Faust oder Mephisto?: Europas Intellektuelle – eine aktuelle Krisengeschichte
Von Willi Jasper
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Über dieses E-Book
Faust oder Mephisto – auf diesen Mythos überträgt Willi Jasper die intellektuelle Krise Europas. Die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft Deutschlands steht für Faust: die antiintellektuelle Funktionalisierung der Macht. Doch wenn wir eine lebendige transnationale europäische Demokratie wollen, brauchen wir den freien, einklagenden, kritischen Geist. Er gehört zu Politik und Gesellschaft wie Mephisto zu Faust. Übernehmen die neuen "Medienintellektuellen" sein Erbe?
Willi Jasper
Willi Jasper, geb. 1945 in Lavelsloh, lebt und arbeitet als Kulturwissenschaftler und Publizist in Berlin. Er war bis 2010 Professor für Germanistik und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Er veröffentlichte Biografien (u.a. über Ludwig Börne, Lessing, Heinrich Mann) sowie Studien (Faust und die Deutschen; Wieviel Transnatio-nalismus verträgt die Kultur? oder Der gläserne Sarg – Erinnerungen an 1968 und die deutsche Kulturrevolution).
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Buchvorschau
Faust oder Mephisto? - Willi Jasper
Willi Jasper
Faust oder
Mephisto?
Europas Intellektuelle –
eine aktuelle Krisengeschichte
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8012-7032-2 (E-Book)
ISBN 978-3-8012-0572-0 (Printausgabe)
Copyright © 2021
by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH
Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn
Umschlag: Antje Hack | Lichten, Hamburg
Unter Verwendung der Handschrift von Johann Wolfgang von Goethe
Satz: Rohtext, Bonn
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Geist und Tat: eine Spurensuche
Europa unterm Brennglas der Pandemie
Blick zurück: Mythos der Antike – Gründungsmythos der Moderne
Faust, Mephisto und die Deutschen
Exil und Transnationalismus
Volksfronten
Kant und Heinrich Mann
Willy Brandt und die »linke« Tradition
Flüchtlingskrise und »Leitkultur«
Europa – »ein neuer jüdischer Ort«?
Die Intellektuellen und der Medienwandel
Was habt ihr uns noch zu sagen?
Ein Ausblick: Zukunft und Solidarität – sind das noch EU-Themen
Namensregister
Quellen und Literatur
Geist und Tat: eine Spurensuche
Die Intellektuellen – wo sind sie? Seit Jahrzehnten monieren Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller, dass ihre Bedeutung für die europäische Krisensituation zu wenig beachtet werde. Aber haben sie heute überhaupt noch eine Bedeutung im öffentlichen Leben? 1976 erinnerte der österreichische Schriftsteller und frühere Widerstandskämpfer Jean Améry anlässlich der deutschsprachigen Neuausgabe von Julien Bendas Klassiker »Der Verrat der Intellektuellen« (1927) daran, wie »aktuell« und notwendig auch 50 Jahre nach dem Erscheinen dieses Buchs das ideenpolitische Engagement für die »europäische Zivilisation« sei. Gut gebrüllt, Löwe! Für Benda bestand die Aufgabe der Intellektuellen, der Clercs, wie er sagte, der Gelehrten, nach wie vor darin, die Idealität der menschlichen Moral zu verkünden und Widerstand zu leisten gegen diejenigen, denen es allein um materielle und »nationalleidenschaftliche« Bedürfnisse ging. Im November 2011 polemisierte der Zeit-Redakteur Thomas Assheuer: »Irgendwann, wenn die Ratlosen von morgen die Schuldigen von heute beim Namen nennen, wenn sie aufzählen, wem alles Europa gleichgültig geworden war, bevor es fast in Trümmer fiel, wenn sie mit den Fingern auf die tollen Ökonomen zeigen, die an der Börse ›Staaten versenken‹ gespielt hatten, wenn sie mit posthumer Bestürzung all die Politiker Revue passieren lassen, die Front gegen Europa machten – irgendwann, ganz am Schluss, bevor der Letzte das Licht ausmacht, wird die Rede auf eine seltsame Spezies kommen, nämlich auf die Intellektuellen. Wo waren sie eigentlich, als Europa die Luft ausging?« Europa habe unter den Intellektuellen »keine Leidenschaft« hervorgebracht, keine »sprühende politische Fantasie, nur ein apartes Phlegma auf mittlerem Niveau«. Die Europäische Union, so Assheuer, besitze keine geistige Adresse. Brüssel sei »wie eine Realfiktion, eine gigantische Blackbox, ein schalltoter Raum, eine insulare Macht der Absorption ohne den geringsten diskursiven Charme.« Die sogenannten »kritischen Intellektuellen« hätten sich gegen die Macht des Geldes, die Macht der Schulden und beim »Debakel der Finanzindustrie« nicht durchsetzen können.
Obwohl sich inzwischen unzählige Publikationen mit der Frage, »Was ist ein Intellektueller?«, beschäftigen, »fixieren« sie damit »eine falsche Perspektive«. Das jedenfalls betonte der Literaturhistoriker Dietz Bering 2010 in seinem Buch über »Die Epoche der Intellektuellen«. Denn die Frage unterstelle, es gebe da eine feststehende Figur, von der man nur noch herausbekommen müsse, was sie eigentlich sei. In Wirklichkeit seien Wörter von Menschen gebildete und durch vielerlei Stellschrauben »extrem veränderbare Werkzeuge«. Möge das Werkzeug auch denselben Namen tragen (nämlich »Intellektueller«), so sei es in der Hand verschiedener Menschen und verschiedener Ideologien doch so verschieden geformt, dass die Frage nur lauten könne: »Wer soll bei uns aus welchen Gründen zu welchen Zwecken ›Intellektueller‹ genannt werden?«
Gab es diese Spezies nicht bereits im antiken Athen, als Philosophen über die geistige Substanz der Polis, ihres Staatsverbands, gestritten haben? Bering erinnert daran, dass das Wort les intellectuels in Frankreich auch schon vor seiner offiziellen Geburtsstunde, dem berühmten Dreyfus-Prozess von 1894, gebraucht wurde. Einiges spricht dafür, die Ankunft des Intellektuellen in der Welt ein Jahrhundert vorzuverlegen und dem kritischen Aufklärer Voltaire die Urkunde zu überreichen. Doch der Dreyfus-Prozess war das »aufrüttelnde Ereignis«, das den Begriff ins Zentrum der Pariser Debatten und bald auch in die der Weltöffentlichkeit brachte. Die gesetzwidrige Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus als vermeintlicher Spion war nur der äußere Anlass – im Kern ging es der Dritten Republik um viel mehr, um etwas von genereller Bedeutung: Es ging um die Demokratie. Am 13. Januar 1898 hatte der Schriftsteller, Journalist und Maler Émile Zola mit seinem an den Präsidenten Félix Faure gerichteten Aufruf »J’accuse« die französische Öffentlichkeit in Dreyfus-Feinde und Dreyfus-Freunde gespalten. Wenig später verbreitete die Zeitung L’Aurore das von dem Journalisten und Politiker Georges Clemenceau sowie dem Schriftsteller Anatole France initiierte »Manifeste des intellectuels«. Es war ein »Identifikationsangebot«. Ein neuartiger Presse-Krieg und die Debatten der Straße sorgten dafür, dass das Wort »Intellektueller« von allen hochgehalten wurde, die bereit waren, sich zu politisieren und ihrem »Gewissen« zu folgen, die die »demokratischen« Prinzipien verteidigten und einem »wissenschaftlichen« Wahrheitsbegriff die Ehre gaben. Von der reaktionären Gegenpartei wurden die »intellektuellen« Demokratieverfechter als »dekadente« und »jüdische Vaterlandsverräter« diffamiert. Mit der Revision des Urteils und dem Freispruch für Dreyfus – auch wenn das komplizierte Verfahren sich über Jahre hinzog – erzielte Zolas Kampagne einen direkten Erfolg, aber noch wichtiger war der indirekte: die Bewahrung der Dritten Republik vor einem neuen Bonapartismus. Zwar hatte die Dreyfus-Affäre Frankreich in feindliche Lager geteilt – doch der Nationalismus und Antisemitismus der Action Française waren zurückgedrängt worden, Frankreichs Republik gerettet durch die Institutionalisierung der Rolle des »allgemeinen Intellektuellen« (Michel Foucault).
Dass Zola den moralischen Geist dieser Rolle verkörperte, hat Anatole France in seiner Grabrede am 5. Oktober 1902 betont: »Zola war gut. Er hatte die Größe und Einfachheit der großen Seelen. Er war tief moralisch. Er hat das Laster mit einer harten und tugendhaften Hand gemalt. Sein scheinbarer Pessimismus, die finstere Stimmung vieler seiner Seiten verbergen kaum einen wirklichen Optimismus, einen Glauben an den Fortschritt der Intelligenz und die Gerechtigkeit. Er verfolgte in seinen Romanen, die soziale Studien sind, mit kraftvollem Hass eine müßige und frivole Gesellschaft, eine niedrige und schuldige Aristokratie, er bekämpfte das Übel der Zeit, die Macht des Geldes. Obwohl er Demokrat war, schmeichelte er nie dem Volk, er bemühte sich, ihm zu zeigen, wie es, durch Unwissenheit und durch den Alkohol blöde und wehrlos gemacht, der Unterdrückung, dem Elend und der Schande ausgeliefert ist. Er bekämpfte das gesellschaftliche Übel, wo immer er es antraf. Das war das Wesen seines Hasses. In seinen letzten Büchern zeigte er seine ganze Liebe zur Menschheit. Er war bestrebt, sich eine bessere Gesellschaft vorzustellen und sie anzukündigen.«
Die Dreyfus-Affäre symbolisierte nicht nur eine nationalistisch-antisemitische Gesellschaftskrise Frankreichs, sondern wurde durch Zola zum politisch-intellektuellen Markstein im kollektiven Gedächtnis Europas. Das galt auch für Spanien. Hier standen auf der Seite der Dreyfus-Verteidiger, wie Bernd Rother zusammenfasst, »die Mehrheit der Intellektuellen« und die größten Zeitungen des Landes wie El Pais, El Imparcial, El Liberal oder El Correo. Die liberalen Blätter empörten sich darüber, dass »alle wichtigen katholischen Strömungen« in Europa »den Antisemitismus ablehnen« würden und »nur die Katholische Kirche in Spanien eine beschämende Ausnahme« sei. Doch bei allen liberalen Entwicklungen: So wurde die Spaltung der spanischen Öffentlichkeit nicht überwunden. Für die traditionell reaktionären Kräfte in Kirche, Militär und Staatsapparat blieb, »wie kaum anders zu erwarten, die Schuld von Dreyfus nicht zweifelhaft«.
Auch in Deutschland war die öffentliche Wahrnehmung der französischen Ereignisse nicht ungeteilt. Die überwiegende Mehrheit der Menschen hier betrachtete die Dreyfus-Affäre aus einem judenfeindlichen Blickwinkel heraus. Doch es gab auch andere Stimmen, wie den jungen Heinrich Mann, der Zola verehrte und dessen Kritik an der Ära Napoleons III. auf das wilhelminische Kaiserreich übertrug. In seinen Essays »Geist und Tat« (1910) und »Zola« (1915) feierte Mann den Franzosen Zola als Vorbild für die Herausbildung eines demokratischen Geistes in Europa. Seine Analyse der deutschen Verhältnisse in puncto Demokratie war hingegen ernüchternd. »Zur Abschaffung ungerechter Gewalt« habe sich in Deutschland fast »keine Hand bewegt«. In Frankreich hätten sich demgegenüber die wichtigsten Schriftsteller »von Rousseau bis Zola« nie von den breiten Massen getrennt, sondern seien aus sozialen und humanen Motiven stets »der bestehenden Gewalt entgegengetreten.« Hier sei der Geist immer wieder zur politischen Tat geschritten. »Intellektuelle«, so Heinrich Mann, »sind weder Liebhaber noch Handwerker des Geistes. Man wird es nicht, indem man gewisse Berufe innehat. Man wird es noch weniger durch das lüsterne Betasten geistiger Erscheinungsformen, und am wenigsten sind jene Tiefenschwärzer gemeint, die gedankliche Stützen liefern für den Ungeist.« Der »Intellektuelle« erkenne »Vergeistigung« nur an, wo »Versittlichung« erreicht wurde. »Er wäre nicht, der er ist, wenn er Geist sagte, ohne Kampf für ihn zu meinen.« Das ist gut 100 Jahre her und zwei fürchterliche Weltkriege.
Europa unterm Brennglas der Pandemie
Auf die Frage, wie er die Corona-Krise einschätze, antwortete der Philosoph Jürgen Habermas unlängst: »Eines kann man sagen: So viel Wissen über unser Nichtwissen und über den Zwang, unter Unsicherheit handeln und leben zu müssen, gab es noch nie.« Hier offenbart sich Ratlosigkeit gegenüber den Ursachen und Folgen einer weltweiten Katastrophe. Zweifellos ist die aktuelle Pandemie etwas Neues. Aber auseinandersetzen muss man sich mit der Geschichte schon – auch wenn es wehtut: Bereits vor mehr als 3.000 Jahren gab es eine dokumentierte Influenza-Epidemie in Zentral- und Südasien. Seitdem wiederholten sich Seuchenkatastrophen immer wieder. Im 16. Jahrhundert starben 40 Prozent der Bevölkerung Mexikos an den Pocken. Im 17. Jahrhundert erlagen in Spanien 700.000 Menschen der großen Pest von Sevilla, und 1831/32 wanderte die europäische Cholera-Krise von Paris bis Warschau. Zwischen 1918 und 1920 forderte die Spanische Grippe bis zu 50 Millionen Tote und auch die Hongkong-Grippe (1968 –1970) mehrere Millionen (davon 50.000 in Deutschland). Und nicht vergessen sollte man, dass es seit 1981 mehr als 30 Millionen Aids-Opfer und noch viel mehr Tote durch Malaria und Tuberkulose gibt. Bei allen diesen Katastrophen ging und geht es nie nur um medizinische Probleme, sondern generell um ökologische, ökonomische, soziale und politische Ursachen und Folgen. Doch wer Vergleichbarkeit unterstellt, läuft zurzeit Gefahr, von einem neuen Typ des Frömmlers, den es auch in seriösen Medien gibt, zum Corona-Verharmloser, gar Leugner gestempelt zu werden. Zu Recht? Wo sind die Intellektuellen, die das öffentlich diskutieren?
Der französische Philosoph Edgar Morin hat schon vor Jahrzehnten in seinem sechsbändigen Hauptwerk »Die Methode« den wissenschaftlichen »Reduktionismus« in der Analyse des Verhältnisses von Natur und Mensch kritisiert: »Das Denken, welches vereinfacht, ist zur Barbarei der Wissenschaft geworden. Dies ist die spezifische Barbarei unserer Zivilisation.« Auch in Europa lebten die Menschen in Gesellschaften mit voneinander getrennten Erkenntnissen. Die Reform des Denkens, die Morin von den Intellektuellen forderte, müsse diese Einzelerkenntnisse wieder verbinden, die Teile mit dem Ganzen und das Ganze mit den Teilen – sowie die Beziehung des Lokalen mit dem Globalen begreifen. Der griechische Ökonom und Politiker Yanis Varoufakis erklärte, dass sich »die Welt mit der Corona-Krise nicht wirklich verändert« habe, vieles komme »nur jetzt deutlicher zum Vorschein«. Das Virus sei eine Art Vergrößerungsglas für schon länger existierende gesellschaftliche Probleme. Doch nicht nur der krasse Widerspruch zwischen arm und reich werde durch die Pandemiefolgen sichtbarer, sondern auch das Fehlen einer intellektuellen Öffentlichkeit. Vor allem in und für Europa. Die Europäische Union dürfe nicht weitermachen wie bisher, sonst drohe ihr Untergang.
Schon als die Eurokrise Ende