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Engagierte Beobachter der Moderne: Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf
Engagierte Beobachter der Moderne: Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf
Engagierte Beobachter der Moderne: Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf
eBook396 Seiten4 Stunden

Engagierte Beobachter der Moderne: Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf

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Über dieses E-Book

Große Zeitdiagnostiker als kritische Beobachter.

Mit Beginn des 20. Jahrhunderts etablierte sich ein neuer Intellektuellen-Typus, der das Verhältnis von Geschichte und Politik kritisch in den Blick nahm. Der französische Philosoph Raymond Aron prägte für diese Experten der Zeitdiagnostik den Begriff »engagierte Beobachter".
Gangolf Hübingers Studien zum Phänomen des Zeitdiagnostikers setzen ein bei der Kulturschwelle um 1900 und den sich radikalisierenden Ideenkämpfen um wissenschaftliche Beschreibung und politische Gestaltung der Moderne. Es folgen exemplarische Porträts zu Max Weber, zu Ernst Troeltsch, dem Analytiker der großen Umbrüche nach 1918, zu Fritz Stern, dem Mittler zwischen Europa und Amerika, und zu Ralf Dahrendorf in seinem kritischen Dialog mit Jürgen Habermas über 1989 und die Folgen.
Die abschließende kritische Betrachtung gilt dem intellektuellen Anspruch der Historiker, bewusst in zwei Welten zu leben, in Gegenwart und Vergangenheit.
SpracheDeutsch
HerausgeberWallstein Verlag
Erscheinungsdatum3. März 2016
ISBN9783835329133
Engagierte Beobachter der Moderne: Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf

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    Buchvorschau

    Engagierte Beobachter der Moderne - Gangolf Hübinger

    Gangolf Hübinger

    Engagierte Beobachter

    der Moderne

    Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf

    Für Rita, die engagierte Beobachterin meiner Arbeit

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

    Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © Wallstein Verlag, Göttingen 2016

    www.wallstein-verlag.de

    Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond

    Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf

    © für das Porträt von Max Weber: DLA Marbach

    © für das Porträt von Ralf Dahrendorf: Heide Fest

    ISBN (Print) 978-3-8353-1797-0

    ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2912-6

    ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2913-3

    Inhalt

    Der »Engagierte Beobachter« und die Zeitdiagnostik. Zur Einführung

    Aufbrüche.
    Wissenschaftliche Selbstbeobachtung um 1900

    1. Sozialwissenschaftliche Avantgarden. Das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« (1904 – 1933)

    2. Sozialwissenschaft und Sozialreform im Welthorizont. Britische Fabier und amerikanische Progressive

    3. Geschichtsdenken, kulturelle Evolution und sozialer Darwinismus

    4. Erfahrung und Erforschung der »Säkularisierung«

    Spannungen.
    Max Weber und Ernst Troeltsch

    5. Immer auf Kollisionskurs. Max Webers Gegenwartsdiagnostik

    6. Max Weber und die »universalgeschichtlichen Probleme« der Moderne

    7. Ernst Troeltsch und die politische Kulturgeschichte Europas

    8. »Die ganze Welt wird anders«. Ernst Troeltsch als »Spectator« von Revolution, Bürgerkrieg und demokratischer Neuordnung (1918-1922)

    Perspektiven.
    Zeitdiagnostik um 2000

    9. Fritz Stern zwischen Europa und Amerika

    10. Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas. Zwei Varianten der europäischen Aufklärung

    11. Über die Aufgaben des Historikers

    Nachweise

    Register

    Der »Engagierte Beobachter« und die Zeitdiagnostik

    Zur Einführung

    »Engagierte Beobachter« sind Experten der Zeitdiagnostik. Der Berliner Religionsphilosoph und Kulturhistoriker Ernst Troeltsch wählte für seine regelmäßigen Kolumnen zur politischen und sozialen Neuordnung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg mit Bedacht das Pseudonym »Spectator«. Als »einen illusionslosen Beobachter der Dinge« bezeichnete er sich, als er im aufgewühlten Berlin der politischen Attentate im Oktober 1921 die Ermordung des katholischen Zentrumsführers und ehemaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger kommentierte. »Die Verfassungskrise« war der Artikel überschrieben, in dem Troeltsch die polarisierte Öffentlichkeit zugleich aufklärte, warum für ihn illusionslose Beobachtung alles andere bedeute als Standpunktlosigkeit in den Ideenkämpfen der frühen Weimarer Republik. Das Gegenteil sei der Fall. Wer die Befestigung der Demokratie, den Ausgleich mit den Siegerstaaten, die soziale »Hebung der Massen« und den »Kampf gegen die Teuerung« wollte, wer »an einem dieser Punkte wesentlich interessiert war, der wurde an diese Seite gedrängt und für das Ganze mitengagiert«. [1] Troeltsch war in den Zeiten des Bürgerkriegs und der Dauerkrisen der Republik höchst interessiert und engagiert. Gerade deshalb schien ihm die distanzierte Beobachtung der angemessene Ort eines politischen Publizisten zu sein, der Philosoph von Beruf ist und in welthistorischen Dimensionen denkt.

    Wie Troeltsch wissen die »engagierten Beobachter« des 20. Jahrhunderts darum, dass die Einsicht in historische Entwicklungslinien immer einen Standpunkt in der Gegenwart voraussetzt, dass sie aber ihre politischen Werte und Urteile nicht unmittelbar aus dem Verlauf der Geschichte ableiten können. Engagierte Beobachter der modernen Zeiten und ihrer Krisen leben und schreiben im Bewusstsein dieser nicht lösbaren Spannung. Wie sie damit umgehen, darum geht es in diesem Buch an ausgewählten Beispielen.

    Geschichte und Politik, was bindet diese beiden Welten zusammen, was hält sie auseinander? Und was tun historische Denker, wenn sie Gegenwartsdiagnostik betreiben? In der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat die Figur des »engagierten Beobachters«, des »spectateur engagé« oder des »committed observer« deshalb ihren besonderen Ort, weil sie sich diesem Problem in besonderer Intensität gestellt hat.

    Der französische Philosoph Raymond Aron ist der Schöpfer des Sprachbildes vom »spectateur engagé«. In seinen »Mémoires – 50 ans de réflexion politique« von 1983, übersetzt unter dem treffenden Titel »Erkenntnis und Verantwortung«, [2] beschreibt Aron seine Erfahrungen als Lektor in Deutschland zwischen 1931 und 1933, seine intensive Auseinandersetzung mit der an Kant geschulten Geschichtsphilosophie und mit dem Denken Max Webers. In dieser Zeit beobachtete er die Zerstörung der Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtübernahme. In Berlin wurde er unmittelbar Zeuge der Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933. [3] Diese Erfahrungen trieben ihn an, quer zum Mainstream der französischen Intellektuellen über das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart nachzudenken und als Gegenpol zu seinem Studienfreund und »petit camérade« Jean-Paul Sartre den Habitus des »engagierten Beobachters« zu entwickeln: »Weil ich ein engagierter Beobachter sein wollte, war ich es mir schuldig, die Beziehungen zu klären zwischen dem Historiker und dem handelnden Menschen, zwischen der Kenntnis der sich entwickelnden Geschichte und den Entscheidungen, die der historische Mensch zu treffen gezwungen ist.« [4]

    Im Kern ist hier der »engagierte Beobachter« definiert durch eben jene Spannung zwischen wissenschaftlicher Beobachtung der historisch-sozialen Welt und politischem Handeln in dieser Welt, wie sie bei Troeltsch bereits zum Ausdruck kam. Sie beruht auf einer europäischen Grunderfahrung an der großen Kulturschwelle um 1900, der Übergangsphase in die »Moderne«, in der auch Arons geistiger Mentor Max Weber wirkte. Das Signum der »Moderne« ist nicht die Beschleunigung aller Lebensrhythmen als solche, als die sie gern charakterisiert wird. Es ist die »Vielfalt«, die Pluralität und die Gegensätzlichkeit der Lebensentwürfe und Lebensordnungen. In den demokratisierten Massengesellschaften führt das zwangsläufig zu Dauerspannungen zwischen konträren Ordnungsideen und zu dauerhaften Ideen- und Geltungskämpfen, vorneweg in den Metropolen von Paris, London, Wien oder Berlin.

    Voller Erstaunen hielt ein sensibler Europareisender wie der amerikanische Schriftsteller Henry Adams angesichts der technischen und kulturellen Leistungsschauen der rivalisierenden Industrienationen auf der Pariser Weltausstellung von 1900 fest: »Das Kind, das 1900 geboren wurde, würde also in eine neue Welt hineingeboren werden, die keine Einheit, sondern eine Vielfalt darstellen würde.« Die neue Welt der Moderne biete nicht mehr die Sicherheit eines »Universums«, in dem die Geschichte Lehren für die Gegenwart bereitstellt. Das »Kind« der Moderne wird sich in den unübersichtlichen Verhältnissen eines »neuen Multiversums« zurechtfinden müssen. [5]

    Der »engagierte Beobachter« ist auf konsequente Weise ein solches »Kind« der modernen Unübersichtlichkeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und niemand hat sich an diesem Typus als Essayist und Romancier so wortmächtig abgearbeitet wie der studierte Ingenieur und Philosoph Robert Musil.

    Wenn die »Geschichte« für den »modernen Zivilisationsmenschen« eine Erfahrung bereithalte, so schrieb Musil nach dem Ersten Weltkrieg in einem Essay über »Das hilflose Europa«, dann die, dass die Gegenwart zwangsläufig eine Zeit »ohne große ordnende Gesichtspunkte« [6] sei: »Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein«. [7] Das schürt Dauerkonflikte, weltplanerische Allmachtsphantasien prallen auf fundamentale Zivilisationszweifel. Distanz zum historischen »Gefilz von Kräften« scheint geboten, eine Distanz, welche die Tugenden eines »Mannes ohne Eigenschaften« verlangt.

    Ulrich, Musils »Mann ohne Eigenschaften«, ist alles andere als ein Weltflüchtling. Im faszinierenden Kapitel 85, »General Stumms Bemühung, Ordnung in den Zivilstand zu bringen«, [8] geht es um nicht weniger als um die Verfassung der Moderne. Seit der Jahrhundertwende »bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkamel«, in den pluralisierten Zeit- und Lebenswelten der Moderne prallen Hunderte »unbeantworteter Fragen von größter Wichtigkeit« [9] permanent aufeinander. Ziellose Beschleunigung und eine »allgemeine Vieldeutigkeit« in allen Lebensbereichen erzwingen die Einsicht: »Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge.« General Stumm von Bordwehr, ein Alter ego des Protagonisten Ulrich, hat es deshalb unternommen, mit militärischer Präzision in einem »Grundbuchblatt der modernen Kultur« alle miteinander rivalisierenden Ideen zu verkarten. Er verzeichnet »die heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen« und hält im Ergebnis die moderne Kultur für einen »Sauhaufen«, weil »wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung« haben. Musils »geschulte Beobachter« [10] der Ideen-Topographie ihrer Zeit stoßen auf das Grundgesetz der Moderne: »Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind.« [11]

    Musils »Mann ohne Eigenschaften« erschien in seinen beiden ersten Bänden zwischen 1930 und 1933 in Berlin. Es sind die Jahre des erneuten Bürgerkriegs und der nationalsozialistischen Machtergreifung, [12] die Raymond Aron unmittelbar vor Augen hatte, als er seine Figur des »spectateur engagé« formte. Zwei Medienforscher aus der linken Pariser Intellektuellenszene, Jean-Louis Missika und Dominique Wolton, hat der von Aron gelebte Typus so interessiert, dass sie ihm ein Interview-Buch gewidmet haben: »Es kommt selten vor, daß ein Intellektueller über einen so langen Zeitraum im Hinblick auf so viele Ereignisse und Probleme in so unterschiedlichen Funktionen – als Journalist, Historiker, Philosoph und Soziologe – die sich vollziehende Geschichte – denn die interessiert ihn – zu analysieren versucht, ohne auf eine gewisse kritische Distanz zu verzichten. Diese drei Haltungen, die des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden, mit ihren Zwängen, ihren Widersprüchen, ihren Stärken, reizten und faszinierten uns.« [13]

    Die Historiker hat es bislang weniger gereizt, sich mit Entstehung und Ausprägungen eines solchen Habitus mit seinen Stärken und Widersprüchen zu beschäftigen. In die Geschichte der Intellektuellen ist die Haltung des »engagierten Beobachters« als eine schwache Haltung eingegangen. So gewährt die maßgebliche Studie von Michel Winock über das 20. Jahrhundert als das »Jahrhundert der Intellektuellen« dem Historiker, Zeitdiagnostiker und Widerstandskämpfer Marc Bloch nur eine einzige nebensächliche Bemerkung. [14] Dabei ist Bloch eine Jahrhundertgestalt. Das Geschichtsdenken revolutionierte er mit Hilfe einer Zeitschrift, die er zusammen mit Lucien Febvre »Annales d’histoire économique et sociale« nannte und in der er »Historiker, Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen, Beobachter des Zeitgeschehens und schließlich Männer der Praxis« [15] zusammenführen wollte. Als vergleichender Analytiker der europäischen Geschichte widersprach er einer Instrumentalisierung im Dienst nationalistischer Politik und warb 1928 auf dem Internationalen Historikertag von Oslo für eine gemeinsame europäische Fachsprache »zur Versöhnung der Völker durch die Geschichtswissenschaft«. [16] Als kritischer Interpret des Zeitgeschehens wie als glühender Republikaner klagte er 1940 Frankreichs politische und militärische Elite an, durch Kleinbürgergeist und Inkompetenz die »seltsame Niederlage« gegen die Nationalsozialisten selbst verschuldet zu haben. [17] Im Juni 1944 wurde Marc Bloch als Jude und aktives Mitglied der Résistance von den Nationalsozialisten ermordet. Markanter können die drei Haltungen des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden kaum zusammenfinden.

    Wo steht nun wirklich im »Jahrhundert der Intellektuellen« der »engagierte Beobachter« mit seiner zeitdiagnostischen Kompetenz? Eine gute idealtypische Unterscheidung von insgesamt vier konkurrierenden Verhaltensmustern stammt von der Zeithistorikerin Ingrid Gilcher-Holtey. [18] Klassisch ist der »allgemeine Intellektuelle«, der von Voltaire über Zola bis zu Sartre im Namen universaler Werte von Wahrheit und Gerechtigkeit wortführend Partei ergreift. Radikalisiert wird dieser Typus durch den »aktivistischen Intellektuellen«, der sich wie Régis Debray als revolutionäres Subjekt an der Seite der weltweit Entrechteten begreift. Auf wissenschaftlicher Expertise beruht der dritte Typus, der als »spezifischer Intellektueller« (Michel Foucault) oder als »kollektiver Intellektueller« (Pierre Bourdieu) in den globalen Entfremdungsprozessen »Gegenmacht zu den nationalen, supranationalen, ökonomischen, politischen und massenmedialen Mächten der Gegenwart« ausübt. [19] Quer dazu steht als vierter Typus der »öffentliche Intellektuelle«, der »public moralist« in der angelsächsischen Tradition, der wie Ralf Dahrendorf darauf abzielt, »an den vorherrschenden Diskursen der Zeit teilzunehmen, ja deren Themen zu bestimmen und deren Richtung zu prägen«. [20]

    Um das Profil des »engagierten Beobachters« zu schärfen, kommt dem Soziologen, Politiker und Publizisten Dahrendorf, dem Wanderer zwischen deutscher und britischer Kultur, gleich doppelte Bedeutung zu. Er repräsentierte, ja zelebrierte den »public moralist« wie kein Zweiter. Und er sah im »engagierten Beobachter«, als den er den »öffentlichen Intellektuellen« ausmachte, keine schwache, sondern ganz im Gegenteil die stärkste unter den konkurrierenden Figuren. In weit ausholenden ideengeschichtlichen Reflexionen griff er dazu auf Erasmus von Rotterdam zurück und nahm als hervorstechende »Erasmier« seiner eigenen Zeit neben Raymond Aron besonders Isaiah Berlin und Karl Popper in den Blick.

    Dahrendorfs einschlägiges Buch über die »Versuchungen der Unfreiheit« enthält ein Kapitel über die »Besonnenheit des engagierten Beobachtens«. [21] Raymond Aron wird als Freund und Vorbild vorgestellt und, wichtiger, dessen Selbstbild des »spectateur engagé« soziologisch als die dem modernen »Leben in Widersprüchen« angemessene Haltung gewürdigt. Ob und wie sich »Akteur« und »Beobachter« in einer Person vereinigen lassen, sei in der abendländischen Philosophie immer schon klug behandelt worden. Engagiertes Beobachten der »uns umgebenden Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind« (Max Weber), dürfe keinesfalls mit dem Ideal einer vita contemplativa verwechselt werden: »Das engagierte Beobachten beruht demgegenüber auf einer inneren Beteiligung, die der der Handelnden an Intensität nicht nachsteht.« Unerlässlich sei »eine gewisse Besessenheit von und mit der Thematik der Zeit«. [22] Die besondere Herausforderung liege darin, die Spannung zwischen den Haltungen des Analytikers, des Interpreten und des Handelnden, die Antinomien zwischen Beobachten und Intervenieren, intellektuell auszuhalten. Engagierte Beobachter sitzen »regelmäßig zwischen den Stühlen«. [23] Sein philosophischer Gewährsmann Erasmus von Rotterdam habe das praktiziert: »In einer manichäischen Welt brachte er es fertig, nicht Partei zu nehmen, sondern den Durchblick zu behalten.« [24]

    Dreh- und Angelpunkt in Dahrendorfs Argumentation ist das historische Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit. Dazu verlegt er sich ganz auf die 1930er Jahre, als reihenweise die europäischen Kultureliten wie Carl Schmitt in Deutschland oder Beatrice Webb in England ihren Wirklichkeitssinn dem »Glauben an Hitler oder Stalin« [25] opferten und im faschistischen Führerprinzip oder in den kommunistischen Gleichheitsutopien die Erlösung von den sozialen Übeln ihrer Zeit suchten. Nur in den Zeiten revolutionärer Umbrüche wie 1917 oder 1933 zeige sich das Ethos des »engagierten Beobachters«, der, »in besonderem Maße der Wahrheit verpflichtet«, »auf diese Weise im Dienste der Freiheit« steht. [26] Dagegen seien »normale Zeiten Zeiten einer gewissen Verlegenheit«. [27]

    Was den persönlichen Mut öffentlicher Intellektueller in den Umbruchzeiten zu diktatorischer Herrschaft angeht, ist das zweifellos richtig. Was die kulturgeschichtliche Verortung des »engagierten Beobachters« in der Moderne betrifft, ist Dahrendorfs Fixierung auf die totalitärer Herausforderungen jedoch zu eng und zu einseitig. Zählt der »Aufbruch in die Moderne«, den in den 1980er Jahren ein viel beachtetes »Funkkolleg« der deutschen Rundfunkanstalten auf die Zeit zwischen 1880 und 1930 datierte, [28] zu den »normalen Zeiten«, in denen es für die öffentlichen Intellektuellen nichts Aufregendes zu beobachten und zu schreiben gab?

    Es ist die These dieses Buches, gerade die vielfältigen Aufbrüche in die pluralisierte und demokratisierte Moderne als die Zeit anzusehen, in der sich der »engagierte Beobachter« herausbildete mit einem Habitus, an den das 20. Jahrhundert hindurch immer wieder angeknüpft wurde. Merkmale der Moderne waren um 1900 ja nicht nur atonale Musik und abstrakte Malerei. Massenkommunikation und Massenkultur, die »zunehmende Zugänglichkeit und Vervielfältigung der Kultur«, wurden zu ihrem Signum. [29] Wer erlangte in diesen Aufbrüchen die »Definitionsmacht über kulturelle Entwicklungen« und »kollektive Argumentationsmuster«? [30] Soziale Bewegungen und kulturelle Zirkel reklamierten im Namen von Marx die wissenschaftliche Steuerung der sozialen Revolution, im Namen von Darwin die naturgesetzliche Regelung politischer Konflikte oder im Namen von Nietzsche die vitalististische Umwertung der christlichen Tradition.

    Moderne, so wurde es für die Bewohner der wachsenden Großstädte, die Hörer der expandierenden Universitäten oder die Aktiven der zahllosen Vereine zur täglichen Erfahrung, das ist die Dauerrivalität um Deutungshoheit und Einflusschancen auf einem freien Massenmarkt der Ideen und Interessen. Auf einem solchen Markt der Gegensätze den »Durchblick« zu behalten, wie Dahrendorf den »engagierten Beobachter« charakterisierte, und die »Beziehung« zwischen historischer Erkenntnis und politischem Handeln zu klären, wie es Aron zu dessen Hauptmerkmal machte, das wurde um und nach 1900 zur großen Herausforderung an die »Wissenschaft als Beruf«, insbesondere an die Sozial- und Kulturwissenschaften. Und es wurde, bildlich gesprochen, zur Geburtsstunde des »engagierten Beobachters«. Nicht zufällig erklärte es Max Weber in seiner berühmten Rede über »Wissenschaft als Beruf« im Namen Kants zur obersten Aufgabe eines Wissenschaftlers, gerade wenn er »Stellung« bezieht [31] und Zeitdiagnostik betreibt, »im Dienste der Klarheit (…) Rechenschaft zu geben« über die eigenen »Denkvoraussetzungen« und wissenschaftliche Aussagen über die Wirklichkeit nicht in den Gestus eines Propheten unverbrüchlicher Geschichtswahrheiten zu kleiden. [32]

    Von Weber bis Dahrendorf ist Kant der heimliche oder ausdrücklich angesprochene intellektuelle Patron des »engagierten Beobachters«. Raymond Aron, der seine Diplomarbeit 1927 über Kant verfasst hatte, bekannte in seinen Memoiren, »ein Jahr der Vertrautheit mit dem Werk von Kant hat mich ein für alle Mal von der intellektuellen Eitelkeit (in einem tieferen Sinne wenigstens) geheilt«. [33] Das kantianische Denken stellte ihm die Weichen, sich hernach so ausführlich an Weber schulen zu lassen. [34]

    »Marx oder Kant«? lautete denn auch die Gegenüberstellung, zu der in der führenden Zeitschrift »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« heftig diskutiert wurde, variiert zu »Kant und Marx« oder zu »Kant in Marx«. [35] Das 1904 von Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffé neu begründete »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« trägt das Problem des engagierten Beobachtens bereits im Titel. Mit welchen Instrumenten beobachten und beschreiben Nationalökonomie und die neue Wissenschaft der »Soziologie« die moderne Massengesellschaft? Wie klären sie die politischen Akteure der Sozialreform über die allgemeine »Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung« auf? [36] Und wie reflektieren sie die »Denkvoraussetzungen« und klären die Beziehungen zwischen Sozialwissenschaft und Sozialpolitik? Die Avantgarde der internationalen Ökonomen und Sozialforscher, aber auch maßgebliche Kulturwissenschaftler versammelten sich im »Archiv«, um sich dieser Problemstellung in theoretischer Grundlegung wie in empirischer Detailforschung gleichermaßen zu widmen. Mit einem Profil dieser außergewöhnlichen Zeitschrift beginnt deshalb dieses Buch (Kapitel 1).

    An verschiedenen Orten der westlichen Industriegesellschaften bildeten sich um 1900 Zentren, in denen neue wissenschaftliche Wege begangen wurden, um neue Formen der Sozialreform zu erproben. Sidney und Beatrice Webb engagierten sich deshalb so entschieden für die 1895 gegründete London School of Economics, weil sie damit eine überparteiliche Schulung sozialtechnologischer Reformeliten bezweckten. In seiner Geschichte dieser bis heute Maßstäbe setzenden Institution beschreibt Ralf Dahrendorf, der die LSE zwischen 1974 und 1984 leitete, wie schwer es für die Webbs und ihre Fabian Society war, intellektuell auf der »fault line between wanting to know the causes of things and wanting to change things« zu balancieren. [37] Das Gleiche gilt für die Chicago School of Sociology, die in ihrer Gründungsphase der 1890er Jahre eng mit der religiösen und sozialreformerischen Settlement-Bewegung und mit dem sozialpolitischen Engagement von Jane Addams verbunden war. Einem Vergleich der britischen Fabier um Beatrice Webb und der amerikanischen Progressiven um Jane Addams widmet sich Kapitel 2.

    Mindestens so attraktiv wie ein zeitdiagnostisches Denken mit Marx oder Kant war um 1900 ein Denken mit Darwin. Unter den geschichtlichen Grundbegriffen »Entwicklung« oder »Evolution« konnten darin Kultur- und Naturwissenschaften aufs Engste miteinander verbunden werden. Symbolisch zum 1. Januar 1900 suchte ein Preisausschreiben nach der besten wissenschaftlichen Beantwortung der Frage: »Was lernen wir aus den Principien der Descendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwickelung und Gesetzgebung der Staaten?« Kapitel 3 verfolgt durch das 20. Jahrhundert hindurch, in welcher Weise jeweils evolutionistisches Geschichtsdenken »in Beziehung« stand zu politischen Ordnungsmodellen.

    Neben »Evolution« avancierte »Säkularisierung« zu einem zweiten Prozessbegriff, mit dem sich die westlichen Industriegesellschaften durch ihre Deutungseliten über Merkmale und Verlaufsrichtung der »Moderne« aufzuklären suchten. Das geschah weniger in der Absicht, die eigene Zeit als ein entchristlichtes Zeitalter zu begrüßen oder zu verdammen, als vielmehr, um die »Vielförmigkeit sozialer Zeiten« [38] zu erkunden und darin die Kulturbedeutung der Religion für Genese und Struktur moderner Gesellschaften mit neuen sozialwissenschaftlichen Konzepten zu ermitteln. Max Weber und Ernst Troeltsch gelten bis heute als Protagonisten für die Problemstellung, [39] wie und in welchen Transformationen religiöse Ideen soziale Gestaltungskraft erlangten (Kapitel 4).

    Wenn für die kulturelle Achsenzeit um 1900 nach Gründungsfiguren des »engagierten Beobachters« gesucht wird, dann sind Max Weber und Ernst Troeltsch zweifellos an erster Stelle zu nennen. Gemeinsam machen sie die »Zerrissenheit« (Karl Jaspers über Weber) und die »Vielspältigkeit« (Troeltsch) der Moderne zum Thema ihrer politisch engagierten Zeitdiagnosen und rücken sie jeweils in universalhistorische Perspektiven. Weber nimmt dazu einen eher wirtschaftshistorischen, Troeltsch einen geistesgeschichtlichen Sehepunkt ein. Markant sind die unterschiedlichen Schlüsse, die sie aus ihrer Beobachtung der Moderne ziehen. Max Webers Begreifen und Beschreiben der »heutigen Kultur« ist konfliktorientiert. Die moderne Welt ist ihm eine Welt der sozialen und politischen Gegensätze und Spannungen, durch keine ganzheitliche Philosophie zu überwinden, stattdessen in legitime Herrschaftsordnungen zu gießen und persönlich zu ertragen (Kapitel 5). Eigenart und Aktualität seines Denkens zeigen sich in der Art, wie er alle Themen, die er behandelt, die kapitalistische Wirtschaft, die Weltreligionen, den modernen Staat und die Demokratie, stets als »universalgeschichtliche Probleme« anspricht (Kapitel 6).

    Ernst Troeltschs Zugriff auf die europäische Kulturgeschichte ist konsensorieniert. Der Erste Weltkrieg wird ihm zur Lehre, »Humanität in der Weltpolitik« durch eine »Kultursynthese« der deutschen idealistischen Tradition mit der angelsächsischen Aufklärung zu befördern und die demokratische Neuordnung Deutschlands nach Kriegsniederlage und Revolution nicht gegen, sondern im Verbund mit den westlichen Industriegesellschaften einzuleiten (Kapitel 7). Wie ausgeprägt und ausdrücklich Troeltsch für sich die Rolle des »engagierten Beobachters« beanspruchte, wurde einleitend schon gesagt. Kapitel 8 erfasst die Schärfe und die Eindringlichkeit, in der Troeltsch die Phasen des deutschen Bürgerkriegs, die ideenpolitischen wie die Straßenkämpfe »zwischen rechts und links«, die Belastungen der Weimarer Koalition aus Sozialdemokraten, Katholiken und Liberalen durch die Versailler Friedensordnung, vor allem aber die neue Weltordnung durch die amerikanische Hegemonie und die »Amerikanisierung Deutschlands« beurteilte. Seine Kommentare machten Spectator-Troeltsch zum bedeutendsten Diagnostiker dieser Nachkriegszeit aus einer liberalen und christlichen Werthaltung heraus.

    Die Kapitel 9 und 10 widmen sich Fritz Stern und Ralf Dahrendorf, den engen Freunden und intellektuellen Weggefährten, beide engagierte Verfechter des »aufgeklärten Liberalismus« (Ottfried Höffe). Eine Genealogie des »engagierten Beobachters« wird den amerikanischen Historiker Fritz Stern eher in den Spuren Ernst Troeltschs, den britischen Soziologen Ralf Dahrendorf dagegen auf den Schultern Max Webers verzeichnen. Raymond Arons Deutschlandbild in einer offenen transatlantischen Perspektive bildete sowohl für Dahrendorf als auch für Stern einen zentralen Bezugspunkt. Fritz Stern war es, der Arons viel zitierten Ausspruch, das 20. Jahrhundert hätte das Jahrhundert Deutschlands werden können, erstmals kolportierte. Er fiel im Gespräch der beiden anlässlich einer Ausstellung zu Albert Einstein und Lise Meitner in West-Berlin 1979. [40] Dass es auf ganz andere und katastrophale Weise das Jahrhundert Deutschlands geworden ist, hat neben Aron auch Fritz Stern ins Exil getrieben und Ralf Dahrendorf veranlasst, einen britischen Blick auf die Zeitgeschichte einzunehmen. Dazu zählt der ausdauernde kritische Dialog mit Jürgen Habermas, der in den 1960er Jahren begann, im Epochenjahr 1989 einen Höhepunkt erreichte und 2003 erneut heftig wurde, als der von den USA begonnene Irakkrieg den Westen spaltete. Der Streit zwischen Habermas und Dahrendorf um die hegemoniale Machtpolitik der USA war auch ein Streit um Kant, in dem sie zwei Varianten der europäischen Aufklärung verkörperten (Kapitel 10).

    Was ist die Aufgabe der Historiker, wenn sie, wie Raymond Aron es forderte, die Beziehung reflektieren zwischen Erkenntnis der Geschichte und Handeln in der Geschichte, oder, wie Fritz Stern es auf den Punkt brachte, engagiert »in zwei Welten leben« und weder als Mönch sich der Einmischung in die Gegenwart enthalten, noch als Prediger die Vergangenheit ganz auf gegenwärtige Interessen reduzieren? Unter diesen Fragestellungen werden in Kapitel 11 die Linien der einzelnen Fallstudien zusammengeführt. Im Jahr 2010, in der Folge der finanzkapitalistischen Weltkrisen, hat der britische Historiker Tony Judt im Stil der Aufklärung einen Traktat überschrieben, »Dem Land geht es schlecht«, und mit dem dramatischen Appell an die Historiker verbunden, in Zeiten zersplitterter und partikularer Erinnerungskulturen »die Geschichte« als Ort der Selbstaufklärung der Gegenwartsgesellschaften nicht dem »Vergessen« preiszugeben. Historische Selbstbeschreibung und Selbstaufklärung der Gegenwartsgesellschaft, hier knüpft das Schlusskapitel an Tony Judt an, ist nur möglich durch den reflektierten Balanceakt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, der den »engagierten Beobachter« ausmacht. Im 19. Jahrhundert, dem »historischen Zeitalter«, wurde dieser Balanceakt in das Bild vom »Historiker des Lebens« gefasst, abgesetzt vom »Historiker der Stube« wie vom »Historiker des Salons«. Welche Konturen das Bild vom Historiker des Lebens im Zuge der Moderne erhielt und in welcher Mischung aus distanzierter Analyse, scharfsichtiger Interpretation und engagiertem Handeln Historiker ihre Rolle als Zeitdiagnostiker jeweils wahrnahmen, das ist der resümierende Gegenstand dieses Schlusskapitels.

    Bei den elf Kapiteln handelt es sich im Wesentlichen um Aufsätze, die unter der hier entwickelten Problemstellung zwischen 2004 und 2015 entstanden sind, dazu der bereits 1994 veröffentliche Beitrag über die britischen Fabier und die amerikanischen Progressiven. Erstmals in deutscher Sprache erscheint in Kapitel 1 der Beitrag zum »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«. Bislang unveröffentlicht ist Kapitel 10 zu Ralf Dahrendorf und Jürgen Habermas als zwei Varianten der europäischen Aufklärung. An dieser Stelle sei Thedel v. Wallmoden herzlich gedankt für die spontane Zusage, das Buch in seinen Verlag zu übernehmen, Andrea Knigge für die sorgfältige Lektorierung und Sophie Schwarzmaier für ihre Hilfe bei der Überarbeitung des Manuskriptes.

    Aufbrüche

    Wissenschaftliche Selbstbeobachtung

    um 1900

    1. Sozialwissenschaftliche Avantgarden

    Das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«

    (1904–1933)

    Das »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« (AfSS) wurde 1904 von Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber neu gegründet und gilt als ein Pionier der internationalen Sozialforschung. Britische Historiker erklärten es sogar zum bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Journal des gesamten 20.

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