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Die Schweiz in der Staatstheorie
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eBook535 Seiten7 Stunden

Die Schweiz in der Staatstheorie

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Über dieses E-Book

Das Buch geht der Frage nach, wie die Schweiz – genauer: das politische System, die materielle und formelle Verfassung – in den Werken einiger prominenter, klassischer wie moderner, Staatstheorien vom 18. bis ins 20. Jahrhundert dargestellt wird. Deren Autoren – Jean-Jacques Rousseau, John Madison, Alexis de Tocqueville, Jacob Burckhardt, Max Weber, Carl Schmitt – werden konzis dargestellt und eingebettet in ihren geschichtlichen Kontexten wie die Genfer Republikwirren, die amerikanische Verfassungsbewegung von 1787–1788 oder den entstehenden Schweizer Bundesstaat. Darauf gestützt geht der Autor Daniel Brühlmeier auf die Stellung und die Bedeutung der Schweiz ein. Diese Aussensichten auf die Schweiz sind bislang weitgehend unbeachtet geblieben und werden hier zum ersten Mal prominent und exemplarisch präsentiert.
SpracheDeutsch
HerausgeberNZZ Libro
Erscheinungsdatum26. Juni 2023
ISBN9783907396278
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    Buchvorschau

    Die Schweiz in der Staatstheorie - Daniel Brühlmeier

    Einleitung

    Der Titel dieses Buchs könnte auch ironisch lauten: «Die kleine Schweiz in der grossen Staatstheorie». Ironisch im doppelten Sinn, denn erstens: Die Schweiz, wie sie hier verstanden wird, ihr politisches System, ihre Verfassung im engeren konstitutionellen, aber auch im materiellen Sinn, ist so klein auch wieder nicht. «Si le théâtre est petit, le spectacle a donc de la grandeur», schrieb einer unserer Protagonisten, Alexis de Tocqueville (1991: 635). In diesem Buch versuche ich, diese Aussage zu belegen.

    Und zweitens ist die Theorie, wenn sie sich als «Grand Theory» (s. Skinner 1990) gibt, so gross auch wieder nicht. Es gibt keinen Grund, ihr einen abgehobenen Status zu verleihen. Dies nicht, weil man sich ihrer als abstrakt, für das Konkrete irrelevant, kurz bedeutungslos entledigen könnte. Das wäre zu kurz geschlossen, denn, um noch einmal Tocqueville zu zitieren (1991: 1220): «Les barbares sont les seuls où l’on ne reconnaisse dans la politique que la pratique.»

    Die «Staatstheorien», denen wir in diesem Buch begegnen werden, haben auch noch in einem weiteren und tieferen Sinn nichts Abgehobenes. Sie sind in konstanter Wechselbeziehung zur Praxis, in und am Konkreten erarbeitet worden. Man kann das – und das von mir gewählte Vorgehen – «kontextualistisch» nennen. Das heisst, dass die jeweiligen Theorien nicht einfach unversehens auf einem Podest dastehen, sondern aus individuell-persönlichen und kontingenten historischen Erfahrungen heraus entstanden. Diese Entstehungsgeschichte nimmt im Buch einen breiten Raum ein. Sie ist sehr gut ablesbar in den zahlreichen Briefen, in denen die Autoren über Gegenstand und Entstehung berichten. Es ist ein Glücksfall, dass die meisten dieser Autoren grosse Briefschreiber waren, und sie haben den Brief als Hauptmedium auch ihrer wissenschaftlichen Kommunikation benutzt. Es geht bei ihnen also, in Anlehnung an Kleist, um die allmähliche Verfertigung der Staatstheorie beim politischen Handeln.

    Viele waren auch grosse Reisende. Exemplarisch ist da natürlich wiederum Alexis de Tocqueville. Er brach als 26-jähriger französischer Aristokrat nach Amerika auf, bereiste das Land per Schiff, Kutsche und Pferd, kehrte nach Frankreich zurück und schrieb dann innerhalb von drei Jahren einen Weltbestseller über die Demokratie in Amerika.

    Zwei der grossen politischen Denker des 18. Jahrhunderts sind dagegen nicht so weit gereist. Jean-Jacques Rousseau hatte einen eher eingeschränkten Aktionsradius: nahes Savoyen, Turin, Lyon, Venedig, Paris, wo er dann auch in der Nähe sechs Jahren lebte, Yverdon, Môtiers, St. Petersinsel, England (1766), Trye, Monquoin, schliesslich wieder Paris und Ermenonville. Diese «Reisen» Rousseaus waren eher Fluchten vor wirklicher oder imaginierter Verfolgung als temporäre Ortswechsel mit Rückkehrabsicht (s. Offe 2004: 9) aus persönlichem Interesse oder wissenschaftlicher Neugier. Dieser und vor allem konkreter politischer Tätigkeit entspringen die Reisen von James Madison, die sich ebenfalls nur in seinem näheren Umfeld, an der amerikanischen Ostküste zwischen seinem heimischen Virginia und New York, abspielten; selbst als amerikanischer Präsident unternahm er keine grösseren Reisen.¹

    Jacob Burckhardt ist viel an die Stätten seines akademischen und ästhetischen Dilettantismus, vor allem nach Italien, gereist – dank technischen Fortschritts nun per Bahn. Auch Max Weber reiste relativ viel, und zwar ebenfalls vorwiegend mit der Bahn. Mit Ausnahme der Reise nach Amerika 1904 und der Aufenthalte in Rom 1901 und 1902, wo er umfangreiche Recherchen betrieb, hatten diese Reisen aber einen primär touristischen oder therapeutischen Zweck, insbesondere auch die Reisen in die Schweiz («Schön haben wir Verrückten es hier …», 2015a: 521).² 1901 entlockte ihm das Berner Alpenpanorama ein von ihm mehrfach gebrauchtes Bonmot: die Jungfrau «und die beiden hohen Herren hier – Eiger und Wetterhorn» (2015a: 778).

    Nicht alle Reisepläne unserer Autoren liessen sich verwirklichen. Tocqueville etwa wäre wohl gerne nach Indien oder China gereist. Er hatte begonnen, sich mit dem Phänomen des (insbesondere englischen) Kolonialismus auseinanderzusetzen, gab dies aber auf, weil Recherchen im Land selbst nicht möglich waren. Webers Wunsch, nach Russland zu reisen, blieb ebenfalls sein Leben lang unerfüllt. 1905 lernte Weber innerhalb von Wochen so passabel Russisch, dass er russische Zeitungen und Originaldokumente lesen konnte. Daraus entstanden zwei grosse und bis heute unterschätzte Abhandlungen zur Russischen Revolution von 1905 (s. Anm. 257 und zugehöriger Text). Das Erstaunliche daran: Nach Amerika ist Weber wirklich gereist und voller Enthusiasmus und Tatendrang zurückgekehrt. Nach Russland wollte er und konnte nicht, hat darüber aber mehr geschrieben als über Amerika. Die vertieften Studien sind hier Ersatz für eine wirkliche Reise.

    Unser Thema sind also gewissermassen «Verfassungsreisen», reelle und virtuelle Beschäftigungen mit Verfassung im engeren formellen wie im weiteren (materiellen) Sinn, d. h. inklusive des politischen Systems.

    Wenn wir reisen, betrachten wir im Fremden immer auch das Eigene, schätzen vergleichend dessen Relevanz ab. Mit einem treffenden Titel zu einem lesenswerten Buch nennt Claus Offe (2004) dies Selbstbetrachtungen aus der Ferne. Die eigene Befindlichkeit und unsere Probleme sehen wir in der Spiegelung fremder Realitäten. Dabei kommt es idealerweise zu einer Vergegenwärtigung seiner selbst; die Reise ist dann immer auch eine Reise ins Innere eigener Identitätserfahrung. Komplexer wird es, wenn die Reisen im Grund Emigrationen sind. Bei Rousseau habe ich das schon angedeutet. Und er ist auch nicht der Einzige in dieser Situation. So mussten, um nur zwei bedeutende Beispiele zu nennen, auch John Locke oder Karl Marx ein erzwungenes politisches Exil bewältigen.³

    Weniger offensichtlich, aber sicher ebenso komplex wie interessant sind innere Emigrationen. Für diese braucht es nicht einmal eine reelle, sondern vor allem eine «innere Reise» fort von einer zwar heimischen, aber immer fremder werdenden äusseren Umgebung. Das finden wir, persönlich wie politisch, wieder bei Rousseau und wohl auch bei Burckhardt. Karl Schmid hat Burckhardt von jenem Unbehagen im und am Kleinstaat exkulpiert, das er in seinem berühmten Essay C. F. Meyer, Jakob Schaffner, Cuno Amiel oder Max Frisch attestiert hat. In der Tat entsagt Burckhardt der Faszination des Grossen. Allerdings, so meine ich, haben wir bei Burckhardt doch eine Emigration ins Innere, eine in seiner Fixierung auf einen idealen Kleinstaat nostalgische Entfremdung am eigenen Politischen, die in der Verbindung von Kulturpessimismus und Ressentiment selbst bei einem so grossen Geist unschöne Züge zeitigt. Allein, Burckhardt ist auch immer wieder für eine Überraschung gut, etwa wenn Reisen geradezu der Falsifikation dient: «Auch beim flüchtigsten Besuch wird man wenigstens vorläufig inne, was gewisse Länder, Völker und Kulturen nicht sind» (am 17.1.1889 an Heinrich Wölfflin, Hervorh. J. B., zit. bei Schmid 1998: 251).

    Auf was müssen wir uns als Begleiter dieser reisenden politischen Beobachter einlassen? Am besten sehen wir sie und uns als «Verfassungsethnografen», wie das Kim Lane Scheppele (2004) so überzeugend aufzeigt und praktiziert: Wir wollen wissen, wie hilfreich gewisse politische und konstitutionelle Lösungen sind, andere zu verstehen, deren kontextuelle und spezifische Logik erkennen und uns fragen, ob und wie sie übertragbar sind. Wir schauen weniger auf grosse (meist auch statistisch untermauerte) Korrelationen denn auf das Funktionieren im konkreten, politischen, historischen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Kontext. Wir wollen gewissermassen Spielpläne («set of repertoires») oder Skripts für einzelne konstitutionelle Situationen durchspielen, um sie für konkrete Lösungen fruchtbar zu machen: «Learning the set of repertoires that constitutional ethnography reveals, one can see more deeply into particular cases.» (2004: 391) Ethnografie kann bekanntlich auch Feldforschung werden, und wir sehen bei Rousseau, wie der Beteiligte zum Beobachter werden kann und der Beobachter zum Beteiligten werden will.

    Die Auswahl der hier versammelten Autoren mag subjektiv erscheinen. Es sind zuerst einmal einfach diejenigen, die ich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten am meisten, immer wieder und freudig studiert und bearbeitet habe. Das Besondere und damit auch der Hauptgegenstand dieses Buchs ist für mich, dass diese Autoren ausgedehnte Betrachtungen zum politischen System der Schweiz anstellen, die erstaunlicherweise bisher wenig bis gar keine Aufmerksamkeit gefunden haben. Diese Schweiz-Beschäftigung ist also weitgehend unerkannt oder unterschätzt geblieben.

    Ein gewissermassen gefestigter inhaltlicher Kanon lässt sich erst im unmittelbaren Vorfeld der Gründung des Bundesstaats von 1848 ablesen. Die ab dann wiederkehrenden Themen sind der Föderalismus, das Zweikammersystem auf Bundesebene, die Kollegialregierung, die «republikanische(n) Form(en)», später auch noch das Proporzwahlrecht. Die früheren Autoren behandeln notgedrungen die Schweiz selektiver: der erste, Rousseau, nicht einmal die gesamte Schweiz, ja nicht einmal einen regulären Stand der alten Eidgenossenschaft vor 1848, dafür mit Genf eine der Schweiz zugewandte Stadt. Allerdings ist das republikanische Modell, das dort diskutiert und erstritten wird, von grundsätzlicher Bedeutung für die republikanische Staatsform allgemein und für die schweizerische, vorerst kantonale und ab 1848 bundesstaatliche Entwicklung im Besonderen. (s. Brühlmeier 2020: 409)

    Was aber bringt die Beschäftigung mit diesen Texten für die Schweizer Leser und Leserinnen? Zwei Lektionen stehen für mich im Vordergrund: Da ist einmal die Bestätigung dessen, was unser politisches System ausmacht. Der Blick von aussen lotet aber auch aus und lehrt uns, was anders hätte sein können – wohl kaum je grundsätzlich anders, aber eben in anderen Spielplänen. Bauchnabelschau und Selbstzufriedenheit wären jedoch definitiv die falschen Schlüsse, die wir aus der Fremdbetrachtung ziehen sollten: Allein schon der Aussenblick generiert einen Erkenntnisgewinn. Zudem sind einige der Autoren der Schweiz gegenüber kritisch eingestellt und ihre Einwände verdienen auch heute noch – natürlich mit Bezug auf die Gegenwart – Beachtung.

    *

    Auswählen bedeutet immer auch Weglassen. Es hätte für dieses Buch noch weitere Kandidaten gegeben. Das wichtigste Kriterium bei der auch aus Platzgründen notwendigen Auswahl war, dass sich die Autoren relativ umfassend und nicht nur beiläufig oder punktuell mit der Schweiz befasst haben. Gewissermassen auf der Strecke geblieben sind deshalb einige wichtige politische Denker, auf die ich an dieser Stelle etwas summarischer verweisen möchte.

    Da ist zunächst einmal Niccolò Machiavelli. Seine (allerdings nirgends systematisch dargelegte) Staatstheorie ist entstanden aus «langer Erfahrung mit den Verhältnissen seiner Zeit und ständiger Lektüre der Verhältnisse vergangener Zeiten», wie es in der Widmung des Principe (2000: 42) und im Gruss zu den Discorsi (1925a: 1) heisst. Zu den «Verhältnissen seiner Zeit» («cose moderne») zählt auch die Schweiz. Machiavelli ist 1508 durch die Schweiz gereist, und wir können annehmen, dass er wie üblich versucht hat, sich mit den Leuten zu unterhalten und die «unterschiedlichen Geschmäcker und Wunschbilder der Menschen» festzuhalten (s. im berühmten Brief an Vettori vom 10. Dezember 1513: «[…] et noto varii gusti et diverse fantasie d’huomoni», zit. in 2000: 539). Inhaltlich ist das Thema «Machiavelli und die Schweiz» gut erforscht; Thomas Maissen stellt es kurz und überzeugend so dar (2010a: 110f.):

    –Die Schweizer sind nach dem berühmten, viel benutzten und oft missbrauchten Diktum im Principe (Kap. 12) «armatissimi e liberissimi»; sie verteidigen ihre republikanische Freiheit ⁴ als Bürgersoldaten in einem unbesiegbaren Milizheer und sind mit ihrer Kampftechnik «maestri delle moderne guerre» (Discorsi und Arte della guerra, passim);

    –sie bilden eine defensive föderative Republik ( Discorsi II.4), die beste Staatsform nach der expansiven, auf Eroberung ausgelegten römischen Republik;

    –sie leben in Armut und relativ egalitärer «libera libertà» und vermeiden mit diesem «vivere politico» Klientelbildung und Parteienkämpfe (Brief an Vettori vom 26.8.1513 sowie der kurze, aber prägnante Passus aus dem Ritratto delle cose della Magna , zit. in 1990: 365);

    –ihre Religion ist unverdorben und im Sinn einer Zivilreligion gemeinschaftsbildend ( Discorsi I.12 & 55); und schliesslich

    –sind die Schweizer in der «dramatis personae» des Briefs an Vettori vom 26.8.1513 «bestiali, vittoriosi et insolenti».

    Vor allem dieser Briefwechsel vom August 1513 mit Vettori ist sprechend.⁵ In einer Unzufriedenheitsbilanz zur Evaluierung der Chancen eines Friedens in Norditalien präsentiert Machiavelli am 10.8. die Schweizer militärisch (als Söldner!) wie die Römer zu ihren besten Zeiten und als die Herrscher Italiens. Vettori antwortet am 20. kühl-reflektiert: Die Schweizer könnten nicht wie die Römer werden, denn sie seien eine «zersplitterte («divulsa») Republik»; sie machten ihre Eroberten zu Genossen und nicht zu Untertanen, was teuer sei, und schliesslich herrsche bereits Uneinigkeit unter ihnen. Als unmittelbare Antwort im bereits zitierten Brief vom 26. dreht Machiavelli nochmals auf:⁶ Die Schweizer seien ausserordentlich zu fürchten! Für ihn gehen die Dinge stufenweise und manchmal zusätzlich und unerwartet gedrängt durch Notwendigkeit («necessità»). Die Schweizer seien die besten Heere, solche «der bewaffneten Völker», und wenn man sie nicht bezahle, würden diese Söldner zu Milizlern, die sich selbst zu verteidigen hätten. Unter ihnen herrsche weder Spaltung noch Zwietracht, «solange sie ihre Gesetze beobachten». Schliesslich endet Machiavelli seinen Brief mit der Vermutung, Schweizer wollten zwar wohl nicht mehr herrschen «come i Romani», aber sie würden wohl zum Schiedsrichter Italiens wegen ihrer Nähe und der dortigen Verwirrung und schlimmen Zustände («li disordini et cattivi conditione nostri», zit. bei Najemy 1993: 175).

    Für John Najemy (1993: 163) ist Machiavellis Diskurs über die Schweizer selbstreflexiv: Er spreche durch die Schweizer über sich selbst; in seiner Isolation, seinem intellektuellen Exil versuche er sie zu Römern zu machen. Wenn sich das ereigne, was er prophezeie, wenn seine Fantasien Wirklichkeit würden, so werde man ihm selbst die Kraft der Prophezeiung attestieren. Für Najemy sind und bleiben dies Fantasien; für Volker Reinhardt (1995: 304) handelt es sich um ein zutiefst von Systemzwängen geprägtes, realitätsfernes und überspitztes Schweiz-Bild, das aber «zentrale Begründungs- und Legitimationsachsen Machiavellischen Denkens» erhellt. Im Endeffekt wird die helvetische Projektion des Mythenbildners par excellence zu einem «Stützpfeiler eines Geschichtsbildes, das Historie und vor allem historische Grösse nicht als etwas Unwiederbringliches akzeptieren kann, sondern an ihre listenreiche Wiederherstellbarkeit glaubt». Dafür muss «die Schweiz zu einem kulturell unangekränkelten Reservat in den Bergen projiziert werden, um die Unzerstörbarkeit von virtù und die Hoffnung auf ihre Rückführung mittels vermeintlich unverbrüchlich gültiger, de facto anachronistischer Regelwerke zu garantieren» (ebd.: 329).

    Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Reiseberichten über die Schweiz, vor allem aus dem 18. Jahrhundert: Claude Reichler und Roland Ruffieux (1998) versammeln eine umfassende Anthologie von Schweizreisen auf über 1700 Seiten und leiten sie ausgezeichnet ein.⁷ Als einer der Ersten schickte Lord Chesterfield seinen unehelichen Sohn Philip Stanhope 1746 auf eine solche Schweizer Reise. Er wünschte regelmässigen, ja täglichen Bericht über die Lösung der Souveränitätsfrage(n) und über den Zustand «du gouvernement et de la constitution des Treize Cantons» (in Gibbon 1952: 71). Für uns ragt jedoch ein anderer Text heraus, den der 18-jährige Edward Gibbon 1755 verfasst hat. Wie Stanhope erstattete er seinem Vater Bericht. Dieses Journal de mon voyage dans quelques endroits de la Suisse ist für den Herausgeber von einer «importance capitale» (1952: 82ff.) als Nachweis seines bereits vorhandenen intellektuellen klassischen und methodischen Rüstzeugs. Gibbons Journal einer «Pilgerfahrt der Neugier», wie er es in seiner Autobiografie (1970: 51) nennt, ist elegant und spannend. Neben zahlreichen historischen und architektonischen Details trennt er die Kantone früh in sechs (kleine) demokratische und sieben «mehr oder weniger aristokratische» (ebd.: 16). Die Ersteren handelt er relativ kurz ab: Zwar könne man von ihnen sagen, «chacun est à la fois et Souverain et sujet» (ebd.); in der (an Schwyz pars pro toto erklärten) Landsgemeinde erscheint ihm ihre reklamierte Freiheit aber eher als «licence effrenée», und wenn ein «habile homme qui sait comment on peut manier l’Esprit d’une multitude» komme, dann spurten sie (ebd.: 33; hier und im Folgenden immer in Originalorthografie).

    Viel mehr Platz räumt Gibbon den Städten ein, vor allem Zürich, das ihn durch seine Schönheit, seine Bibliotheken und die protoindustriellen Reichtum kaschierende Einfachheit der Bürger beeindruckt. Wie in der Republik Genua sei hier der «Tresor public vuide et les bourses de ses citoyens remplies» (ebd.: 26) – die liberale Umkehrung des machiavellischen Topos aus den Discorsi, wo «wohlgeordnete Republiken den Staat reich und ihre Bürger arm halten» sollen (1925a: 112)! Basel scheint Gibbon weniger fleissig; vor allem vermerkt auch er schon «la mauvaise Politique du Gouvernement a l’égard de leurs Bourgeois», d. h. die kontraproduktiv restriktive Einbürgerungspolitik (s. Anm. 181 und vorangehender Text). Das politische System der aristokratischen Kantone versucht Gibbon an Bern zu erklären. Das zugegeben komplexe Thema jahrhundertelanger knallharter und zunehmend abgeschlossener Sicherung der Macht von Familiengeschlechtern in einem System von verschiedenen Räten und zahlreichen Funktionen⁸ beschreibt der 18-Jährige auf fünf Seiten, jedoch auch mit Oberflächlichkeiten und gar Absurditäten (z. B. «abbaye» für [burgerliche] Gesellschaften). Er erkennt auch, dass diesem System die Rolle zukam, ein für das 18. Jahrhundert europaweit bedeutendes Staatswesen («Regiment») effizient zu führen. Und wie man als junger Berner zu aristokratischem Stolz (de)formiert wird, erfasst er schlicht meisterhaft: «Beaucoup d’entr’eux sont élevés dans les Baillages de leur Père; ils n’y voyent que des sujets, tout genou plié devant eux, et tous leurs moindres désirs sont d’abord accomplis» (1952: 58).

    Auf Bern kommt Gibbon später nochmals zu sprechen: in einem wohl 1763, anlässlich seines zweiten Aufenthalts in Lausanne verfassten, aber erst 1796 veröffentlichten fingierten Brief eines jungen Schweden an seinen Waadtländer Freund. Wie Karen O’Brien richtig sagt (2018: 2),⁹ ist dieses Werk in mehr oder weniger «implizitem Dialog» mit Rousseau entstanden: Schon auf der dritten Seite (1952: 125) gibt er ein kurzes Resümee des Sozialkontrakts und der «volonté générale». Könnte man Letztere auch einem absoluten Monarchen anvertrauen? Nein, das gehe nicht, denn «[i]l faut que le pouvoir législatif soit partagé»: Eine saubere Gewaltenteilung innerhalb der Legislative, aber auch zwischen Legislative und Exekutive mit einer unabhängigen und wirksamen Judikative sei ebenso unabdingbar wie eine umfassende Berücksichtigung verschiedener Interessen. Sonst glitten die Aristokratien in Oligarchien ab; eine Minderheit von reichen, sich immer an der Regierung haltenden Familien würde dann eine machtlose Mehrheit von Bürgern beherrschen, mit einem «egal mepris pour ceux que le droit naturel auroit du rendre leurs Concitoyens, et pour ceux qui le sont par la Constitution de l’État» (1952: 128). Auch durch die Willkür der Gerichte mangele es dieser Herrschaft an einer Gesetzmässigkeit, die selbst eine Monarchie garantiert – eine Reverenz Gibbons an sein Vorbild Montesquieu (s. Brühlmeier 1981). Und selbst wenn es vielen materiell passabel gehe, fehle den gnädigen Herren der Wille und die Bereitschaft, «de faire jouir à son peuple tous les avantages de la Société Civile» (131); die Untertanengebiete würden zur Finanzierung einer europäischen Grossfinanzpolitik ausgebeutet. Ganz schlimm sei auch die Missachtung der Religionsfreiheit: «il regne à Lausanne une Inquisition Sourde» (1952: 135). Zudem kritisiert er die fehlenden Karrieremöglichkeiten von Nicht-Stadtbernern in der Verwaltung (d. h. Abstammung komme vor Verdienst).

    Der fingierte Brief bricht unvollendet ab. Auch eine Geschichte der Schweizer Republiken (eventuell auch «der Schweizer Freiheit»), die Gibbon plante, kam nicht zum Abschluss. Trotzdem: Alles in allem haben wir in den beiden Texten ein wunderbares Kurztableau eines Ideals postrousseauscher liberaler und aufgeklärter Herrschaft vor dem Hintergrund einer «durchdringenden und fast schon grausamen» (so der Herausgeber von Gibbon 1952: 121) Kritik der Mängel und Verfehlungen Berns.

    Es ist vielleicht etwas paradox, hier zur Staatstheorie zwei Autoren aufzunehmen, deren Theorie präzis auf Abschaffung des Staats allgemein hinzielt: Karl Marx und Friedrich Engels. In der Tat postuliert der Kommunismus, zumindest in der anarchischen Version Bakunins, «die Abschaffung der Kirche und des Staates» als «erste und unausweichliche Bedingung der wirklichen Befreiung der Gesellschaft».¹⁰ Auch wenn Marx und Engels im Kommunistischen Manifest von 1848 noch glaubten, dass eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft auf «demokratischem Wege» zu bewerkstelligen sei, korrigierte Marx seine Haltung nach den Ereignissen der Pariser Kommune von 1871: Der Sozialismus könne nicht durch Übernahme des bürgerlichen Staats erreicht werden, vielmehr müsse die bisherige bürgerliche «Staatsmaschinerie» zerschlagen werden (s. auch Schieder 2018: 111, 98). Dass den beiden Marxisten in diesem Buch kein eigenes Kapitel zugestanden wird, hat allerdings wenig mit dieser Ausgangsthese zu tun – denn die Staatstheorie muss sich durchaus auch dem Gedanken der Abschaffung ihres Hauptgegenstands stellen. Es ist vielmehr so, dass vor allem Engels zwar einige deftig-memorable Einschätzungen der Schweiz liefert, aber diese ergeben dennoch nicht genug Stoff und Konsistenz zu einem eigenen Kapitel.

    Friedrich Engels hatte bereits 1847 unter dem Titel «Der Schweizer Bürgerkrieg» in der Deutsche-Brüsseler-Zeitung vom 14. November 1847 über den Sonderbundskrieg berichtet (1972: 391ff.; auch hier immer in Originalorthografie).¹¹ Er sieht es ein als «wahres Glück, daß die europäische [zivilisierte, industrielle, moderne] Demokratie endlich diesen urschweizerischen, sittenreinen und reaktionären Ballast los» sei. Der «deutsche Spießbürger» und Poeten mögen sich für Tell und die grossen Schlachten und Tugenden begeistert, ja die «hysterische alte Jungfer […] für die derben Waden und strammen Schenkel der sittenreinen Alpenjünglinge» geschwärmt haben. Diese beschäftigten sich «in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit mit Kühemelken, Käsemachen, Keuschheit und Jodeln. Von Zeit zu Zeit hielten sie Volksversammlungen, worin sie sich in Hornmänner, Klauenmänner und andre bestialische Klassen spalteten und nie ohne eine herzliche, christlich-germanische Prügelei auseinandergingen. Sie waren arm, aber rein von Sitten, dumm, aber fromm und wohlgefällig vor dem Herrn, brutal, aber breit von Schultern und hatten wenig Gehirn, aber viel Wade» (393). Als Reisläufer seien sie bis zuletzt der fürchterlichsten europäischen Reaktion treu geblieben und sie hätten «mit einer wirklich tierischen Hartnäckigkeit auf ihrer Absonderung von der ganzen übrigen Welt, auf ihren lokalen Sitten, Trachten, Vorurteilen, auf ihrer ganzen Lokalborniertheit und Abgeschlossenheit bestanden» (397) und Zentralisation und Fortschritt bekämpft.

    Aus Köln flüchtend reiste Engels im Herbst 1848 in die Schweiz ein und berichtete aus Bern als Korrespondent der Neuen Rheinischen Zeitung über die ersten Schritte des neuen Bundesstaats.¹² Seinen ersten Beitrag widmet er am 15.11. den «Neuen Behörden», d. h. der Session der neu gewählten eidgenössischen Räte: «Die Urkantönli haben wieder einige ächte Sonderbündler hineingeschickt, und in Folge der indirekten Wahl ist bei den Ständen das reaktionäre Element, wenn auch in entschiedener Minorität, doch bereits stärker vertreten, als im Nationalrath. Der Ständerath ist überhaupt die durch Abschaffung der bindenden Mandate und der Ungültigkeit der halben Stimmen verjüngte und durch Creirung des Nationalraths in den Hintergrund gedrängte Tagsatzung. Er spielt die undankbare Rolle des Senats oder der Pairskammer, des Hemmschuh’s an der vorausgesetzten überfliegenden Neuerungslust des Nationalraths, des Erben der reifen Weisheit und sorgfältigen Ueberlegung der Väter. Diese würdige und gesetzte Behörde theilt bereits jetzt das Schicksal ihrer Schwestern in England und Amerika und weiland in Frankreich; sie wird, noch eh’ sie ein Lebenszeichen von sich gegeben, von der Presse über die Achseln angeseh’n und über dem Nationalrath vergessen. Kein Mensch spricht fast von ihr, und wenn sie von sich sprechen machen wird, so wird’s um so schlimmer für sie sein» (2020: 87). Zum Nationalrat ergänzt er, dass dieser gleich in der ersten Sitzung mit drei Wahlgängen bei der Präsidentenwahl eine Probe «von ächt schweizerischer Uneinigkeit und Kleinigkeitsträumerei gegeben» (88) habe. Zum Präsidenten des Ständerats sei «Moderado Furrer» gewählt worden. Die Bestimmung der Bundeshauptstadt war damals hoch kontrovers; Engels vermutet am 23.11., dass bei einer Nichtberücksichtigung Berns kantonal eine Bewegung ausbrechen könnte, die über eine Majorität der radikalen Richtung um Stämpfli den Sturz Ochsenbeins und eine sofortige Revision der Bundesverfassung nach sich ziehen würde. Auch das Einkammersystem wäre dann wieder Thema (2020: 122).

    Zu grosser Form läuft Engels am 29.11. auf, wo er in Die Persönlichkeiten des Schweizer Bundesrats¹³ (152ff.) spitze Ironie und gute politische Urteilskraft verbindet:

    –Jonas Furrer sei «der ächte Typus des Zürichers. Er hat, wie man in Frankreich sagen würde, l’air éminemment bourgeois. Kleidung, Haltung, Gesichtszüge bis zur silbernen Brille verrathen auf den ersten Blick den freien Reichsstädter›, der sich als Präsident des Vororts und resp. der Tagsatzung zwar etwas civilisirt hat, aber dennoch ‹jeder Zoll ein Provinzialist› geblieben ist.» Als Bundespräsident sei er eine Verlegenheitslösung, «mehr Zufall als Absicht».

    –«Vicepräsident [Henri] Druey» sei als «entschiedener Anhänger der rothen Republik» und als «sozialistischer Demokrat von der Farbe Louis Blanc’s, der erste Kenner des Staatsrechts und der rascheste und fleißigste Arbeiter in der ganzen Schweiz». Ihm gehören Engels Sympathien: Er «ist ein Element im Bundesrath, das mit der Zeit mehr und mehr an Einfluß gewinnen und von der besten Wirkung sein muß».

    –Ulrich «Ochsenbein, der Chef der Freischaaren gegen Luzern, der Präsident der Tagsatzung, die den Sonderbundskrieg beschloß, der Oberst der Berner Reserven in diesem Feldzug […] démocrate pur» sei durch äussere Pressionen und die Radikalität der inneren Entwicklungen eingeschüchtert worden, «näherte sich allmählig der gemäßigten Richtung» und habe durch Zaudern an Popularität verloren. Hätte er in den Berner Wahl-Auseinandersetzungen einen stärkeren Gegner als Neuhaus gehabt, «Ochsenbein würde weit weniger Stimmen auf sich vereinigt haben».

    –«Oberst [Friedrich] Frey-Herose von Aargau gilt für eine der militärischen Kapacitäten der Schweiz» und wird als solche «Tüchtiges leisten».

    –«Staatsrath [Stefano] Franscini aus Tessin ist unbedingt einer der geachtetsten öffentlichen Charaktere der ganzen Schweiz […] gilt außerdem für den gebildetsten Oekonomen der Schweiz und ist der Verfasser der besten schweizerischen Statistik».

    –«Regierungsrat [Josef] Munzinger aus Solothurn» besitze «jene unter gutmüthig-biedermännischer Außenseite verdeckte kleine Schlauheit, die in Reichsstädten für Diplomatie angesehen wird»: «ein gemäßigter Fortschrittsmann à la Furrer [, der] verlangt, die Schweiz soll sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, und die große europäische Politik Gott und Lord Palmerston überlassen. Daher ist er durchaus nicht günstig auf die ausländischen Flüchtlinge zu sprechen, die der Schweiz bisher immer Unannehmlichkeiten zugezogen haben».

    –«Endlich Hr. [Wilhelm] Näff von St. Gallen, von dem ich wenig zu sagen weiß»; Engels ergänzt immerhin, dass er «als Verwaltungsmann nicht ohne Verdienst sein» soll.

    Zudem räumt er ein, dass das (bisher erprobte) Schweizerische Kollegialsystem schwer zu verstehen sei, vor allem was das ständige In-die-Minorität-versetzt-Werden betrifft. Er schliesst mit der Gesamteinschätzung: «Die Schweizer Presse behauptet allgemein, der Bundesrath sei aus Capacitäten ersten Ranges zusammengesetzt. Ich zweifle indeß, ob außer Druey und Franscini ein einziges Mitglied in einem größeren Lande je eine hervorragende Rolle einnehmen, und ob mit Ausnahme von Frey-Herose und Ochsenbein, einer der drei Andern es nur zu einer bedeutenden sekundären Rolle bringen würde» (156).

    Eine Glosse vom 10.12. zum «Schweizer Nationalrat» beginnt Engels mit der rhetorischen Frage: «Wer kümmert sich in dieser Zeit der europäischen Stürme um die Schweiz?» Seine Antwort: «Die Schweiz geht uns Deutsche also allerdings an, und was die Schweizer denken, sagen, thun und treiben, kann uns in sehr kurzer Frist als Vorbild vorgehalten werden». Dann geht er ein auf «die Crème der schweizerischen Gesellschaft, die Männer, die das Schweizer Volk selbst zu seinen Repräsentanten ernannt hat». Engels ist erstaunt, dass es keine Sitzordnung nach Parteien (und damit der Links-rechts-Anordnung) gibt. «[D]as (Deutschschweizer) Gros» bestehe «aus unbeschreiblich physiognomirten und kostümirten, mehr oder weniger ältlichen und altfränkischen Herren, jeder verschieden, jeder ein Typus für sich und meistens auch für eine Karikatur. Alle verschiedenen Spielarten des Spießbürgers, des campagnard endimanché und des Kantönli-Oligarchen sind hier vertreten, alle aber gleich biedermännisch, gleich erschrecklich ernsthaft, mit gleich schweren silbernen Brillen» (221).

    Die Diskussion sei ähnlich mittelmässig und gestelzt, «im Ganzen matt, ruhig, mittelmäßig. Rhetorische Talente, die auch in größern Versammlungen Erfolge erringen würden, zählt der Nationalrath sehr wenige». Es herrsche «bis zur Unerträglichkeit» neigende Redundanz, «patriarchalische Offenherzigkeit». «Die Spießbürgerei, die dem physique der Versammlung etwas Originelles gibt, weil man sie in dieser Klassicität selten sieht, hört auch hier nicht auf, au moral platt und einschläfernd zu sein. Von Leidenschaft ist wenig, von Esprit gar nicht die Rede» (223). Hervorgehoben wird «Herr Doktor Escher […] ein «schweizerischer Athenienser […] Sein Frack, sein Gilet sind vom ersten marchand tailleur Zürichs angefertigt; man sieht das lobenswerthe und stellenweise nicht erfolglose Bestreben den Anforderungen des pariser Modejournals nachzukommen, man sieht aber auch die reichsstädtische Erbsünde die die Hand des Zuschneiders immer wieder in das altgewohnte kleinbürgerliche Geleise zurückführte.» Er zeige eine «Mischung von Würde und eleganter Non-chalence [… sei] so elegant, wie man es in Schweizer-Athen nur sein kann, und dazu ist er reich, hübsch, von kräftigem Körperbau und nicht über 33 Jahre alt. – Die Berner Damen mögen sich hüten vor diesem gefährlichen [– zum wiederholten Mal! –] Alcibiades von Zürich.»

    Bei so viel Ironie und Sarkasmus, den Engels über die Schweizer Parlamentarier ausschüttet, erstaunt die positive, ja eigentlich bewundernde Behandlung, die eine Person erfährt: General Dufour. Wenn er auftrete, herrsche sofort «größte Stille […] und alle Blicke richteten sich auf einen alten, bartlosen, kahlköpfigen Mann mit langer gebogner Nase, der in französischer Sprache zu reden anfing» (230). Und er trete auf «mit einer Sicherheit, spricht mit einem Fluß, einer Eleganz und einer Präzision, einer Klarheit, die bewundernswerth und im schweizerischen Nationalrath einzig ist […] Und dazu waren die Gesinnungen, die er kundgab, so nobel, so soldatisch im guten Sinne des Worts, daß sie die brodneidischen Eifersüchteleien, die kleinlichen Kantönlibornirtheiten der deutschschweizerischen Offiziere erst recht grell hervortreten ließen» (231). In der Sache, der Gewährung des politischen Asyls durch den Kanton Tessin, vertrat er eine saubere, neutralitätsfundierte,¹⁴ aber auch Recht und Gesetz sowie humanitäre Verpflichtungen respektierende Position, deshalb konsequent Aufnahme der Flüchtlinge und Widerstehen der österreichischen Erpressung. Dass es schliesslich ein schleimender Kuhhandel von Bundespräsident Furrer war, der diese Haltung umstiess, machte die Postur, «die noble Ritterlichkeit» (147) und die «schlagenden Argumente» (232) Dufours nur noch grösser. Engels spricht wiederholt von einer «im schweizer Bundesrath herrschenden Partei Furrer-Ochsenbein-Munzinger», die das Ziel habe, «dem ‹Flüchtlingsunwesen› ein für allemal ein Ende zu machen» (237).¹⁵

    Schliesslich produziert Engels noch einen bitterbösen Artikel über die «Schweizer Presse». Erstaunlich sei die «Unverschämtheit» der frechen persönlichen Angriffe; daneben «bleibt fast nichts als die krummbuckligste Kriecherei vor den widerlichen Bornirtheiten eines kleinen, in seiner Kleinheit noch zersplitterten und gränzenlos aufgeblasenen Volks von vorsündfluthlichen Alpenhirten, vernagelten Bauern und schmutzigen Spießbürgern» (2020: 303).

    Das ist natürlich eine bewusst pointierte, ja fast schon karikierte Darstellung der Schweiz. Allerdings war schon lange vor Engels das allgemeine, nur schon geologisch-klimatische Bild der Schweiz durchwegs negativ: Die Schweiz galt als ungastlicher und gefährlicher Ort, gar als «locus horribilis». Dies änderte sich, wie es sich bei Reichler (1998) schön verfolgen lässt, in der Aufklärung und Romantik. Auch die Sicht auf die politische Schweiz war lange Zeit negativ, oder zumindest mit beträchtlichen Vorbehalten bespickt, wie wir bei Engels gesehen haben. Das werden wir noch einschneidender und fundierter begründet als bei Engels in der kühlen Analyse Tocquevilles feststellen. Aber auch hier gibt es einen markanten Umschwung in der Perspektive, interessanterweise in der angloamerikanischen Literatur zu Ende des 19. Jahrhundert. Der an John Austins Rechtspositivismus geschulte «Victorian Jurist» Albert Venn Dicey (1835–1922) würde hier durchaus ein eigenes Kapitel verdienen, auf das ich aber, nicht zuletzt wegen der Gefahr von zu viel Eigenzitation (Brühlmeier 1985a, 1985b), verzichten werde. Dicey ist ein Klassiker des englischen Verfassungsrechts, der magistrale «expounder» (1959: 4, d. h.: «simply to explain its laws») von etwas, das es, formell zugespitzt, gar nicht gibt – die «englische Verfassung» –, und als solcher einer der prägnantesten Staatstheoretiker. Er tut dies in drei Teilen: Zuerst behandelt er die Souveränität des Parlaments als die dominierende Charakteristik der britischen politischen Institutionen, «the very keystone of the law of the constitution». Das ist resp. war, zumindest in den Grenzen des britischen Rechtsgebiets, eine Allmacht, das Recht, welches Gesetz auch immer zu erlassen oder abzuändern – mit Ausnahme, so das Bonmot De Lolmes, aus einer Frau einen Mann und aus einem Mann eine Frau machen. Dicey erkannte die Gefahr, dass das Parlament so im Extremfall elementare Rechtsprinzipien verletzende, ja gar diktatorische Gesetze erlassen könnte, klar und kämpfte entschieden dagegen an. Er verneinte auch (noch) jegliche Schranke im Völkerrecht; die Parlamentssouveränität könnte allenfalls an der kollektiven Nichtbeachtung eines Erlasses durch die Normadressaten scheitern. Zudem traute er auch einem despotischen Gesetzgeber nicht zu, kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten so krass zu ignorieren, dass sie diese quasirevolutionäre Situation zur Folge hätte.

    Das zweite Verfassungsprinzip steht zum ersten prima vista etwas quer, kann aber auch als balancierend-komplementär verstanden werden: die Rule of Law (in einem mirakulösen Kapitel will Dicey sogar zeigen, wie sich die beiden Prinzipien gegenseitig stützen, s. 1959: 406ff.). Es ist die «supremacy of the law (of the land)», wie sie Dicey auch nennt, die darin besteht, dass nur eine bestimmte, von einem ordentlichen Gericht festgestellte Rechtsverletzung einen Entzug von Freiheit oder Gütern nach sich ziehen kann: «Englishmen are ruled by the law, and by the law alone» (1959: 202). Sie bedeutet auch Gleichheit vor dem Recht in dem Sinn, dass niemand sich der ordentlichen Jurisdiktion entziehen kann, und hat schliesslich zur Folge, dass die Freiheitsrechte nicht Anwendung eines Freiheitskatalogs, sondern Richterrecht, Ergebnis richterlicher Entscheide, darstellen. Dies verdeutlicht Dicey dann an den drei wichtigsten Freiheitsrechten: persönliche Freiheit, Diskussions- und Versammlungsfreiheit.

    Das dritte grundsätzliche Element des englischen Verfassungsrechts sind die von Dicey treffend genannten «conventions [auch: understandings] of the constitution»; für Loughlin (2013: 33) sind sie sogar gewissermassen das Schmiermittel zwischen den beiden anderen Prinzipien. Zu ihnen würde sich zwar kein Gericht äussern, als Konventionen, Usanzen oder Gebräuche bestimmen sie aber zentrale Bereiche von Recht und Politik Grossbritanniens (und des Commonwealth). Sie stellen sicher, dass die Verfassungsgesetze, inklusive der Prärogativen des Königs (d. h. konkret Handlungen der Kabinettsmitglieder), im Sinn des «Geistes der Freiheit» (Loughlin) erfolgen, ja nach Dicey selbst sind sie «intended to secure the ultimate supremacy of the electorate as the true political sovereign of the State» (1959: 437).

    Bemerkenswert ist nun, dass Dicey ein ausgesprochenes Interesse an unseren schweizerischen Verfassungsinstitutionen zeigt und diese vergleichend in seinen Publikationen berücksichtigt. Einleitend zu einem längeren Zeitschriftenaufsatz (1890: 113) witzelt er, die Schweiz sei für den Engländer im modernen Europa das am besten erforschte Land und der unbekannteste Staat. Dabei beweist er auch seine Kenntnisse aus erster Hand der Werke von von Orelli, Dubs und Blumer. Unter dem generellen Titel «Referendum» behandelt er ab 1890 sauber und immer aktualisierend einerseits das seit 1848 bestehende obligatorische Verfassungsreferendum (Art. 123 BV 1874) sowie das fakultative Gesetzesreferendum, wie es 1874 in die Bundesverfassung eingeführt wurde (Art. 89 Abs. 2; die Möglichkeit zur Dringlichkeitserklärung lehnte er allerdings immer entschieden ab). In der Tatsache, dass Verfassungsänderungen von Volk und Ständen gutzuheissen und gar einfache Gesetze im Fall des Referendums dem Volk vorzulegen sind, sah Dicey eine vorzügliche Verbindung von direkter Demokratie und Verfassungskonstanz, die sowohl rasche und tiefgreifende Eingriffe wie etwa bei einem britischen Parlamentswechsel, gleichzeitig aber auch das andere Extrem des immobilen «schlafenden Monarchen» der US-Verfassung verhindere. Auf jeden Fall macht die Verfassung in Theorie und Praxis das Volk in der Schweiz «the real sovereign» (1890: 144).

    Überhaupt: Der Gedanke, die Bundesverfassung sei eine Kopie der amerikanischen, ist oberflächlich und vor allem die der 8. Auflage der Introduction von 1897 (s. 2013: 304ff.) eingefügte Notiz ist ein verfassungskomparatives Kleinod. Das genannte Referendum sei «an institution of native growth» (310), «an essential feature of Swiss constitutionalism» (311). Zudem habe es nur eine kassierende Wirkung, «a purely negative effect» (ebd.). Mit der seit 1891 in die Bundesverfassung eingefügte Verfassungsinitiative («Volksanregung») muss sich Dicey noch theoretisch wie praktisch anfreunden; sie sei «neither in theory nor in fact a necessary consequence of the maintenance of the referendum» (ebd.). Dicey sieht zwei Haupteffekte des Referendums: Es trennt den Sachentscheid vom Personalentscheid. Ein Mitglied des Bundesrats oder das Gesamtgremium können ein Referendum verlieren. Sie sind dadurch aber nicht persönlich desavouiert und müssen nicht um ihre Wiederwahl bangen. Und zweitens bremst es die Entstehung von Parteien und Parteienregierungen, wobei Ursache und Wirkung komplex und unentschieden bleiben: Triumphiert die eingeübte Sachorientierung auch der Stimmenden über die Orientierung an Parteiprogrammen, oder begünstigt die vergleichsweise schwache Ausprägung der Parteien die Ausformung von Sachabstimmungen? Dicey wird sogar so weit gehen, das Referendum für England zu empfehlen.

    Die USA und die Eidgenossenschaft sind beides Bundesstaaten, mit notwendigerweise wachsendem nationalem Einheitsgedanken, mit dem Versuch (noch) einer Balance eines «very peculiar state of sentiment […:] They must desire union, and must not desire unity» (1959: 141f.). Beide haben ihre Zerreissprobe gehabt, die Amerikaner wegen der Sklaverei und die Schweizer wegen konfessionellen Streits, dies in beiden Fällen mit kriegerischem Ausgang, wobei: «the triumph of Grant was not more complete than the triumph of Dufour. Nor is it at all certain that the military genius of the American was greater than the military genius of the Swiss general» (2013: 313).

    Die Verschiedenheiten zwischen den USA und der Schweiz sind aber ebenso bemerkenswert:¹⁶ Erstere waren sofort ein unabhängiger moderner Staat; Letztere musste ihre Unabhängigkeit erkämpfen, tat das aber spätestens schon 1648. Amerikanische Institutionen sind direkt aus den englischen gewachsen und viel einheitlicher; die schweizerischen sind z. T. autochthon, z. T. der europäischen Entwicklung geschuldet, der feudalistischen Ungleichheit des Mittelalters ebenso wie den Gleichheitsbestrebungen der Französischen Revolution. Entsprechend verschieden waren die Stände der alten Eidgenossenschaft; überhaupt: «Under these circumstances, it is naturally to be expected that even institutions which possess a certain formal similarity should display an essentially different character in countries which differ so widely as the United States and Switzerland» (ebd.).

    Dicey fasst die Unterschiede in einer prägnanten Formel zusammen: «American Federalism is strong where Swiss Federalism is weak; where American Federalism is weak, Swiss Federalism is strong» (ebd.). Das lässt sich gut

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