Lima zu verbringen, wo er 1931 an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos, der ältesten Universität Südamerikas, zu studieren begann.

    Aus jenen Jahren stammen Arguedas’ erste literarische Veröffentlichungen: 1933 die erste Kurzgeschichte mit einem Titel auf Quechua – Warma kuyay (»Kinderliebe«) –, 1935 der erste Erzählband Agua (»Wasser«). 1937 wird Arguedas für ein Jahr inhaftiert, nachdem er öffentlich gegen einen Gesandten Mussolinis protestiert hat, was er Jahre später in seinem Roman El Sexto von 1961 (der Titel bezieht sich auf den Namen des Gefängnisses) verarbeiten wird. Wieder in Freiheit, veröffentlicht er 1941 seinen ersten Roman, Yawar fiesta, in dessen Titel sich das Quechua programmatisch mit dem Spanischen verbindet. Yawar bedeutet »Blut«, fiesta das »Fest« – und der Titel als Ganzer (»Das Blutfest«) spielt auf ein Ritual in den andinen Dörfern und Städten an, in dem sich die Fusion spanischer und indianischer Elemente manifestiert: Es besteht in einem Stierkampf, bei welchem dem Stier ein Kondor auf dem Nacken festgebunden wird und der so lange dauert, bis der Stier – gereizt und ermattet von den Schnabelhieben des Vogels und seiner Krallen – stirbt. Das Ritual suggeriert die potentielle Besiegbarkeit der europäisch-spanischen Kultur der Invasoren, für die der Stier metaphorisch steht, durch die mit dem Kondor assoziierte andine Tradition.

    Neben seinem Schreiben wird Arguedas in jenen Jahren zu einem der wichtigsten Förderer der andinen Folklore. Er sammelt und ediert nicht nur das Liedgut der Quechua und publiziert und interpretiert andine Mythen – etwa denjenigen von der Wiederkehr des Inkarri, des Königs der Inka –, sondern ist in verschiedenen Funktionen für das Erziehungsministerium tätig, sitzt Kulturkommissionen vor, leitet Museen und verschafft den großen, von den kreolischen Eliten bisher belächelten andinen Volksmusikern und huayno-Interpreten ihre ersten Plattenverträge. Parallel setzt er sein Studium an der Universität San Marcos fort und promoviert dort im Alter von 52 Jahren in Ethnologie. Für seine Dissertation betrieb er Feldforschung nicht nur in den Anden, sondern auch in Dorfgemeinschaften der spanischen Provinz Zamora, hält Europa also gleichsam seinen eigenen völkerkundlichen Spiegel vor. Bis 1968 unterrichtet er Ethnologie an seiner Alma mater und bis zu seinem Tod auch an der Universidad Nacional Agraria La Molina.

    1964 veröffentlicht Arguedas den auf Deutsch manchmal noch antiquarisch in DDR-Ausgaben auffindbaren Roman mit dem in der Übersetzung irreführenden Titel Trink mein Blut, trink meine Tränen (im Original Todas las sangres), sein bis dato ambitioniertestes Buch, das – unter anderem – die Enteignung von Ländereien zugunsten eines ausländischen Bergbauunternehmens zum Thema hat. An dem Roman entzündet sich eine Polemik, die Arguedas an sich und seiner künstlerischen Schaffenskraft zweifeln lässt und 1966 – im Zusammenspiel mit vielen anderen, persönlichen Faktoren, etwa der Scheidung von seiner ersten Frau Celia – einen ersten Selbstmordversuch nach sich zieht: Eine Gruppe von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Kritikern bezeichnet den Roman als soziologisch unpräzise. Und nicht nur auf nationaler Ebene mehren sich die Angriffe auf den zunehmend dünnhäutig reagierenden Arguedas: Der gefeierte shooting star des lateinamerikanischen Booms, der Argentinier Julio Cortázar, äußert sich in einem Interview abfällig über Arguedas und bezeichnet den peruanischen Schriftsteller als Provinzautor. Nur halbherzig wird er von seinem Landsmann Mario Vargas Llosa verteidigt, der in jener Zeit gemeinsam mit Julio Cortázar, Gabriel García Márquez und Carlos Fuentes zu einem der international erfolgreichsten Vertreter der neuen lateinamerikanischen Literatur avanciert und 1978 ein ganzes Buch über Arguedas veröffentlicht hat (La utopía arcaica: José María Arguedas y las ficciones del indigenismo) – ohne ihm jedoch gerecht zu werden. Arguedas verfällt in schwerste Depressionen. Weder eine psychotherapeutische Behandlung noch die Heirat mit der Chilenin Sybila Arredondo 1967, einer Patentochter der Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral, führen zu einer nachhaltigen Verbesserung seines Zustands. Wie schwer sich der von Selbstzweifeln geplagte Arguedas mit den eloquenten, selbstbewussten, jungen, kommerziell erfolgreichen und weltläufigen Boom-Autoren jener Zeit tut, lässt sich im ersten Tagebuch in Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten nachlesen: Vertrauen und wirkliche Freundschaft verbinden ihn nur mit dem Mexikaner Juan Rulfo, der sich in seiner Literatur, wie Arguedas in Peru, mit dem mestizisch-indigenen Erbe seines Landes auseinandersetzte, und mit dem brasilianischen Romancier João Guimarães Rosa, der in seinen Romanen ebenfalls dem einfachen Mann aus dem sertão eine literarische Stimme verlieh.

    Ebenfalls 1966 übersetzt Arguedas eine der wichtigsten indigenen Quellen der Kolonialzeit erstmals aus dem Quechua ins Spanische: das sogenannte Manuskript von Huarochirí, das der deutsche Ethnologe Hermann Trimborn wiederentdeckt und bereits 1939 ediert hat. In diesem Textkonvolut stößt Arguedas auf die beiden sprechenden Füchse – den Fuchs von oben und den Fuchs von unten –, die in seinem im Entstehen begriffenen letzten Roman eine tragende Rolle spielen werden.

    Bereits im Manuskript von Huarochirí markieren die beiden Füchse zwei kulturell völlig unterschiedliche Territorien: Der Fuchs von oben repräsentiert das landwirtschaftlich ertragreiche Hochland – die sierra – und die von dort stammenden indianischen Hochkulturen bis zu den Inka, wohingegen der Fuchs von unten für die karge Wüstenlandschaft der Pazifikküste – die costa – steht. Dort siedelten zwar ebenfalls eminente indianische Zivilisationen, jedoch ist die costa seit der Conquista in erster Linie mit den wichtigen Kolonial- und Hafenstädten der spanischen Invasoren assoziiert. In den Jahren von Arguedas’ Lehrtätigkeit hat die andine Anthropologie – allen voran der ukrainischstämmige Peruanist John V. Murra, mit dem Arguedas eine tiefe Freundschaft verband – die immense Wichtigkeit der ›Vertikalität‹ als dem entscheidenden epistemologischen Strukturprinzip der Andenkulturen auch wissenschaftlich detailliert herausgearbeitet: Nicht nur haben die Inka ihre Städte nach dem Prinzip des ständigen Ausgleichs von hanan und hurin – Quechua für ›oben‹ und ›unten‹ – geplant und gebaut, auch die ungemein vielfältige Landwirtschaft der Anden basiert auf der agrarischen Nutzbarmachung unterschiedlichster Klimastufen zwischen der Puna des Hochlands ganz oben und den tropischen Zonen des Amazonas und der ariden Küstenlandschaften ganz unten, die auf der vertikalen Achse nur wenige Kilometer auseinanderliegen.

    Genau diesen Gegensatz zwischen hanan und hurin, zwischen Oben und Unten, projiziert Arguedas nun auf das moderne Peru der Küstenstadt Chimbote – und verlässt damit erstmals in seiner literarischen Karriere das Andenhochland als der Hauptszenerie seiner Fiktion. Arguedas zeichnet Chimbote, das sich im Zuge des starken Wachstums der Fischmehlindustrie innerhalb weniger Jahre von einem kleinen Städtchen zu einer Großstadt gewandelt hat, als kapitalistischen Moloch, der auf die Arbeitskraft der unzähligen indianischen und mestizischen Migranten angewiesen ist. Auf der Suche nach einem wirtschaftlich besseren Leben verlassen diese ihre andine Umgebung und siedeln vom Hochland in die Küstenstädte über. So stehen sich in diesem modernen Widerstreit von hanan und hurin die traditionelle, auf Vielfalt, Nachhaltigkeit und Ausgewogenheit gründende agrarische Wirtschaftsform der Andenkulturen einerseits und die auf Gewinnmaximierung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen und menschlicher Arbeitskraft basierende Wirtschaftsform des modernen Industriekapitalismus andererseits gegenüber. Der mythenumwobene Fischmehlmagnat Braschi, von dem in Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten zwar immer wieder die Rede ist, der aber kein einziges Mal im Roman selber auftritt, setzt hierbei auf eine perfide Strategie wirtschaftlicher Akkulturation, indem er seinen indianischen Arbeitern in den Fabriken zwar überdurchschnittliche Löhne zahlt – ebenso wie die Fischer Chimbotes für ihre Sardellen gute Preise erzielen –, gleichzeitig aber auch zum exzessiven Konsum animiert: Sie sollen ihr verdientes Geld möglichst vollständig wieder in den unzähligen Bordellen der Stadt ausgeben, die Braschi ebenfalls kontrolliert, oder sich verschulden, indem sie eigene Häuser kaufen, die ihnen der Industrielle – auf Kredit, versteht sich – finanziert. Die andinen Migranten aus dem Hochland verlieren auf diese Weise mehr und mehr die Bindung an ihre Ursprungskultur und frönen den Verheißungen des westlichen Kapitalismus – eine Tendenz, die sich, von Arguedas bereits in den 1960er Jahren registriert, während des bemerkenswerten peruanischen Wirtschaftswachstums der letzten Jahre unter neoliberalen Vorzeichen weiter verstärkt hat und deshalb so aktuell erscheint wie damals.

    Im dritten Kapitel des Romans tritt erstmals Don Diego auf, eine geheimnisvolle Figur, die sich gleichzeitig europäisch und indianisch kleidet, unendlich schnell die Sanddünen rund um Chimbote hinaufrennen kann und mit ihrem Tanz den Fabrikdirektor Rincón zu Gesängen animiert. Immer wieder weist Arguedas’ Erzähler auf Diegos längliches, tierartiges Gesicht und auf seinen seltsamen Schnurrbart hin. Als ihn der Fabrikdirektor dann auch noch fragt: »Wussten Sie, dass in den Erzählungen der Indios, Cholos und Zambos, die man sich hier im ›Vaterland‹ erzählt, der Fuchs Diego heißt?«, kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass sich einer der Füchse – wie wir sehen werden, der Fuchs von unten – aus dem Romantitel immer stärker in die Handlung einmischt: Die mythisch-magische Gestalt des Fuchses trifft auf die krude soziale Realität einer Industriestadt.

    In diesen Erzählungen und Fabeln aus den Anden wird der Fuchs – atuq auf Quechua – häufig auch Antonio genannt; fast immer trägt er also einen spanischen Namen. Selten gehen diese Geschichten gut für ihn aus: Auch wenn er durchaus nicht auf den Kopf gefallen ist, kann sich der andine Fuchs nicht mit dem listenreichen Fuchs aus europäischen Fabeln messen, denn meistens zieht er den Kürzeren. Als nicht sonderlich sympathischem, häufig verspottetem trickster kommt dem Fuchs in den andinen Fabeln eine ambivalente Funktion zu: Nicht nur bringt der andine Fuchs die Welt regelmäßig aus dem Gleichgewicht – er erscheint in einigen Erzählungen auch als Zivilisationsbringer. So lässt sich der Fuchs Antonio in einer der bekanntesten Fabeln vom Kondor als ungebetener Gast zu einem Bankett in den Himmel fliegen, wo er nichts Besseres zu tun hat, als alle anderen tierischen Gäste zu beleidigen und sich den Bauch vollzuschlagen. Da ihn deshalb kein anderer Vogel wieder nach unten auf die Erde zurückbringen will, klettert der Fuchs an einem Strick nach unten und stürzt ab. Dabei werden die Samen und Essensreste aus seinem Bauch über die Erde verstreut – und die Landwirtschaft kommt durch ihn und sein Missgeschick zu den Menschen.

    Arguedas lässt seinem Don Diego eine ähnliche Funktion zuteilwerden: Don Diego bringt es nicht nur fertig, die kapitalistischen Produktionsabläufe in der Fischmehlfabrik durch seine indianisch inspirierten Tänze kurzzeitig zu stören, er kann auch mit allen noch so unterschiedlichen Figuren des Romans in ihrer jeweils eigenen, charakteristischen Sprache auf Augenhöhe kommunizieren. Er bringt die bestehende Ordnung aus dem Gleichgewicht und regt eine neue Art des Austauschs an, der Grenzen überwindet: Sogar einem Stotterer gelingt es in seiner Gegenwart, wieder flüssig zu sprechen, und bei seinem letzten Auftritt im Roman inspiriert Don Diego den US-amerikanischen, Che Guevara verehrenden Priester Michael Cardozo zu einer irr- und unsinnigen finalen Rede nahe am hermeneutischen Delirium, die sämtliche sprachlichen Register der indianisch-mestizischen Migrantengesellschaft Chimbotes zwischen Tradition und Moderne miteinander vermischt.

    Die immense Vielfalt dieser sprachlichen Register Arguedas’ auch im Deutschen nicht nur erahnbar, sondern auch wirklich fassbar zu machen ist das unendlich große Verdienst der vorliegenden Erstübersetzung dieses Klassikers der modernen lateinamerikanischen Literatur durch Matthias Strobel. Denn die sprachliche Polyphonie des Romans ist Programm, korrespondiert mit dem Anspruch des Autors, ein Kaleidoskop der modernen peruanischen Gesellschaft im Umbruch zu zeichnen: So steht das gestochene Spanisch der Kapitalisten kommentarlos neben dem ›falschen‹, grammatikalisch und syntaktisch verqueren Spanisch der Arbeitsmigranten aus dem Hochland, deren Muttersprache Quechua nur drei Vokale kennt. So sprechen sie viele Vokale falsch aus, während die mestizischen Fischer eine vulgäre Gossensprache pflegen, die wiederum mit der poetischen Sprache des Erzählers einerseits und dem schonungslos-nüchternen Ton der Selbstreflexionen des Autors in den Tagebucheinträgen andererseits kontrastieren.

    Die Interventionen von Don Diego, dem Fuchs von unten, der im ständigen Dialog mit dem Fuchs von oben und den verlorenen Figuren des Romans die unvereinbaren Welten Perus zusammenzubringen versucht, mögen einigen der unzähligen Fischer, Arbeiter, Prostituierten, Bergleute, Verrückten, Aussteiger, die die wenigen fertiggestellten Kapitel von Arguedas’ Roman bevölkern, einen Ausweg aus ihrer schwierigen Lage weisen. Viele dieser Figuren werden jedoch scheitern und sterben, wie Arguedas in den abschließenden Tagebucheinträgen andeutet. Auch Arguedas selbst scheitert – an Chimbote und am Leben, nicht anders als seine Protagonisten – und muss sich schließlich eingestehen, seinen Roman nicht weiterschreiben und sein Leben nicht weiterleben zu können. Doch anders als seinen Romanfiguren, die bis zuletzt kämpfen, ist sich der Autor der Ausweglosigkeit seiner Situation sehr wohl bewusst. Während die Romanhandlung, kaum kommt sie in Bewegung, mit dem Selbstmord des Autors schon wieder endet, machen die Tagebucheinträge Arguedas’ Entschluss, sich das Leben zu nehmen, nachvollziehbar.

    Die anthropologisch-soziologische Außenperspektive auf die Romanfiguren im fiktionalen Teil des Buchs bildet auf diese Weise das Gegenstück zu einer intimen, auf Introspektion ausgerichteten Schreibweise in den nichtfiktionalen Teilen, in der die psychischen Abgründe des Autors sichtbar werden. Hurin obsiegt über hanan, das Unten über das Oben, wir verfolgen Don Diego, den Fuchs von unten, während wir den Fuchs von oben aus dem Blick verlieren: Nicht umsonst entspricht die hurin pacha oder ukhu pacha in der andinen Kosmologie der Unterwelt. Hurin steht deshalb auch für die Welt der Toten, in die sich der Autor schließlich freiwillig begibt und die in der Topographie des Romans mit Chimbote als Ort des Leidens und Sterbens zusammenfällt. Doch ist der Tod im andinen Verständnis kein teleologischer Endpunkt, keine letzte Zäsur: »Los muertos viven« – »die Toten leben« –, hat Arguedas’ Landsmann Gamaliel Churata, ebenso wie jener auf der Suche nach genuinen, adäquaten Darstellungsformen indoamerikanischen Denkens in der modernen Literatur, dereinst formuliert: Die Kommunikation zwischen den Welten wird über den Tod hinaus weitergeführt, kommt durch ihn nicht zum Erliegen. In diesem Sinne ist es an der Zeit, dass fünfzig Jahre nach Arguedas’ Tod nun auch die westliche Welt – Arguedas’ letzter Roman war in Europa bisher lediglich in italienischer Übersetzung zugänglich – und mit ihr die deutsche Leserschaft in einen Dialog mit dem peruanischen Autor und seinem literarischen Vermächtnis tritt.

    Die selbstreflexiv fundierte Verquickung von Kunst, Leben und Tod sowie das fatale Ringen mit dem Totalitätsanspruch machen Arguedas’ Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten nicht nur zu einem der ambitioniertesten Romane, sondern auch zu einer der existentiellsten Leseerfahrungen in der Literatur des 20. Jahrhunderts.

    Mit bangem Gefühl widme ich diese verkrüppelte und unausgewogene Erzählung E. A. W. und dem Geiger Máximo Damián Huamani aus San Diego de Ishua.

    ERSTER TEIL

    Erstes Tagebuch

    Santiago de Chile, 10. Mai 1968

    Im April 1966, vor gut zwei Jahren also, habe ich versucht, mir das Leben zu nehmen. Im Mai 1944 hatte sich ein psychisches Leiden aus der Kindheit schon einmal zu einer Krise ausgewachsen, und ich hatte fast fünf Jahre lang nicht schreiben können. Die Begegnung mit einer fülligen jungen Zamba gab mir das zurück, was die Ärzte »Lebenstonus« nennen. Die Begegnung mit dieser fröhlichen Hure muss der subtile, hochkomplexe Anstoß gewesen sein, den mein Körper und meine Seele brauchten, um die gekappte Bindung zu allen Dingen wiederherzustellen. War diese Verbindung stark, konnte ich dem Wort die Materie der Dinge übertragen. Seit damals habe ich mit Unterbrechungen gelebt, leicht verstümmelt. Die Begegnung mit der Zamba konnte die Leselust in mir nicht vollständig wiederbeleben. In all den Jahren habe ich nur wenige Bücher gelesen. Und nun stehe ich wieder kurz vor dem Selbstmord. Wieder sehe ich mich außerstande, richtig zu kämpfen, richtig zu arbeiten. Und ich möchte nicht wie damals, im April 66, zu einem nichtsnutzigen Kranken werden, einem bedauernswerten Zeugen der Ereignisse.

    Tagelang habe ich im April 66 auf den besten Moment gewartet, um mich zu töten. Mein Bruder Arístides besitzt einen Umschlag, der alle Überlegungen darüber enthält, warum ich mich an diesem oder jenem Tag nicht umbringen konnte. Heute habe nicht so sehr vor dem Tod selbst Angst als vielmehr davor, ihn herbeizuführen. Ein Revolver ist schnell und sicher, aber nicht so einfach zu besorgen. Inakzeptabel erscheint mir das schmerzhafte Gift, das die Armen in Lima benutzen, um sich das Leben zu nehmen; an den Namen des Insektizids erinnere ich mich gerade nicht. Was den physischen Schmerz angeht und sicher auch den Moment des Todes selbst, bin ich ein Feigling. Die Pillen – die, wie man mir versichert hat, unter Garantie töten – bescheren einen fantastischen Tod, wenn sie denn töten. Denn wenn nicht, endet man so wie ich, und der Tod klebt an einem fest, nur weil der Körper noch stark ist. Eine unbeschreibliche Empfindung ist das: Es streiten sich in einem – sinnlich wie poetisch – der Wunsch zu leben und der Wunsch zu sterben. Wer so beschaffen ist wie ich, sollte lieber sterben.

    Ich fülle diese Seiten, weil man mir bis zum Überdruss erklärt hat, ich müsse nur wieder schreiben, dann würde ich gesund. Da ich jedoch über selbst gewählte, ausgefeilte Themen, ob kleine oder anspruchsvolle, nicht schreiben kann, werde ich über das Einzige schreiben, was mich noch reizt: dass ich es nicht geschafft habe, mich umzubringen, und mir nun den Kopf darüber zerbreche, wie ich doch noch mit Anstand aus dem Leben scheiden kann, ohne all diejenigen, die mein Verschwinden bedauern werden, und all diejenigen, die irgendeine Art von Vergnügen empfinden werden, über Gebühr zu belästigen. Wie wundersam doch meine – und nicht nur meine – Sorge ist, den Selbstmord so zu arrangieren, dass er möglichst gelungen ist. Vermutlich ist dies ein natürlicher Ausdruck der Eitelkeit, des gesunden Menschenverstands und vielleicht auch des Egoismus, die im Gewand von Großzügigkeit und Erbarmen auftreten. Ich werde also versuchen, dieses Thema zu verknüpfen, das einzige Thema, dessen Essenz ich so lebe und empfinde, dass ich es dem Leser vermitteln kann; zu verknüpfen mit den Motiven dieses Romans, den ich endlich getauft habe auf den Namen: Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten; zu verknüpfen mit all dem, was mir in so vielen Momenten durch den Kopf gegangen ist über die Menschen und über Peru, ohne dass es spezifisch für den Roman vorgesehen gewesen wäre.

    Gestern Abend habe ich beschlossen, mich in Obrajillo, Provinz Canta, oder in San Miguel zu erhängen, sollte ich keinen Revolver auftreiben können. Für den, der mich findet, wird das kein schöner Anblick werden, aber Erhängen führt nun mal, wie ich mich vergewissert habe, den Tod rasch herbei. In Obrajillo und in San Miguel könnte ich zuvor noch die umherstreunenden Schweine am Kopf kraulen, freundlich mit den Hunden plaudern und mich vielleicht sogar mit einigen dieser Straßenköter in der Erde wälzen, sollten sie die extreme Güte haben, mich vorübergehend als einen der Ihren zu betrachten. Es ist mir schon häufiger gelungen, mit den Dorfhunden zu spielen, von Hund zu Hund. Dann ist das Leben irgendwie lebendiger. Doch, doch; vor nicht einmal vierzehn Tagen habe ich es geschafft, in San Miguel de Obrajillo den Kopf eines ziemlich großen nionena (Schweins) zu kraulen. Eigentlich wollte es flüchten, aber das Glück des Gekraultwerdens hielt es zurück; es grunzte genüsslich, dann (wie schwer es mir fällt, die notwendigen Begriffe zu finden!) sank es nach und nach darnieder und quiekte mit geschlossenen Augen lieblich vor sich hin. Der hohe, der unendlich hohe Wasserfall, der herabstürzt vom unerreichbaren Felsengipfel, sang im Quieken dieses nionena, in seinen harten Borsten, die ganz weich wurden; und ebenso die milde Sonne, die den Stein erwärmte, meine Brust, all die Blätter an Bäumen und Büschen, ja selbst das kantige, energische Gesicht meiner Frau erwärmte sie zu Fülle und Schönheit, und diese Sonne war besser zu spüren als irgendwo sonst in der Sprache dieses nionena, in seinem köstlichen Schlaf. Die Wasserfälle Perus, so auch der von San Miguel, die über Abgründe springen, hinunter in senkrechtem Flug, und die Terrassen bewässern, auf denen nährende Pflanzen blühen, werden meine Augen erquicken, kurz bevor der Tod mich ereilt. Sie malen ein Bild der Welt für uns, die wir auf Quechua zu singen wissen; bis in alle Ewigkeit könnten wir ihnen lauschen; sie existieren überhaupt nur wegen dieser zerklüfteten Berge, die sich verspielt zu Schluchten ordnen, Schluchten so tief wie der Tod und doch vor Leben strotzend; wilde Hänge, auf denen der Mensch ausgesät hat, Felder angelegt mit Hand und Verstand, Bäume gepflanzt, die sich von Felsvorsprüngen transparent gen Himmel recken. Nützliche Bäume, so lebensprall wie diese unzähligen Tiefen, in denen wir Menschen wunderschöne Würmchen sind, kraftvolle Würmchen, aber nicht sehr geschätzt von den verschlagenen Mördern, die uns heute regieren. Pachequito, mein Bruder, Hauptmann aus Pinar del Río, und du, Chiqui, von der Casa de las Américas: Wenn wir auch hier den Sozialismus bekommen wie in Kuba, dann werden es noch viel mehr Bäume sein, noch viel mehr Felder, denn die Erde hier ist gut, ein Paradies! Ein Glück, dass mich die Tabletten – die angeblich so sicheren – nicht getötet haben, denn so durfte ich euch kennenlernen, euch und diesen Mann mit dem Maschinengewehr, der im Hafen von Havanna den Eingang zum Terminal Pesquera bewachte. Der junge Kerl lächelte, als man ihm sagte, ich sei ein Freund aus Peru: »Hereinspaziert, Genosse, und schau dir an, was wir geleistet haben.« Sein Gesicht hatte die natürliche Freude, Intelligenz, Kraft und Großzügigkeit dieser Wasserfälle, die Tag und Nacht singen im Licht der Welt und im Licht der Weisheit. Mir allerdings singen sie nicht mehr mit voller Lebenskraft, denn mein mutloser Körper glüht nicht mehr, sondern zittert schon. Das also ist der Tod, und auch der Tod ist nötig, auch der Tod muss sein! Ja, so einfach ist das, Pachequito, so einfach wie dein winziges Äuglein, aus dem die Kraft hervorfunkelt, mit der du getötet hast, um das aufzubauen, was für euch jetzt das gerechte Leben ist. Nicht hinnehmbar sind für den Ungeduldigen die Tage der Bettlägrigkeit oder Versehrtheit, die dem Tod vorausgehen. Nein; ich würde sie nicht ertragen. Ich kann nicht leben, ohne zu kämpfen, ohne für die anderen wenigstens etwas zu tun von dem, was ich gelernt habe, ohne wenigstens etwas zu tun, um die verkommenen Egoisten zu schwächen, die Millionen von Menschen zu Arbeitsochsen degradiert haben. Ich scheue das Leid nicht. Vielleicht, kluger Genosse Dorticós, gelingt es dem Menschen irgendwann, das Leid abzuschaffen, ohne seine Kraft zu schwächen. Du, zum Beispiel, kamst mir in den wenigen Minuten, die ich dich reden hörte, wie ein Mensch vor, der alles Mögliche wusste, der immun war gegen das Leid, so wie deine Brille. In anderen Fällen sind Großzügigkeit und Hellsichtigkeit zum größten Teil das Resultat von Leid. Erst wenn der Schmerz zurückgedrängt, wenn er überwunden ist, entsteht Fülle. Vielleicht ist das Leid das, was der Tod für das Leben ist. Der Mensch wird leiden, weil er sich so sehr anstrengen muss, um physisch – und nur so lohnt es sich – zu den Myriaden von Sternen zu gelangen, die wir in San Miguel betrachten können mit einer heiteren Gelassenheit und die selbst uns, die Verdammten, wie ich einer bin, für Augenblicke beruhigen. Es wird immer viel zu tun sein.

    11. Mai

    Gestern habe ich vier Seiten geschrieben. Ich schreibe aus therapeutischen Gründen, vergesse dabei aber nicht, dass diese Seiten auch gelesen werden könnten. Wie schwach ist das Wort, wenn das Gemüt krank ist. Wenn auf dem Gemüt all das lastet, was wir über unsere Sinne gelernt haben, wird

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