Woher die Sänger sind: Roman
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Über dieses E-Book
Zwei verführerische »Fremdenführerinnen«, Auxilio und Socorro, begleiten den Leser bei der Reise durch die drei Kubas. Zunächst lernen wir das Chinesenviertel Havannas kennen
- der General, »Darsteller« der spanischen Einwanderer, stellt Lotosblüte nach, einer Sängerin an der chinesischen Oper; doch sie verschmäht seine Liebe. Aufstieg und Fall der üppigen schwarzen Rumbatänzerin Dolores, die durch das Bett eines Senators nach oben kommt und mit ihm stürzt, bilden den roten Faden der politischen Farce aus dem afrikanischen Kuba.
Katholisch und spanisch geht es schließlich zu bei der fantastischen Prozession, mit der Auxilio und Socorro einen beunruhigend lebendigen Holzchristus in Havanna einziehen lassen - ein virtuoser Parforceritt vom Spanien des Mittelalters ins Kuba der Castro-Revolution.
Sarduy wäre nicht Sarduy, wenn die Figuren und Episoden seines Romans nicht voller Verwandlungen, Überraschungen, ironischer Volten und sprühender Metaphern steckten. Diese sinnlich flirrende Entdeckungsreise durch sein Heimatland lässt sich ebenso als vielschichtige poetische Prosa lesen wie als literarischer Comicstrip: ein Lesevergnügen der ganz besonderen Art.
Von Severo Sarduy außerdem in der Edition diá:
Kolibri
Aus dem kubanischen Spanisch von Thomas Brovot
ISBN 9783860345214
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Buchvorschau
Woher die Sänger sind - Severo Sarduy
Über dieses Buch
Kuba ist ein kultureller Tequila Sunrise: Die spanische, die afrikanische und die chinesische Einwandererkultur leben, jede mit ihrer eigenen unverwechselbaren Farbe, neben- und übereinander, nicht verquirlt, aber im selben Glas, mit fließenden Übergängen – bunter Regenbogen.
Zwei verführerische »Fremdenführerinnen«, Auxilio und Socorro, begleiten den Leser bei der Reise durch die drei Kubas. Zunächst lernen wir das Chinesenviertel Havannas kennen – der General, »Darsteller« der spanischen Einwanderer, stellt Lotosblüte nach, einer Sängerin an der chinesischen Oper; doch sie verschmäht seine Liebe. Aufstieg und Fall der üppigen schwarzen Rumbatänzerin Dolores, die durch das Bett eines Senators nach oben kommt und mit ihm stürzt, bilden den roten Faden der politischen Farce aus dem afrikanischen Kuba.
Katholisch und spanisch geht es schließlich zu bei der fantastischen Prozession, mit der Auxilio und Socorro einen beunruhigend lebendigen Holzchristus in Havanna einziehen lassen – ein virtuoser Parforceritt vom Spanien des Mittelalters ins Kuba der Castro-Revolution.
Sarduy wäre nicht Sarduy, wenn die Figuren und Episoden seines Romans nicht voller Verwandlungen, Überraschungen, ironischer Volten und sprühender Metaphern steckten. Diese sinnlich flirrende Entdeckungsreise durch sein Heimatland lässt sich ebenso als vielschichtige poetische Prosa lesen wie als literarischer Comicstrip: ein Lesevergnügen der ganz besonderen Art.
»Eine überraschende und verwirrend sprunghafte Folge von Eindrücken, die die Stimmung eines unwirklich schönen Kuba evozieren.« Sarduy »greift zur Straußenfeder, wo andere mit dem Gänsekiel arbeiten«. (Neue Zürcher Zeitung)
Woher die Sänger sind: »Ein hedonistischer und gerade deshalb revolutionärer Roman!« (Roland Barthes)
Der Autor
Severo Sarduy, 1937 auf Kuba geboren, lebte von 1960 an als Maler, Romancier, Dichter, Essayist, Hörspielautor, Dramatiker, Wissenschaftsjournalist, Lektor und Herausgeber in Paris. Er starb 1993 an den Folgen von Aids.
Sarduy, Enfant terrible unter den lateinamerikanischen Schriftstellern, zählt zu den bedeutendsten kubanischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Auf Deutsch erschienen bisher, neben einigen Hörspielen, die Romane »Bewegungen« (1968), »Kolibri« (1991) und »Woher die Sänger sind« (1993).
Mehr zum Autor unter www.severo-sarduy-foundation.com
Der Übersetzer
Thomas Brovot, geb. 1958, lebt als Übersetzer (u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca) in Berlin. Für seine Neuübersetzung von Mario Vargas Llosas »Tante Julia und der Schreibkünstler« erhielt er 2012 den Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis.
Severo Sarduy
Woher die Sänger sind
Roman
Mit einem Nachwort
von Roberto González Echevarría
Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
Edition diá
Inhalt
Curriculum Cubense
Am Rosenaschenfluss
Die Dolores Rondón
Der Einzug Christi in Havanna
Domus Auxilii
Roberto González Echevarría: Woher sind die Sänger?
Impressum
Für Salamandra
Curriculum Cubense
Federn, ja, köstliche Schwefelfedern, ein Fluss aus Federn, der Marmorköpfe mit sich reißt, Federn auf dem Kopf, Hut aus Federn, Kolibris und Himbeeren; bis zum Boden herab fallen die orangefarbenen Haare Auxilios, glatt, aus Nylon, mit rosaroten Bändern und Glöckchen verflochten; zu beiden Seiten ihres Gesichts, ihrer Hüften, ihrer Zebralederstiefel herab bis zum Asphalt die Albinokaskade. Und Auxilio, gestreift, ein Indiovogel hinterm Regen.
»Ich kann nicht mehr!«, heult sie und bohrt ein Loch ins Brot.
»Krepier doch!« Das sagt Socorro. »Krepier, nimm’s hin, mach Schluss, beschwer dich bei der Regierung, beschwer dich bei den Göttern, drop dead, zerfall wie eine geteilte Apfelsine, ersäuf dich in Bier, erstick an Würstchen mit Sauerkraut, sieh zu, wie du aus der Scheiße rauskommst. Werd zu Staub, zu Asche. Das wolltest du doch.«
Auxilio streicht sich die Strähnen aus dem Gesicht. Sie lugt hervor, quevedianisch:
»Asche werd ich sein, doch fühllos nicht,
Werd zu Staub, daraus die Liebe bricht.«
Socorro: »Tu me casses les cothurnes! (En français dans le texte.) Halt den Mund. Ich kann auch nicht mehr. Wisch die Träne da weg. Schäm dich was. Setz dich anständig hin. Beherrsch dich. Nimm deinen Compact.«
Das Spiegelchen gibt Zeichen. Lenkt die Sonne zum gläsernen Wolkenkratzer. Im zwanzigsten Stock tritt ein Mädchen auf den Balkon, ebenfalls mit einem Spiegel in der Hand. Es hüpft umher, bewegt ihn auf der Suche nach dem Signal.
»Schau dich an. Die Tränen haben eine Furche in deine ersten fünf Schminkeschichten gemacht. Pass auf, dass sie nicht bis zur Haut durchkommen. Aber dafür bräuchte man schon einen Bohrer. Die Spargelcreme ist weg. Die Erdbeerschicht darunter verschmilzt mit der Baby-Ananas von Max Factor. Ganz kariert bist du. Ein Vasarely. Komm, sing mit:
Ist nicht hier, ist nicht dort,
aber böse immerfort.«
Auxilio, im Singsang:
»Ja, er ist es: das Rätsel der Rätsel. Die Vierundsechzigtausenddollarfrage, die Seinsdefinition. Das Spiel ist aus. Der Schinken alle. Vom Käse nicht das kleinste Stück. Das ist der Stand der Dinge: Wir sind geblieben, und die Götter gingen fort, nahmen das Schiff, zogen auf Lastwagen davon, passierten die Grenze. Die Pyrenäen waren ihnen schnuppe. Alle sind sie weg. Das ist der Stand der Dinge: Wir gingen fort, und die Götter sind geblieben. Sitzen geblieben. Verschüchtert. Im Siestaschlaf. Überglücklich, den Ma’ Teodora tanzend, den allerersten kubanischen Son, da capo immer wieder, in der Luft kreiselnd wie Gehenkte.«
»Halt den Mund. Genau das wolltest du doch.«
»Nein. Das wollte ich nicht. Ich bat um das Leben, mit allem Drum und Dran, mit Schellen und Tamburinen. Ich bat um unser täglich Brot mit Wurst. Aber nicht die Spur. Nichts. Sie schickten mir die Kahle, die Glatzige, die Gerupfte, die Geschorene: die Fratze des Todes.«
»Man kann deine Wange sehen. Sie ist wie die Oberfläche des Mondes: voller Krater.«
»Du Kanaille. Scheusal. Liederliches Luder. Soll dich doch das All verschlucken. Aufsaugen. Soll deine Klimaanlage den Geist aufgeben, sich die Erde auftun vor dir. Soll die Lacan’sche Kluft dich verschlingen. Aufgelöst, unbeachtet, weil unbemerkt.«
»Mir reicht’s. Ich gehe. Jetzt erst recht. Egal wie. Wenn man mich schon rauswirft. Ich werde angegriffen und steche mit der Lanze drauflos, kreuz und quer, nach rechts und links, vorn und hinten, wie ein japanischer Krieger im Kampf gegen einen unsichtbaren Feind.«
Auxilio schüttelt den Kopf. Goldene Fransen gegen die Scheiben. Wollsträhnen. Windmühlenflügel.
»Dann geh doch. Du Unwesentliche. Du verlässt das HAUS, jawohl, das HAUS in Großbuchstaben. Das Domus Dei.«
Und schüttelt den Kopf.
Socorro im Domus Dei
Wie sollte man sich da nicht vertun? Es waren Tausende. Tausende kleiner Füße. Wurmzerfressener kleiner Hände. Und dieses Quietschen. Blechteller und Löffel. Ganz grün kamen sie heraus und schossen gegen die Töpfe. Eine Sirene, und sie tauchten auf. Ein Quietschen, und sie verschwanden wieder. Gleichzeitig. Eine Frau trat an die Fenster. Und in jedem schüttelte sie ein schwarzes Tischtuch aus. Die Fassade verschwand hinter einem Vorhang aus Brotkrümeln. Fluss aus Federn.
»Guten Tag. Ich habe angerufen, aber es geht keiner ans Telefon.«
»Ach«, sagt das Dienstmädchen.
»Kann ich hereinkommen?«
»Das ist zwecklos. Niemand da.«
»Wie bitte? Nach all der Zeit. All dem Warten. All dem Buckeln und Betteln. In den Vorzimmern habe ich Speichel geleckt, habe mich in den Betten sämtlicher Minister gewälzt, Pförtner bestochen.«
»Nein, bestimmt nicht.«
Die Dienerin öffnet die Tür sperrangelweit, als öffnete sie dem Seienden par excellence ihre Beine, ihr gläsernes Kästchen. Von drinnen quillt ein Licht hervor: Widerschein der Glatze der Großen Kahlen. Socorro erstarrt von Kopf bis Fuß, wird weiß wie Tintenfisch in siedendem Wasser.
»Sehen Sie?«, krächzt die Ministrantin. »Er glänzt durch Abwesenheit.«
Als Socorro wieder den Aufzug nimmt, schreit sie schon wie am Spieß, die Ärmste. Tränenüberströmt, Froschgesicht. Sie verwechselt die Knöpfe, stolpert gegen einen Schwarzen, klemmt sich den Finger in der Tür. So erreicht sie das Erdgeschoss: wimmernd, bischofslila, zusammengekauert in einer Ecke des Aluminiumkastens, umgeben von kahlgerupften Hühnern, außer dort, wo ein Eisblock im Sägemehl und ein Korb voll Pomeranzen stehen.
Nun hör sich einer die Artigkeiten an, die der Pförtnerknirps für Besucherinnen übrighat! Unter seiner scharlachroten Kappe taucht er hervor und erschöpft sich in Synonymen. Bei Socorro kommt er damit allerdings nicht weit, denn in ihrem Zustand, verfroren und überhaupt, gibt sie ihm beim ersten Kompliment einen Tritt, schnallt ihn mit seinem eigenen Gürtel am Sitzbänkchen fest, drückt den Knopf zum Roofgarden und jagt ihn in dem klingenden Kasten hinauf.
In der Eingangshalle hängen Spiegel, und obwohl sie völlig verlottert ist, kann die Parze nicht widerstehen: sie holt ihre Bürste mit Schweinsborsten hervor, ihren orangefarbenen Glitterlidschatten, ihr Schönheitspflästerchen, das sie mit aller Sorgfalt genau über den rechten Mundwinkel platziert, so dass es bei jedem Lächeln nach oben rutscht, und greift zum Schluss nach ihren Yoruba-Halsketten. Als sie auf die Straße tritt, sieht sie schon ganz anders aus. So dass Auxilio, die mit einem Coupon auf sie wartet – gültig für zwei Mangoshakes in der Milchbar an der Ecke –, bei ihrem Anblick vor Freude aufspringt und mit dem Taschentuch winkt: sie glaubt, man hätte Socorro empfangen.
»Nein, natürlich nicht.«
Als die beiden sich grazil und symmetrisch zum Gebäude umdrehen, sind die Fenster bereits erloschen. Nicht ein Geräusch. Die Brotkrümel haben die Wipfel der Bäume geweißt, den schwarzen Rasen.
»Das ist wie Schnee.«
Self-Service
»Philosophen sind wir, das kommt vom Fasten! Auf zum Self-Service!«
Gesagt, getan. Sich vor Hunger den Bauch haltend, ziehen sie los, auf Zehenspitzen, schlüpfen zwischen den Schalen rostiger Autos hindurch – die seidigen Haare fließen zwischen den Blechbüchsen –, straucheln, springen über platte, speichenlose Fahrradreifen, über Kurbeln, bemooste Hupen, papiergestopfte Scheinwerfer, Aluminiumringe mit roten Stangen. Gelbe Gottheiten. Flavische Vögel. Damhirsche. Sie laufen zwischen den Scheiben hindurch, in Regen gegossen, mit gefrorenen Orchideen aus Palm Beach gekrönt, rein inmitten des Unrats, leuchtend wie Pilze auf Pferdeäpfeln, wohlriechend unter schrottreifen Dieselmotoren.
Sie kommen an den Gerüsten einer Baustelle vorbei – zwischen den Grundmauern sumpfig grünes Wasser –, balancieren mit ausgestreckten Armen über eine Eisenstange, singen Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, die hungrigen Fischmäulchen zum Kussmund gespitzt.
Und hinter ihnen, in den Quadraten, leuchten gleichzeitig tausend Papierballons auf. Kegel auf einem roten Wandteppich. Über den Gebäuden ritzt die milchige Leuchtspur der Metro die Nacht. Flackernde blaue Rauten.
Und weiter vorn überqueren die Blühenden, die Allgegenwärtigen noch ein Gerüst, noch eine Avenida. Dort laufen sie unter dem Straßenkleeblatt hindurch, von Helikoptern überwacht. Tönende Tunnel. Und über die Rolltreppen, über die Schienen, dort, wo eine Sekunde vor dem Abfahrtssignal die Straßenbahnen anhalten. Wie schnell sie sind!
Fritte für Fritte, Fritte für Fritte hebt sie alle wieder auf; unter den Tischen, zwischen den Füßen krabbelt sie die Beingalerien entlang hinter einer rollenden Tomate her, dem Pappbecher, dem Schälchen Rote Bete, geraspelt – violette Fädchen auf den Schuhen.
Die Leute steigen über sie hinweg. Dort unten, auf allen vieren, in ihre eigene Perücke verheddert, zwischen aufgeplatzten Mandarinen, dort ist Auxilio mit ihrem Teller hingefallen (ein spitzer Absatz durchlöchert das Ei in Aspik). Vollkommen eingesuppt.
Alles hebt sie wieder auf – die frittierten Kartöffelchen verdreckt –, schaut dabei hoch, zur einen Seite und zur anderen, ein verschrecktes Eichhörnchen. Sie setzt ihre grüne Brille auf. Mit der Stirnlocke verdeckt sie die andere Hälfte ihres Gesichts.
»Ich will weg hier!« Und schon ist sie kein Eichhörnchen mehr, sondern ein Maulwurf: sie kugelt sich zusammen, verbirgt den Kopf.
Socorro sitzt bereits am Tisch, isst aber nichts. Sie starrt auf ihr Essen und jammert rhythmisch vor sich hin. Sie schluchzt und schnäuzt sich mit einem Kleenex. Als Auxilio mit leeren Händen ankommt – den Teller hat sie in den Mülleimer geworfen –, packt Socorro sie an den Schultern, schüttelt sie.
»Ist nicht so schlimm«, sagt sie.
»Ist nicht so schlimm«, die andere.
Und schon lachen sie wieder.
Nun sitzen sie, hübsch zurechtgemacht, vor einem Aussichtsfenster aus Zelluloid. Nicht ein Fleck, nicht ein verrutschtes Haar, nicht ein Tröpfchen Tomatensoße auf der Wange. Starr; die Köpfe, nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt, im Schnittpunkt der Diagonalen des Panoramas – von Fenstern zerlöcherte blaue Kuppeln, ein Flugplatz: Moskitos und Zweimotorige steigen auf –, die blassen Hände über der Brust gekreuzt. Sie rühren sich nicht, aber es ist zwecklos: alle schauen sie an. Wie auf der Anklagebank.
»Spöttische Äuglein verschlingen uns von Kopf bis Fuß.«
»Finger zeigen auf uns, kennzeichnen uns mit Sternchen.«
Dann deutet Auxilio auf ihre rechte Schläfe, springt auf, schüttelt ihre Mähne wie einen Staubwedel, klingelt mit den Glöckchen, ein einziger Klangkörper.
»Ich weiß was!«
Sie öffnet eine runde Krokodillederschachtel, die sie, wie eine Feldflasche, an einem Silberkettchen über die Schulter gehängt trägt, und während sie nachzählt, nimmt sie fünfzig Farbfotos heraus. Zwei vergilbte wirft sie fort, überreicht Socorro eine Nahaufnahme in Schwarzweiß, und mit den restlichen siebenundvierzig begibt sie sich zum Ende des Speisesaals. Dort beginnt sie, die Bilder Tisch für Tisch zu verteilen. Bei jedem Foto lächelt sie, fährt sich kurz mit dem Kamm durchs Haar, stellt sich dem Empfänger mit einer Verbeugung vor und hält den Verwunderten mit der minuziösen Beschreibung der Aufnahme in Atem. Socorro folgt ihr mit ein paar Schritten Abstand, fügt den Adjektiven Adverbien hinzu, Knickse den Verbeugungen, kühlt die Luft mit einem Fächer aus Straußenfedern, den sie mit Balsam beträufelt. Auf ein Zeichen von Auxilio legt Socorro den Fotos Pralinen bei, dazu kleine Medaillen der Barmherzigen Jungfrau von El Cobre.
Das erste ist ein schon verblasstes, mit Blitzlicht aufgenommenes Foto. Auxilio im Guayaberahemd, das Gesicht gelb geschminkt, auf dem Kopf eine Zipfelmütze, kaffeetrinkend vor einem Pappturm oder einem Karnevalswagen oder einem Mausoleum mit arabischen Inschriften.
»Hier stehe ich vor der Blauen Moschee von Konstantinopel, auch wenn man die vier Minarette nicht sieht. Ich bin als Mingkaiserin gekleidet, deshalb halte ich auch diese Teetasse mit Drachenmuster in der Hand und in der anderen den langen Stängel mit nur einer Blüte. Wie Sie sehen, habe ich mir die Augen mit ein paar schwarzen Strichen verlängert, und wenn nicht die Ohren wären, könnte man im Profil erkennen, wie sie sich in kleine Fische verwandeln.«
»Du hast vergessen zu sagen, dass die splitternackten Rotzbengel da, die Mandoline spielen und in die Linse gaffen, deine Dolmetscher sind.«
»Meine Verehrer. Aber schauen Sie sich das hier an. Da bin ich bei den Caduveo- oder Cadiveo-Indianern und lese Franz Boas. Ein Tonband habe ich auch dabei. Was mir der Ureinwohner da überreicht, ist eine Maske, deren Züge mit dem Grundriss des Stadtplans übereinstimmen. Ich bin gut getroffen, nicht?«
Auf diese Weise verteilt sie sämtliche Fotos. Bis auf eins. Sie behält das Ausweisfoto, Format sechs mal acht, auf dem man sie von vorn sieht, leicht zur Seite schauend, nicht sonderlich ernst: ganz natürlich.
»Ich glaube, wir haben keinen schlechten Eindruck gemacht.«
»Mag sein. Aber lass uns gehen, bevor sie es sich anders überlegen.«
»Warte. Beinahe hätte ich die Sichel vergessen.«
Anmerkung:
Der Self-Service befindet sich im Erdgeschoss eines Oktaeders aus Bakelit. Wände aus Coca-Cola-Flaschen tragen die Decke, die ein Sturz des Ikarus ziert, ganz in Altrosa und Gold. Von den Ecken aus steuern vier bewegliche Lampen in einer Sinuskurve an den Wänden entlang und halten ab und zu über den Schüsseln mit geraspelten Möhren, Eiern in Aspik oder Roter Bete in Mandelsoße an, die zwischen den Flaschen in Korbnischen stehen. Jedes Mal, wenn das Licht vorbeizieht, erklingt ein Xylofon-Arpeggio, auf- oder absteigend, je nach Höhe des Lichtkegels, und der Ton wird so lange ausgehalten, wie das Licht auf einen Teller strahlt. Da die Rote Bete in Mandelsoße sich praktisch auf Deckenhöhe befindet, ist der dazugehörige Ton ein grelles
