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Die Leiche im Schlick. Ostfrieslandkrimi
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Die Leiche im Schlick. Ostfrieslandkrimi
eBook203 Seiten2 Stunden

Die Leiche im Schlick. Ostfrieslandkrimi

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Über dieses E-Book

»Eine Leiche im Schlick!« In den Hauener Pütten bei Greetsiel entdeckt eine Vogelbeobachterin eine männliche Leiche im Watt. Der Mörder hat den Mann betäubt und eingegraben, bevor die Flut kam! Hauptkommissarin Ruth Fasan glaubt, das Gesicht des Opfers wiederzuerkennen, doch sie kann es einfach nicht zuordnen. Ein alter Fall aus ihrer Hamburger Zeit? Dann jedoch wird das Opfer eindeutig als Dani Silva identifiziert, ein Brasilianer, der vor einigen Tagen in einer Pension in Greetsiel eincheckte und von dem Ruth Fasan noch nie zuvor gehört hat. Hat sie sich getäuscht, kann sie sich etwa nicht mehr auf ihren Ermittlerinstinkt verlassen? Plötzlich fällt der Kommissarin die Erkenntnis wie Schuppen von den Augen … Die Spur führt zu einem Bauernhof in der Nähe von Greetsiel. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Hagen Reese stattet sie dem Verdächtigen einen Besuch ab. Auf dem ostfriesischen Bauernhof stößt Hagen allerdings auf einen Gegner, mit dem er nicht gerechnet hat...

SpracheDeutsch
HerausgeberKlarant
Erscheinungsdatum12. Okt. 2022
ISBN9783965866706
Die Leiche im Schlick. Ostfrieslandkrimi
Autor

Jan Olsen

Jan Olsen ist das neue Pseudonym eines seit 1991 in verschiedenen Genres erfolgreichen Schriftstellers. Jan ist mit einer Hebamme verheiratet, hat drei inzwischen erwachsene Kinder und darf sich seit Kurzem auch Großvater nennen. Als Kind des Nordens ist er der Nordsee mit all ihren rauen und lieblichen Facetten besonders zugetan und ließ kaum eine Ferienzeit verstreichen, ohne diese Gestade mit seiner Familie zu besuchen. Auch heute noch stehen Ferien an der Nordsee jedes Jahr auf dem Programm. Seine Vorliebe für die Nordsee und die dort lebenden Menschen kann er in seinen Ostfrieslandkrimis nun nach Herzenslust ausleben.

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    Buchvorschau

    Die Leiche im Schlick. Ostfrieslandkrimi - Jan Olsen

    Kapitel 1

    Aufwachen stellte für ihn stets eine Herausforderung dar. Ob das schon immer so gewesen war, hätte er gerne eines Tages herausge­funden wie so vieles andere auch. Wie es aussah, befand er sich nun auf einem guten Weg, endlich Gewissheit über seine Vergangenheit zu erlangen. Es war, als würden sich die Schatten, die seine Erinnerung verdunkelten, langsam dazu bequemen, sich zu lichten.

    Irgendetwas schien diesmal anders zu sein. Das Erwachen ging nur schleppend voran, als würde ihn etwas daran hindern wollen, aus der Traumwelt aufzutauchen. Das Gefühl der Beklommenheit war so stark, dass es sich körperlich deutlich auswirkte. Er war unfähig, seine Arme und Beine zu bewegen. So schlimm war es noch nie gewesen, wenn er vom Schlaf in den Wachzustand hinüberdämmer­te. Die morgendliche Lähmung, die ihn für gewöhnlich befiel, ließ sich abschütteln, sobald er seine Gliedmaßen bewegte. Die Starre fiel dann augenblicklich von ihm ab.

    Nicht aber jetzt. Etwas schien seine Arme fest an den Körper zu pressen, und die angewinkelten Beine ließen sich nicht ausstrecken. Ein Gewicht drückte gegen seine Brust und machte ihm das Atmen schwer.

    Panik wallte in ihm auf und weckte ihn schlagartig. Plötzlich hellwach riss er die Augen auf. Was sich seinen Blicken darbot, ergab überhaupt keinen Sinn. Obzwar es dunkel war, sah er unmittelbar vor sich seichten Wellenschlag. Rhythmisches Rauschen und Plätschern drang an seine Ohren und deutlich nahm er den salzig-würzigen Geruch wahr. Er betrachtete das bewegte Wasser aus dem Blick­winkel einer auf dem Strand liegenden Person.

    Das Meer, erkannte er beunruhigt. Die Wellen schimmerten matt im Licht des Mondes, der hinter einer dünnen Wolkenschicht verborgen lag und dessen Schein wie durch Watte hindurch trübe auf dem Wasser spielte.

    Zuerst glaubte er, dass er noch träumen würde. Aber das Rauschen der Brandung war einfach zu übermächtig und hatte nichts mit den eingebildeten Lauten eines Traums gemein. Deutlich schmeckte er das Salz des Sprühwassers, das sein Gesicht bedeckte und in Rinn­salen über seine Lippen in den geöffneten Mund tröpfelte. Sein Haar klebte klatschnass an seinem Kopf, und der faulig-fischige Geruch von Schlick, Seetang und verendeten Meerestieren stieg ihm unangenehm in die Nase.

    »Wie … wie komme ich hierher?«, presste er benommen hervor.

    Im selben Moment schwappte der Ausläufer einer Welle gegen seine untere Gesichtshälfte und Salzwasser drang in seine Mundhöhle. Er hustete und spuckte, japste nach Luft. »Verdammt!«, keuchte er. »Was geht hier vor sich?«

    Erneut klatschte ihm Wasser ins Gesicht, umspülte seinen Kopf und strömte dann zurück Richtung Meer. Mühsam neigte er den Kopf, starrte ungläubig den schlickigen Untergrund an, in dem er bis zum Hals feststeckte. Offenbar war er vollkommen vom Meeresboden umgeben. Watt, fiel ihm der korrekte Begriff ein. Da er sich nicht umdrehen konnte, vermochte er nicht zu überprüfen, wie weit er vom Ufer entfernt war. Dieses Wissen hätte ihm allerdings auch wenig genützt, denn ob das Festland nun nah oder fern war, spielte überhaupt keine Rolle. Er würde es so oder so nicht erreichen können, denn er war vollkommen in den Schlick eingesunken, aus dem allein sein Kopf emporragte.

    Verzweifelt versuchte er, seine Arme zu bewegen und mit den Füßen nach unten zu treten. Doch die matschige, sandige Substanz hielt ihn fest umschlungen.

    Die nächste Welle, die ihn erwischte, traf ihn mit heftiger Wucht. Wütend gurgelte und peitschte das Meerwasser, zerrte an seinem Kopf und drückte ihn nach vorn, als es schäumend zurückwich.

    »Flut … es herrscht Flut!«, kreischte er mit überschnappender Stimme, als ihm die ganze Tragweite seiner Situation bewusst wurde. Er wollte um Hilfe rufen, aber als er seinen Mund aufriss, füllte er sich augenblicklich mit Wasser. Er würgte die Brühe hinunter und schrie, als das Meer ihn wieder freigab.

    Um ihn herum stiegen plötzlich Vögel auf. Aufgeregt schlugen sie mit den Flügeln und umschwirrten ihn. Er erkannte die Umrisse von Möwen und Enten. Sie mussten in der Nähe gedöst haben, und sein Schrei hatte sie aufgeschreckt. Jetzt ließen sie sich außerhalb seines Blickfeldes nieder, wahrscheinlich, um erneut vor sich hin zu dämmern.

    Das schattenhafte Huschen und Umherflattern der Vögel hatte ihn in einen seltsamen Zustand versetzt. Diese Vögel … sie waren wie die Erinnerungen, die er seit Jahren zu fassen versuchte und die sich ihm doch immer wieder entzogen. Er presste die Augen und die Lippen fest zusammen, als erneut eine Welle über ihm zusammen­schlug. Diesmal wich das Wasser nicht gänzlich; es stand ihm jetzt bis zum Kinn, schwappte und schwankte unruhig wie in Erwartung der nächsten Welle, die zwangsläufig heranbranden würde.

    Ich werde hier sterben, wurde ihm schlagartig bewusst. Irgendwie erschien es ihm logisch, dass er ausgerechnet im Meer den Tod finden würde. Diese Situation war ihm seltsam vertraut, was ihn irgendwie auch friedlich stimmte.

    Als er zu begreifen anfing, öffnete er langsam die Augen. Von einem Moment auf den anderen stand die Wahrheit plötzlich vor ihm. Er erinnerte sich. Das Mysterium seiner Vergangenheit, es offenbarte sich ihm klar und ungetrübt. Es war ein gnädiger Akt seines Gehirns, das ihm das Sterben leichter machen wollte. Und so war es auch. Er empfand Frieden … und leichtes Bedauern, weil er seine Erkenntnis nun mit niemand mehr würde teilen können.

    Erneut schlug ihm eine Welle mitten ins Gesicht.

    *

    Es hatte zu regnen angefangen. Das passende Wetter für einen Abschied, wie Ruth Fasan für sich feststellte. Der Wind drückte die feinen Regentropfen durch den breiten Spalt zwischen Bahnsteig­überdachung und dem Dach des wartenden Zuges. Die Tröpfchen besprühten die Fahrgäste, die noch nicht eingestiegen waren, ebenso wie die Menschen, die sich von den Reisenden verabschieden wollten. Die Hauptkommissarin zählte zur zweiten Personengruppe. Sie war froh, dass ihr Gesicht mit Regenwasser benetzt wurde, denn auf diese Weise würden ihrer Tochter möglicherweise die Tränen entgehen, die sich in den Augen ihrer Mutter gesammelt hatten. Clarissa war allerdings viel zu sehr beschäftigt, sodass ihr wahr­scheinlich auch ohne Regen nicht aufgefallen wäre, dass Ruth der Abschied von ihrer Tochter schwermütig stimmte.

    Trotzdem umspielte Ruths Lippen ein Lächeln, während sie Clarissa betrachtete, die nur ein paar Schritte entfernt von ihr stand. Ihre Tochter schäkerte mit dem kleinen Eduard, den Crescentia auf dem Arm hielt. Die beiden jungen Frauen waren jeweils mit einem Rucksack bepackt, und neben ihnen standen zwei mit Kleidung vollgestopfte Rollis. Crescentia hatte außerdem eine prall gefüllte Umhängetasche geschultert, in der sich alle Utensilien befanden, die eine Mutter für die Versorgung eines acht Monate alten Kindes benötigte.

    Es war eine kniffelige Angelegenheit gewesen, all diese Gepäck­stücke in Ruths kirschrotem VW up! unterzubringen. Ein Unter­fangen, das die drei Frauen mit viel Witz und Selbstironie schließlich erfolgreich gemeistert hatten. Auch die Fahrt von Greetsiel zum Bahnhof in Emden war trotz der ein wenig beengenden Verhältnisse in dem vollbeladenen Fahrzeug eine höchst vergnügliche Sache gewesen. Ruth hatte es den beiden jungen Frauen deutlich angemerkt, wie sehr sie sich auf Hamburg, das Ziel ihrer Reise, freuten. Clarissa kehrte nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in Ruths Deichhaus in die Hansestadt zurück, wo in den kommenden Tagen das neue Studiensemester beginnen würde. Und Crescentia, die nach den turbulenten Ereignissen rund um einen Mordfall in Greetsiel ihre Zelte in dem Fischerort abgebrochen hatte, wollte zusammen mit ihrem Sohn in Clarissas WG einziehen, wo kürzlich ein Zimmer frei geworden war. Dies alles hatte während der Autofahrt einmal mehr für genügend Gesprächsstoff gesorgt. Und auch jetzt redeten die beiden Frauen aufgeregt aufeinander ein, während sie sich das gemeinsame Zusammenleben in Hamburg ausmalten.

    Plötzlich schien Clarissa einzufallen, dass es außer Crescentia, Eduard und ihr selbst noch andere Menschen auf der Welt gab. Zum Beispiel ihre Mutter, die in ihrer Nähe auf dem Bahnsteig stand und sie unverwandt ansah.

    Verlegen strich sich Clarissa eine Strähne ihres brünetten welligen Haars aus der Stirn, und ein betretener Ausdruck trat in ihre nussbraunen Augen. »Du siehst traurig aus!«, rief sie zu ihrer Mutter herüber.

    »Und du redest viel zu laut«, gab Ruth säuerlich zurück, der aufgefallen war, dass einige der Umstehenden ihr jetzt neugierige Blicke zuwarfen.

    Clarissa winkte Ruth zu sich. »Was stehst du denn da so abseits?«, wollte sie leicht verärgert wissen. »Wir beißen doch nicht.«

    Ruth trat näher und bedachte Eduard, der sie offenherzig anlächelte und dabei seine beiden Vorderzähne zeigte, mit einem kritischen Blick. Da es seine einzigen Zähne waren, drängte sich der Vergleich zu den Nagezähnen eines Bibers auf. »Bist du dir da auch wirklich sicher?«, fragte Ruth scherzend und tippte dem kleinen Fratz mit dem Zeigefinger auf die Nase. Eduard umfasste ihren Finger und machte Anstalten, ihn sich in den Mund zu stecken, was Ruth jedoch nicht zuließ.

    »Für Eduard übernehmen wir keine Haftung«, erklärte Crescentia und grinste.

    »Das hatte ich mir schon gedacht.« Ruth sah ihre Tochter ernst an. »Ich habe nur deshalb Distanz gewahrt, weil es mir guttut zu sehen, wie glücklich du bist.«

    Clarissa hakte sich bei Crescentia unter, was ihr nicht ganz glückte, da ihre Freundin Eduard auf einem Arm hatte und über dem anderen die Reisetasche hing. »Das bin ich wirklich«, versicherte sie freudestrahlend und gab ihren Versuch auf, sich bei Crescentia anzuschmiegen.

    Plötzlich schrillte der Pfiff einer Trillerpfeife über den Bahnsteig und die neutrale Stimme der automatisierten Durchsage informierte die Reisenden, dass der Zug nach Hamburg in Kürze abfahren würde.

    »Jetzt beeilt euch aber!«, drängte Ruth und schnappte sich Crescentias Koffer. »Ich würde es nicht ertragen, diese herzzerrei­ßende Abschiedszeremonie erneut durchleben zu müssen, weil ihr euren Zug verpasst.« Sie wuchtete den Koffer in das Abteil, umarmte ihre Tochter zum Abschied und drückte Crescentia kurz die Schulter. »Viel Glück wünsche ich euch beiden … ich meinte euch dreien. Und lasst mal von euch hören.«

    »Wir werden dich so lange mit Fotos und Kurznachrichten bombardieren, bis du uns auf deinem Handy entnervt auf Ignorieren schaltest«, versprach Clarissa. Sie drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und beeilte sich dann, Crescentia zu folgen, die mit Eduard bereits eingestiegen war.

    Wenig später schlossen sich die Türen. Mit ihrem Gepäck beladen trotteten die beiden Frauen den Abteilgang entlang, um sich einen freien Sitzplatz zu suchen. Das beschäftigte sie so sehr, dass sie gar nicht mitbekamen, wie sich der Zug in Bewegung setzte. Ruth winkte, aber weder Clarissa noch Crescentia bemerkte es. Allerdings hob Eduard jetzt beide Arme und fuchtelte damit herum, eine Geste, die Ruth großzügig als Abschiedswinken interpretierte. Zufrieden lächelte sie, während der Zug langsam Fahrt aufnahm. Wenige Atemzüge darauf war er ihren Blicken entschwunden.

    Erleichtert, aber dennoch mit einem Hauch von Wehmut stieß die Hauptkommissarin einen tiefen Seufzer aus. Die letzten Tage waren für ihren Geschmack eine Spur zu kunterbunt verlaufen. Clarissa hatte es verstanden, nicht nur ihre Mutter, sondern gleich die ganze Belegschaft der Polizeistation Greetsiel dafür einzuspannen, Crescentia zu helfen, den Umzug nach Hamburg in die Wege zu leiten. Kommissar Hagen Reese und die Streifenpolizistin Alice Bergmann hatten der jungen Frau mit dem komplizierten Schicksals­verlauf allerdings nur zu gerne ihre Unterstützung gewährt. Und so hatte die Last der zu erledigenden Dinge auf vielen Schultern geruht, was schließlich dazu geführt hatte, dass der Umzug rasch und ohne nennenswerte Schwierigkeiten über die Bühne gezogen werden konnte. Während dieser Übergangszeit hatten Crescentia und ihr Sohn in Ruths Deichhaus gewohnt, wo auch für Clarissa ein Gäste­zimmer bereitgestanden hatte. Das große, strohgedeckte Friesenhaus war vor quirligem Leben förmlich aus den Nähten geplatzt. Und Ruth, die sich zuvor gewünscht hatte, dass es in ihrem Haus ruhig etwas belebter zugehen könnte, ertappte sich dabei, dass sie dem Moment entgegenfieberte, an dem sie ihr Haus wieder ganz für sich allein haben würde.

    Und dieser Moment war nun gekommen. Doch sosehr sie sich auf die Ruhe in ihrem abgeschiedenen Zuhause auch freute, so überkam sie nun trotzdem ein wenig Schwermut, weil die turbulente Zeit jetzt vorbei war.

    Ruth verließ das Bahnhofsgelände und marschierte durch den Regen auf den Parkplatz zu. Es war früh am Morgen; trübes Tageslicht überzog die regennassen Gebäude und die Straßen mit einem fahlen Glanz. Die Sonne zeichnete sich hinter der Wolkendecke als silbrige kalte Scheibe ab, und es sah nicht so aus, als würde sich daran im Laufe des Tages etwas ändern. Dies würde einer dieser grauen verregneten Novembertage werden. Aber im Gegensatz zu Hamburg, wo derartige Witterungsbedingungen dazu geeignet waren, allerorten Trostlosigkeit zu verbreiten, sorgten sie hier in Ostfriesland für eine ganz besondere Atmosphäre. Unter dem freien Himmel und von der weiten Landschaft umgeben erschien das Schietwetter wie etwas zutiefst Natürliches und Ursprüngliches.

    Ruth fühlte sich ihrer Umgebung zugehörig und nicht wie ein Fremdkörper, der besser in seinen vier Wänden geblieben wäre. Dieses Gefühl war besonders ausgeprägt, wenn Ruth auf dem Deich in der Nähe ihres Hauses stand und zum Meer hinüberblickte. In solchen Situationen war es für sie schwer, sich etwas Schöneres vorzustellen, als genau jetzt genau hier zu sein.

    Fest entschlossen, den Deich zu erklimmen, sobald sie zu Haus angekommen war, schob sie sich hinter das Lenkrad ihres Wagens. Dabei entdeckte sie im Fußraum des Beifahrersitzes einen von Eduards Schnullern. Sie hob ihn auf, wischte ihn an ihrer Hose sauber und platzierte ihn sorgsam auf dem Armaturenbrett. Dann startete sie den Wagen und machte sich auf den Weg nach Greetsiel.

    *

    Antje Effelsberger hatte ihr Fahrrad am Rand des Parkplatzes des Pilsumer Leuchtturms abgestellt und war mit ihrer Ausrüstung bepackt dem Deich dann eine kurze Strecke Richtung Norden gefolgt. Dort wo sich vom Hauptdeich der kleinere Inlandsdeich abspaltete, baute sie ein Stativ für ihren Fotoapparat und eines für ihr Fernglas auf. Der Regen störte sie dabei in keiner Weise. Im Gegenteil, sorgte er doch dafür, dass sie an diesem frühen Morgen weitgehend unbehelligt bleiben würde und ihre Beobachtungen in Ruhe durchführen konnte. Tatsächlich war momentan weit und breit keine Menschenseele zu erblicken. Der Parkplatz lag verwaist da, ebenso die Deichwege. Wie sie gehofft hatte, war sie die einzige Vogelbeobachterin, die sich an diesem Morgen zum Naturschutz­gebiet Hauener Pütten aufgemacht hatte.

    Antjes dunkelgrünes Regencape flatterte im Wind, sodass die Tropfen, die darauf klebten, zu den Seiten wegspritzten.

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