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Das Jahr des Bären: Neue Heimat Kanada
Das Jahr des Bären: Neue Heimat Kanada
Das Jahr des Bären: Neue Heimat Kanada
eBook342 Seiten4 Stunden

Das Jahr des Bären: Neue Heimat Kanada

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Über dieses E-Book

Die Sprachstudentin Theresa lernt in London einen jungen Kanadier kennen. Beide verlieben sich ineinander und verbringen eine glückliche Zeit zusammen. Dennoch ist eine Trennung zunächst unvermeidlich, da Tim wieder nach Kanada und zu seiner Arbeit als Polizist zurückkehren muss. Ein intensiver Briefwechsel folgt, aber eines Tages bricht der Kontakt ab. Theresa ist verzweifelt und fliegt schließlich mit ihrem letzten Geld nach Kanada. Dort erfährt sie, dass Tim bei einem Einsatz in den Bergen tödlich verunglückt ist.
Aber das Leben schreibt manchmal bereits beendet geglaubte Kapitel fort...
Die romantische Liebesgeschichte lädt ein zum Mitleiden und Mitfreuen!
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum22. Okt. 2015
ISBN9783739298061
Das Jahr des Bären: Neue Heimat Kanada
Autor

Lydia Preischl

Lydia Preischl hat sich mit dem Leben in amischen Gemeinschaften intensiv befasst und verknüpft deren traditionelle Lebensweise mit fiktiven Geschichten. Mehr Informationen zur Autorin unter www.allerlei-leserei.de

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    Buchvorschau

    Das Jahr des Bären - Lydia Preischl

    17

    Kapitel 1

    Sie stand wie üblich vor der Glasvitrine, die ihr Lieblingskunstwerk beinhaltete. Theresa war fasziniert von dieser Skulptur. Tippoo’s Tiger stand auf dem Schild darunter. Sie las nicht weiter. Die Geschichte kannte sie.

    So oft sie das Victoria und Albert Museum betrat, lenkte sie ihren Schritt in diesen Raum, der nicht weit vom Eingang entfernt war und viele Kunstwerke dieser und ähnlicher Art aus Indien beherbergte. Seit einem Vierteljahr lebte sie in London. Die Zeit, die sie hier verbringen durfte, raste gleichsam dahin und sie hatte nicht die Hälfte der Dinge erledigt, die sie eigentlich zu erledigen gedachte. Ursprünglich besaß sie eine chronologische Auflistung all der Dinge, die zu tun ihr wichtig erschienen, wenn sie schon einmal das Privileg hatte, hier studieren zu können. Von dieser Liste hatte sie sich schnell verabschiedet, da sie ihren selbst gesteckten zeitlichen Rahmen nicht einhalten konnte. Nun beschied sie sich damit, Erledigtes abzuhaken und fand, dass sie viel zu langsam damit vorankam. Aber so war sie eben: Sie nahm sich viel zu viel vor, plante zu genau und war schließlich enttäuscht, wenn es nicht so funktionierte, wie sie es sich vorgenommen hatte. Hinter dem Listenpunkt Viktoria und Albert Museum fanden sich bereits drei Haken, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass der Eintritt kostenlos war. Nicht, dass sie jedes Mal alle Hallen besucht hätte, nein, es war allein dieses eine Bildnis, das sie immer wieder in ihren Bann zog. Sie fühlte eine beinah körperliche Affinität zu diesem Soldaten, der von dem prächtigen Tiger gefressen wurde. Der indische Sultan Tipu hatte es vor langer Zeit anfertigen lassen, um seinen Hass auf die englischen Truppen in seiner Heimat auszudrücken. Lange hatte Theresa nicht gewusst, dass es eigentlich ein Musikautomat war. Im Inneren des Tigerbauches fand sich eine Orgel-Tastatur, dem Mund des britischen Soldaten entrang sich Wehklagen, während es aus dem Tigermaul brüllte, wenn der Apparat eingeschaltet war. Kinder in Schuluniform belagerten „ihre Vitrine. Eine Dame erzählte mit eindrucksvollen Gesten die Geschichte zur Figur, was ihre Zuhörer zu „Oh- und „Ah"-Rufen hinreißen ließ. Vor allem, als die Erzählerin die Laute des Apparates nachmachte.

    Theresa betrachtete das Kunstwerk mangels eines besseren Standortes durch das seitliche Vitrinenfenster. Der Soldat in farbenfroher Uniform lag stocksteif unter dem bissigen Untier, das in seiner schönsten natürlichen Pracht und Anmut gefertigt war. Theresa fand, dass der Künstler vor allem in die Darstellung des majestätischen Tieres viel Liebe gelegt hatte. Die Schüler hatten nun offensichtlich den Auftrag bekommen, die Figurengruppe abzuzeichnen. Sie versenkten sich in ihre Malblöcke und versuchten sie mehr oder weniger erfolgreich auf das Papier zu bannen.

    Jemand drängelte sich zwischen ihr und der Schülergruppe vorbei. Theresa rückte bereitwillig zur Seite.

    „Er muss fürchterliche Angst gehabt haben, bevor er starb."

    Theresa hörte den Satz, glaubte aber nicht, dass er ihr gelten sollte.

    „Denken Sie nicht?" Jemand tippte ihr auf die Schulter, ein Gesicht spiegelte sich vage im Glas der Vitrine.

    „Was meinen Sie?", fragte sie schließlich doch zurück, ohne sich jedoch umzudrehen. Sie standen im engen Durchgang zwischen zwei Glaskästen und mussten einige andere Besucher vorbei lassen. Langsam wurde es eng um Tippoo’s Tiger.

    „Ich meine, dass der arme Kerl fürchterliche Angst gehabt haben muss, bevor er starb", wiederholte die Stimme hinter ihr.

    „Eigenartig, aber genau das..." Theresa wandte sich endlich um und brach mitten im Satz ab.

    Da stand ein junger Mann – ein überaus attraktiver junger Mann! - in Uniform. Eine Uniform in der Art, wie sie die bärenfellbemützte Leibwache der englischen Königin zu tragen pflegte, mit roter Jacke und schwarzer Hose. Theresa war derart irritiert, dass sie von dem kleinen Kunstwerk zu dem Uniformierten sah und kontrollierte, ob beide nicht identisch waren. Langsam wich ihre Irritation einem Anflug von Humor. Sie hatte sich wieder im Griff, eine Eigenschaft, die sie eigentlich auszeichnete. Nur selten, so wie jetzt gerade, verschlug es ihr dauerhaft die Sprache. „Hat die Leibwache der Queen heute Ausgang?", witzelte sie schließlich mit schelmischem Blick.

    Er schmunzelte. „Falsch. Ganz falsch. Ich trage keine Bärenfellmütze!"

    „Aber Reithosen. Theresa runzelte die Stirn und beachtete ihn genauer. Und was sie sah, gefiel ihr ausnehmend gut. Groß und stattlich wirkte er in seiner adretten Uniform, schwarzhaarig mit sonnengebräuntem Teint. Sein Englisch klang anders als das der Engländer, aber auch nicht wirklich amerikanisch. Jetzt erst fiel ihr sein eigenartiger Hut auf, den er in der Hand hielt. „Du bist Kavalleriesoldat, nicht wahr? Ihre blauen Augen blickten ihn fragend an. Keck blies sie eine vorwitzige Strähne aus ihrem Gesicht.

    „Nicht ganz. Ich gehöre zur kanadischen berittenen Polizei. Wir absolvieren hier eine Spezialausbildung. Terrorabwehr und so was. Ist leider nötig heutzutage. Es sind viele internationale Polizisten hier zur Zeit. Aber was wolltest du eben sagen?"

    Sie überlegte. „Ach ja. Ich wollte sagen: Eigenartig, aber genau dieselbe Überlegung stelle ich auch jedes Mal an, wenn ich diese Skulptur sehe, die Sache mit der Angst, meine ich."

    „Ich wüsste gerne, wie das so ist, auf so grausame Art und Weise sterben zu müssen."

    „Ich glaube nicht, dass ich das gerne wüsste", gab sie zu bedenken.

    „Nein, so habe ich es auch nicht gemeint. Er tippte mit dem Finger an die Stirn, um einen Gruß anzudeuten. „Aber ich muss jetzt weiter. Hat mich sehr gefreut. Er machte Anstalten sich einen Weg durch die Schülergruppe zu bahnen.

    „Du bist wohl das erste Mal in London?", sagte Theresa schnell. Aus einem unerfindlichen Grund wollte sie ihn ungern gehen lassen.

    „Das erste Mal in Europa, um genau zu sein. Und ich schätze, so oft werde ich das Vergnügen nicht haben. Er drehte den eigenartigen Hut in seinen Händen und wusste nicht so recht, was er nun anstellen sollte. Schließlich entschied er sich dazu, doch zu gehen. „Auf Wiedersehen. Hat mich gefreut, wiederholte er noch einmal.

    Theresa nickte ihm zu. Sie sah ihm nach, und noch lange, nachdem er die Halle verlassen hatte, starrte sie auf den Punkt, an dem er aus ihrem Blickfeld verschwunden war.

    Irritiert schüttelte sie den Kopf, als wolle sie sich diese eigenartige Begegnung im sprichwörtlichen Sinne aus dem Kopf schlagen, doch während ihres restlichen Rundganges durch das ausladende Gebäude, ging er ihr nicht mehr aus dem Sinn. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, nur den Tiger zu besuchen, doch irgendetwas trieb sie dazu, sich durch die Ausstellungsräume treiben zu lassen. Unbewusst beschleunigte sie ihren Schritt und in jedem Raum, den sie betrat, hoffte sie, ihre Zufallsbekanntschaft noch einmal zu sehen. Nach der dritten Halle, die sie auf diese Weise durchquerte, gestand sie sich offen ein, dass sie auf der Suche nach der roten Uniform war. Endlich, in der Halle mit den größeren Skulpturen, entdeckte sie ihn wieder.

    „Ich dachte, du interessierst dich nur für die kleineren Dinge hier", sprach sie ihn von hinten an und diesmal zuckte er überrascht und ein wenig erschrocken zusammen.

    Nach einer Schrecksekunde lächelte er gewinnend. „Mich beeindrucken alle interessanten Dinge, die kleineren wie die großen. Und so klein ist die Tiger-Skulptur nun auch wieder nicht. Aber diese Moses-Darstellung hat mich schon immer fasziniert." Er deutete auf die Figur, die in sitzender Haltung modelliert war.

    „Ich komme nur nicht dahinter, was sich Michelangelo dabei gedacht hat, ihm Hörner aufzusetzen."

    Theresa lachte laut auf, mäßigte sich aber sofort wieder, als sie den Widerhall ihrer eigenen Stimme in dem hellhörigen Raum wahrnahm.

    „Das sind keine Hörner, erklärte sie amüsiert. „Das ist der beginnende Heiligenschein, so eine Art Strahlenkranz.

    Nun grinste er auch. „Ich dachte wirklich, der Bildhauer hätte ihm die Hörner gegeben, um den schlechten Menschen in Moses zu symbolisieren, der den ägyptischen Aufseher erschlagen hat. Weißt du dann vielleicht auch, wo der Original-Moses steht? Der hier ist ja wohl eine Dublette."

    „Weiß ich zufällig. Aus dem Kunstunterricht. Das Original steht in Rom in einer Kirche."

    „Kaum vorstellbar, wie man aus einem Steinklotz ein solches Kunstwerk zaubern kann. Meister Michelangelo muss wirklich ein Jahrtausendtalent gewesen sein. Einmal im Leben möchte ich die Sixtinische Kapelle sehen und die Peterskirche", schwärmte er.

    Theresa stimmte ihm zu. „Ja, Rom ist sicher eine Reise wert, aber mein Favorit ist und bleibt London. Allerdings muss ich zugeben, dass ich auch noch nicht viele Städte gesehen habe."

    „Na ja, du hast ja noch Zeit, dir das alles anzusehen. Ich beneide euch Europäer schon. Ihr habt so viel Geschichte auf engstem Raum beieinander und müsst nicht teure Reisen auf euch nehmen, um all das zu sehen."

    Theresa schmunzelte. „Und als Europäer kann man es kaum erwarten, nach Übersee zu kommen, um all die aufregenden modernen Bauwerke zu bestaunen. Bei euch ist alles höher, schneller, weiter..."

    Während sie sich unterhielten, verließen sie zusammen den Monumentalsaal und strebten dem Ausgang zu.

    „Nun, in den Vereinigten Staaten mag das ja stimmen, aber in Kanada, da ist alles, sagen wir: gemütlicher. Die Kanadier unterscheiden sich von den US-Amerikanern gewaltig. Du sagtest eben, dass London dein Favorit unter den besuchenswerten Städten wäre. Ist es denn nicht deine Heimatstadt?"

    Sie suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen von Spott, fand aber nur Interesse in seinem Blick. „Das ist jetzt aber ein Witz, nicht wahr?"

    „Wieso?"

    „Ich bin keine Engländerin und dass du mich dafür hältst, macht mich jetzt schon ein wenig stolz."

    Inzwischen waren sie an der belebten Eingangshalle des Museums angekommen und es bestand keine Notwendigkeit mehr, miteinander zu flüstern. Er lachte laut heraus und ein faszinierender Ausdruck lag auf seinem braungebrannten Gesicht, dass Theresa jenes verräterische Kribbeln in der Magengrube spürte, das sie immer empfand, wenn sie einem derart attraktiven Mann gegenüberstand.

    „Du sprichst praktisch perfekt Englisch und ja, einen kleinen Akzent habe ich schon gehört, aber ich dachte, das wäre nur eine Färbung aus einem der Londoner Vororte. Und was hat dich nun nach London geführt?"

    „Die Sprache. Ich studiere Sprachen. Und ich wollte weg von zu Hause. Mir ein wenig Wind um die Nase wehen lassen."

    Er sah stirnrunzelnd auf seine Uhr. „Ich würde mich gerne weiter mit dir unterhalten, aber ich muss pünktlich in meiner Kaserne sein. Genaugenommen habe ich mir diese Stunde hier von der Mittagspause abgezweigt..." Es passte ihm gar nicht, sie jetzt stehen lassen zu müssen, aber er hatte keine Wahl.

    Theresa nickte schweren Herzens. „Ich habe selbst die Zeit vergessen. Auch ich habe noch eine Verabredung. Es hat mich wirklich gefreut, mit dir plaudern zu können."

    Sie schlugen vor dem Eingangsportal verschiedene Richtungen ein.

    Theresa befand sich zum Sprachenstudium in London. Vorerst wollte sie ein halbes Jahr bleiben und dann zu Hause ihre Studien vollenden. Alles, was mit der englischen Sprache und Kultur zu tun hatte, englischsprachige Länder auf der ganzen Welt mit eingeschlossen, war ihr Steckenpferd. Irgendwann einmal, so stellte sie sich vor, würde sie in einem dieser Länder arbeiten. London jedoch war der Inbegriff dessen, was Theresa sich vom Leben erwartete. Sie stammte vom Lande. Der höchste kulturelle Anspruch den man vor Ort erwarten konnte, war der Auftritt einer Blaskapelle auf dem Feuerwehrfest. Im Moment hatte sie die Provinz satt. London pulsierte, überall und ständig war etwas los. Dass der Supermarkt hinter ihrem billigen Hotel, in dem sie sich dauereingemietet hatte, rund um die Uhr geöffnet hatte, gehörte für sie ebenso dazu, wie der permanente Autolärm, der Tag und Nacht durch ihr Hotelfenster drang, sowie der Londoner Smog, der gerade jetzt in der beginnenden Herbstzeit wieder in alle Poren der Stadt drängte.

    Alles in allem war sie mit ihrem Dasein sehr zufrieden. Manche ihrer Kommilitonen lebten in den Tag hinein, feierten ganze Nächte durch und kümmerten sich nicht weiter um ihr Studium. Bei ihr sah es etwas anders aus.

    Theresa stammte aus keiner reichen Familie. Ihre Eltern standen auf dem Standpunkt, dass sie ihr Studium selbst zu bezahlen hätte und so konnte sie sich Extravaganzen gar nicht leisten. Außerdem waren sie ziemlich altmodisch und hier studieren zu können, hatte im Vorfeld allen Beteiligten viel Nerven gekostet. Das Verhältnis zu ihren Eltern war trotzdem leidlich gut und nachdem diese gesehen hatten, dass ihre Tochter zielstrebig an ihren Lebensplänen arbeitete, schossen sie ihr öfter einmal eine kräftige Summe zu. Dennoch hatte Theresa keine Zeit zu verlieren. Das Leben in London war teuer. Für ihr heruntergekommenes winziges Zimmer im obersten Stockwerk des ebenso heruntergekommenen Hotels musste sie 200 Pfund Dauermiete bezahlen. Und verglichen mit anderen Unterkünften war dies noch sehr günstig. Aber so lange es ihre Finanzen zuließen, wollte sie ihre Chance nutzen. Noch hatte sie ein paar Reserven, die sie gespart hatte, als sie in den Semesterferien am Fließband gejobbt und während der Studienzeit in einem Imbiss gearbeitet hatte. Hier in London hatte sie keinen Nebenjob, weil sie dafür einfach keine Zeit fand.

    Der Spätsommerabend versprach schön zu werden und so frönten die jungen Leute, mit denen sich Theresa angefreundet hatte, ihrem sparsamen Vergnügen, sich einen freien Platz auf einer Wiese im Hyde-Park zu suchen und ein Sandwich-Picknick zu veranstalten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb der Park geöffnet und sie alle wollten die letzten schönen Tage noch in vollen Zügen genießen, bevor sie der Beginn der herbstlichen Regenzeit in die Studiersäle ihrer Schule verbannte, oder noch schlimmer: in ihre eigenen, heruntergekommenen Appartements.

    An diesem Abend saß die kleine Gruppe zwar beieinander auf der abgewetzten Decke, die Runja, eine kleine, blonde Finnin, immer mitbrachte. Doch ein Gespräch kam kaum zustande. Eine wichtige Prüfung beschäftigte die vier, die ihre Köpfe in den Lehrbüchern versenkt hatten.

    Theresa hatte zwar ihr Buch auf dem Schoß, konnte sich jedoch auf dessen Inhalt nicht konzentrieren. Der junge Mann aus dem Museum hatte großen Eindruck auf sie gemacht. Gleich nach ihrem Aufbruch hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, jetzt aber, aus der Entfernung von ein paar Stunden, drängte er sich immer öfter zwischen die Buchstaben ihrer Übersetzung.

    Paul hatte sie angesprochen. Bereits zweimal. Theresa reagierte erst auf seinen freundschaftlichen Rippenstoß.

    „Träumst du, Theresa? Ich fragte gerade, ob jemand weiß, was negligence heißt. Ich habe das Wörterbuch nicht mit."

    Außer Runja, der Finnin, gehörten noch Paul und Anna zu ihren engsten Freunden. Alle vier unterhielten sich untereinander in Deutsch, auch Runja, die gut Deutsch sprach.

    Nachlässigkeit – negligence heißt Nachlässigkeit. Kommt doch schon im ersten Kapitel vor."

    „Danke, Frau Professor. Ich wusste eben, dass du alles weißt. Da brauche ich doch nicht nachzusehen, wenn ich dich nur zu fragen brauche."

    Paul war dünn und hochaufgeschossen. Er hatte bereits jetzt, Anfang zwanzig, reichlich schütteres Haar und zu allem Überfluss einen hellen Spitzbart am Kinn, den er auch nicht mit viel Zureden abrasieren mochte. Er war ein Original und aufgrund seiner angenehmen Art bei allen beliebt.

    Anna hingegen war eine Einzelgängerin. Sie gesellte sich nur ab und an zu ihnen. Nichts an dem jungen Mädchen war auffällig. Sie war durchschnittlich groß, durchschnittlich hübsch und durchschnittlich intelligent. Theresa wusste nicht allzuviel über sie, da Anna ungern etwas über sich selber erzählte. Dennoch verband die beiden Studentinnen so etwas wie eine lockere Freundschaft.

    Anna hatte sie beobachtet. „Sieht so aus, als ob du nicht ganz bei der Sache wärst?"

    Diesmal merkte Theresa, dass sie jemand angesprochen hatte. „Stimmt, ja. Ich denke ständig an etwas anderes. Ich kann mich einfach nicht konzentrieren heute Nachmittag."

    „Ja, ja, lustig ist das Studentenleben", mischte sich nun auch Runja ein. „Wir sollten aufhören mit Lernen und einen drauf machen. Wie wäre es, wenn wir uns die Frischwarentheken im Harrod’s ansehen würden und dann ein Eis essen gingen?"

    Jetzt mussten alle vier kräftig lachen. Runja wusste, dass es zu Theresas Lieblingsbeschäftigung gehörte, durch die Brompton Road zu schlendern und einen Stopp im Nobelkaufhaus einzulegen. Sie mochte die stilvollen Auslagen und obgleich sie nicht so dezent gekleidet war, wie normale Harrod’s-Kunden, fiel sie nicht weiter auf, wenn sie durch die Abteilungen flanierte. Zu viele Touristen waren ebenfalls dort unterwegs, um zumindest einen Blick auf die große, weite und vor allem mondäne Welt der Reichen und Schönen zu erhaschen.

    Theresa legte das Buch beiseite. Die drei waren ihre Freunde und absolut zuverlässig, auch die undurchschaubare Anna. Wem sonst, wenn nicht ihnen, sollte sie ihre Gedanken anvertrauen?

    „Ich habe heute einen Mann getroffen, begann sie umständlich und die anderen grinsten. Sie ignorierte den gutmütigen Spott und erzählte weiter: „Er geht mir nicht mehr aus dem Kopf, obwohl wir nur ein paar Sätze miteinander gesprochen haben. „Wo denn?"

    „Wie sah er aus?" Die Mädchen wollten alles genau wissen, während Paul an seinem Bärtchen herumzwirbelte und sich gerne ein wenig ablenken ließ.

    „Im V&A-Museum. Ich weiß auch nicht. Als wir miteinander sprachen, war es, als ob ich mit einem von euch spreche ... ich meine, einfach ganz normal." Theresa zuckte die Schultern, weil sie nicht wirklich wusste, was genau sie so an dieser Begegnung fasziniert hatte.

    „Aha", machte Paul, der nichts verstand, und den das Gespräch langweilte.

    „Ich schätze, er hat Eindruck auf dich gemacht, mutmaßte Anna. „Wie hat er denn nun ausgesehen?

    „Oh. Also, er war groß und na ja, so groß auch wieder nicht. Ungefähr einen halben Kopf größer als ich. Und er trug eine Uniform."

    „Bingo!, unterbrach sie Runja in ihrem drolligen nordischen Akzent, „Männer in Uniform wirken eben auf Frauen.

    „Ach komm. Davon laufen hier in London doch jede Menge herum. Alles trägt in England Uniform. Sogar die Fünfjährigen in der Schule, wandte Anna ein. „Aber jetzt erzähl weiter. Ist doch mal eine prima Abwechslung.

    „Also, er trug Uniform. Eine rote Jacke mit schwarzer Hose. Reithose!"

    „Und mit einer Reithose läuft er im V&A herum?"

    „Wo hatte er sein Pferd geparkt?"

    „Oder hatte er es dabei?"

    Theresa beschloss, die Flachsereien zu ignorieren. „Er war in Eile. Er sagte, dass seine Zeit sehr knapp wäre und er deshalb nichts davon für das Umziehen verschwenden wolle. Außerdem käme er aus Kanada."

    „Das hat er dir alles einfach so erzählt?"

    „Es ergab sich eben so."

    „Dann war es ein Mountie."

    Theresa fuhr herum zu Paul. Der zwischen zwei Bissen eines Apple-Pies diese Bemerkung eingeworfen hatte. „Wie?"

    „Na, ein kanadischer Polizist. Die nennt man Mountie. Tragen eine rote Jacke und eine schwarze Hose. Reithose, weil sie reiten. Ist doch logisch, oder? Seht ihr eigentlich nicht fern?" „Nein, man sagt nur Mountie, in Wirklichkeit mögen die es gar nicht, so genannt zu werden...", dozierte Runja

    „Wie hat er denn nun ausgesehen? Die Uniform allein kann es doch wohl nicht gewesen sein", unterbrach Anna ungeduldig.

    „Also gut. Groß, also, größer als ich...,"

    „Das ist ja nun kein Kunststück", neckte sie Paul.

    Theresa warf ihm einen gespielt bösen Blick zu und erklärte weiter: „...dunkelhaarig, überhaupt ein dunkler Typ, freundlich, mit braunen Augen und schlank... Theresa hatte die Arme um ihre Knie geschlungen und fixierte einen Punkt in weiter Ferne. „... und er hatte einen heißen Hintern!

    „Einen was?!" Anna wollte es ganz genau wissen, während Paul lachte.

    Theresa kehrte zurück von ihrer Wolkenreise und genierte sich ein wenig.

    Doch Paul bemerkte trocken: „Als Reiter muss er doch einen heißen Hintern haben. Also, Mädels, mir wird das Gerede jetzt zu blöd. Weil ich nicht schwul bin, tu ich mir das nicht mehr länger an. Ich denke, ich gehe doch nach Hause und pauke noch ein bisschen. Ich kann’s gebrauchen."

    „Oh Mann, wenn mir das doch auch einmal passieren würde." Anna ließ sich in gespielter Verzweiflung hintenüber fallen.

    „Ich sehe schon: Ich muss öfter ins V&A gehen."

    Runja lachte. „Hast du vor, ihn einmal wieder zu sehen?"

    „London ist keine Kleinstadt. Aber ehrlich gesagt, ärgert es mich maßlos, dass ich einfach weg gegangen bin, ohne ein weiteres Treffen zu vereinbaren."

    Runja winkte ab: „Wer weiß, wofür es gut war. Sieh es doch mal so: Vielleicht ist er verheiratet und er schlägt seine Frau und seine Kinder."

    Theresa seufzte und antwortete nicht mehr darauf. Stattdessen suchte sie wie die anderen ihre Habseligkeiten zusammen, da es empfindlich kühl geworden war.

    Dennoch setzte sich ein Gedanke in ihrem Hinterkopf fest: Er trug keinen Ehering und war für Kinder eigentlich viel zu jung!

    Kapitel 2

    Auch während der nächsten Tage ging Theresa diese Begegnung nicht aus dem Kopf. Glücklicherweise hatte sie kein Problem mit den anstehenden Prüfungen, doch sie ertappte sich immer öfter dabei, wie sie beständig an den Fremden dachte. Bei jedem Rot-Uniformierten hoffte sie, dass es sich um ihre Museumsbekanntschaft handeln könnte.

    Drei Tage später, der berüchtigte Londoner Regen hatte eingesetzt, fiel ihr die Decke ihres hässlichen Hotelzimmers auf den Kopf. Es war klamm in dem zugigen Raum und sie fühlte sich unwohl in der tristen Umgebung. Ihre Freunde waren in der einen Woche, da die Schule nun geschlossen hatte, nach Hause gefahren oder verreist. Sie selbst fuhr nirgendwo hin, da sie es sich im Moment nicht leisten konnte. Stattdessen nutzte sie die Zeit, um sich ihren Studien zu widmen. Doch im Laufe des Tages hielt sie es nicht mehr aus. Zum einen war sie hungrig, zum anderen zog sie etwas anderes ganz mächtig in eine bestimmte Richtung, wohl wissend, dass es äußerst unwahrscheinlich sein würde, ihren Mountie noch einmal zu treffen.

    Inzwischen hatte sie sich an ihre schäbige Unterkunft im sechseinhalbten Stock, den früheren Dienstbotenunterkünften eines Herrenhauses, das heute als einfaches Hotel betrieben wurde, gewöhnt. Heute jedoch ödete es sie an, noch mehr Zeit in den schiefen Wänden zu verbringen. Um sich abzulenken, beschloss sie, im Supermarkt um die Ecke einkaufen zu gehen und sich auf ihrer Kochplatte im Zimmer etwas Warmes zu kochen.

    Mit ihren Tüten betrat sie wenig später die Hotel-Lobby und begrüßte das Personal hinter der Rezeption freundlich. Sie kannten sich naturgemäß alle, und hin und wieder fand sie sogar ein kleines Lunchpaket in ihrem Zimmer, das vom netten asiatischen Koch in der Hotelküche stammte. Seit sie ihm erzählt hatte, dass sie asiatische Küche sehr schätzte, versorgte er sie, wann immer es ihm möglich war, mit Kostproben seiner Kunst.

    Kaum als sie ihr Zimmer aufgeschlossen hatte, überkam sie eine unüberwindliche Lust nach ihrem Tiger. Ihr Beschäftigungsprogramm mit Einkaufen und Kochen hatte nicht gewirkt. Sie warf die Einkäufe auf die Kommode, holte sich die Regenjacke und den noch nassen Schirm und trabte wieder hinunter in den schweren Londoner Nieselregen. Sie konnte das Museum zu Fuß erreichen, doch bei diesem schlechten Wetter war sie pitschnass, als sie dort ankam. Die Aussicht darauf, mit nassen und kalten Füßen in das ebenfalls dunkle und kalte Gemäuer zu gehen, heiterte sie nicht gerade auf. Dennoch zog sie eine unüberwindliche Kraft in den riesigen Gebäudekomplex, der bei Sonnenschein und mit warmen Füßen betrachtet, wirklich prächtig war.

    Sie betrat die Eingangshalle. Mit klammen Fingern versuchte sie, den Schirm zu schließen, ohne andere Besucher damit nass zu machen. Es war hier sehr belebt, wie stets an Regentagen.

    Sie stieß mit jemandem hinter sich zusammen. Als sie sich umdrehte, traute sie ihren Augen kaum: Es war tatsächlich ihr Mountie!

    „Oh, du bist das!" Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, während er ihr den widerspenstigen Schirm abnahm. Diesmal trug er Zivil. Jeans und Pulli, ebenso wie sie. Eine dunkelgrüne Wachsjacke hing über seinem Arm, während sie ihre Regenjacke noch anhatte. Der inzwischen geschlossene Schirm tröpfelte in kleinen Rinnsalen Wasser auf den Steinboden. Nachdem er ihr den Schirm wieder zurückgegeben hatte, rempelte sie damit eine alte Lady an, die gerade an ihr vorbeiging und die Aktion mit einem missbilligenden Kopfschütteln strafte.

    Theresa war vollkommen unsortiert und strich sich fahrig die feuchten, kinnlangen Haare aus der Stirn.

    „Äh, ja, und danke auch. Sie nickte in Richtung des Schirms und stand unschlüssig herum, während ihr Herz wie wild schlug. Er bemerkte ihre Nervosität und lenkte ihren Blick auf eine der beiden wuchtigen Bänke, die im Eingangsbereich des Museums Platz für fußkranke Besucher boten. „Setzen wir uns doch, wenn du ein wenig Zeit hast.

    Sie lächelte. „Oh, ja. Natürlich."

    „Also, was führt dich hierher?", begann sie, nachdem sie die Jacke ausgezogen und sich gesetzt hatte.

    „Ich wollte den Tiger noch einmal sehen. Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht so genau, warum ich meine kostbare Zeit hier in London damit verbringe, in ein Museum zweimal zu gehen. Es gäbe genug andere Dinge zu besichtigen."

    „Ich wollte auch zum Tiger. Komisch nicht?" Es entstand eine kurze Pause, in der er sie eindringlich musterte. Sie war eigentlich recht unauffällig, mit kurzen, braunen Haaren, die ihr ständig ins Gesicht fielen. Ihre Augen waren blau, nicht braun, wie man es hätte erwarten können. Sie waren von einem derart dunklen Blau, dass er zweimal hinsehen musste, so sehr faszinierten sie ihn. Unter dem dicken Wollpullover waren ihre Formen kaum auszumachen, dennoch schien sie ihm ein wenig kleiner als er selber zu sein, und sie war sicher nicht gertenschlank.

    „Gefällt dir, was du siehst?", quittierte sie sein unverhohlenes Interesse mit Ironie in der Stimme. Theresa waren seine Blicke durchaus nicht unangenehm, aber immerhin saß sie hier mit einem Unbekannten, der sie durchdringend anstarrte. Andererseits wirkte er absolut harmlos und immerhin war er ja ein Polizist. Ein überaus attraktiver Polizist, wie sie auch bei diesem Zusammentreffen sogleich bemerkt hatte. Dennoch kam ihr Runjas Bild vom schlagenden Ehemann wieder in den Sinn.

    „Ich hatte gehofft, dich wieder zu treffen", gab er schließlich ertappt zu.

    War es möglich, dass dieser magische Augenblick bei ihrer ersten Begegnung vor drei Tagen sie beide getroffen hatte? Theresa konnte seinem Blick nicht standhalten und sah nervös zu Boden.

    „Ich bin Timothy Freeman, stellte er sich vor, da er ihre Unsicherheit bemerkte. „Tim, für meine Freunde.

    „Theresa, Theresa Frank. Freut mich sehr." Artig nahm sie die dargebotene Hand. Sie fühlte

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