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Literarische Revolution: Aufsätze zur Literatur der deutschen Klassik
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eBook1.025 Seiten13 Stunden

Literarische Revolution: Aufsätze zur Literatur der deutschen Klassik

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Über dieses E-Book

Aufsätze zu Kultur, Kunst und Literatur der klassischen deutschen Literatur und ihrer Wirkung im 20. Jahrhundert und ihrer Bedeutung für die Gegenwart.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. März 2017
ISBN9783743908857
Literarische Revolution: Aufsätze zur Literatur der deutschen Klassik

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    Buchvorschau

    Literarische Revolution - Helmut Holtzhauer

    Das Jahrhundert Goethes

    Überarbeitet. Erstveröffentlicht in: Das Jahrhundert Goethes. Kunst, Wissenschaft, Technik und Geschichte zwischen 1750 und 1850. Red. Anneliese Klingenberg. Weimar: Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur 1967. S. 5 - 10.

    Das ruhmlose Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und der Zusammenbruch Preußens nach der militärischen Katastrophe von Jena und Auerstädt öffneten vielen Menschen die Augen für größere Zusammenhänge der politischen Geschichte und der sozialen Bewegung. Ursachen und Folgen der bürgerlichen Revolution in Frankreich ließen die persönlichen und provinziell beschränkten Zustände in einem neuen Lichte erscheinen. Die Probleme des deutschen Volkes beschäftigten seine bedeutendsten Geister.

    In dieser Situation arbeitete Goethe an der Geschichte der Farbenlehre, und aus dieser Lage heraus schrieb er: „Daß die Weltgeschichte von Zeit zu Zeit umgeschrieben werden müsse, darüber ist in unseren Tagen wohl kein Zweifel übrig geblieben. Eine solche Notwendigkeit entsteht aber nicht etwa daher, weil viel Geschehenes nachentdeckt worden, sondern weil neue Ansichten gegeben werden, weil der Genosse einer fortschreitenden Zeit auf Standpunkte geführt wird, von welchen sich das Vergangene auf eine neue Weise überschauen und beurteilen läßt."¹

    Goethe lebte in dem Jahrhundert, dem mit Recht - wenigstens für seine erste Hälfte - die stolze Bezeichnung „Aufklärung" zuerkannt wird und dessen Hauptmerkmale die Fortschritte in der Emanzipation des Bürgertums, die Herausbildung der deutschen Nation und die Geburt des wissenschaftlichen Kommunismus sind.

    Goethe steht stellvertretend für die großen Geister, die im Zeichen des Humanismus die Dichtkunst und Philosophie, aber auch die Naturwissenschaften jener Zeit in ihre klassische Form gossen. Deshalb ist sein Name zur Kennzeichnung dieses Jahrhunderts gewählt worden.

    Man kann Goethe und seine Zeitgenossen nicht verstehen, wenn man nicht ihre Zeit als eine Einheit begreift, als Zeit großer und bestimmter gesellschaftlich-revolutionärer Ereignisse. Zwischen 1750 und 1850 vollzieht sich in Deutschland die industrielle Revolution, an die sich die gesellschaftliche Umwälzung anschließt. Es ist die Zeit des Übergangs von der feudalen zur kapitalistischen Welt, die Zeit der politischen Emanzipation des deutschen Bürgertums. Man kann diese rund hundert Jahre währende Epoche durch zwei Ereignisse eingrenzen, von denen jedes in seiner Art charakteristisch ist: der Siebenjährige Krieg von 1756 - 1763 und die bürgerliche Revolution in Deutschland von 1848/49. Auf diese Weise wird auch deutlich, daß die Zahlen 1750 und 1850 nur Behelfe sind, nicht die eigentlichen Zäsuren. Die beiden genannten politischen Ereignisse markieren Beginn und Ende des erwähnten gesellschaftlichen Prozesses schon deutlicher. Der Siebenjährige Krieg, dessen verheerende Wirkungen für sich genommen ein erneuter schwerer Rückschlag für die Entwicklung in Deutschland waren, machte die Lösung von zwei Problemen, die um die Jahrhundertmitte im Bewußtsein weiter Schichten der Bevölkerung bereits evident waren, ganz brennend: die Formierung des deutschen Bürgertums als Klasse samt dem dieser Klasse gemäßen Selbstbewußtsein und die Herausbildung der deutschen Nation. Nicht nur, daß die Pfarrer-, Lehrer-, Gelehrtensöhne die unentbehrlichen Mitarbeiter in den feudalen Regierungen wurden, daß diese gleiche Schicht die Schriftsteller und Wissenschaftler der Nation stellte: in der Literatur und in sozialpolitischen Schriften wird das soziale Selbstbewußtsein beherrschend. Die Tugenden oder wenigstens die Tugendideale des Bürgertums werden den Lastern des Adels entgegengesetzt. Das Bürgertum begreift sich als einzige wirklich produktive Klasse, als schöpferisch und den Wohlstand der Nation begründend.

    Aus den Schrecken und Verwüstungen des Siebenjährigen Krieges ringt sich, gefördert von den Interessen des Handels und der Produktion, ein deutsches Nationalbewußtsein hervor. Nicht mehr Hessen, Sachsen, Bayern u.a. sind die Vaterländer, solange sich auch noch die bayrische oder hessische „Nation in den Universitätsmatrikeln behauptet, sondern Deutschland wird als die Heimstatt des deutschen Volkes empfunden. Lessing war es, der nach Goethes Worten mit „Minna von Barnhelm ein Stück von „nationellem temporärem Gehalt schuf. Stellvertretend für die ganze Nation vollzogen die Sächsin und der Preuße die Einigung. Patriotismus, Vaterland, Nation wurden immer häufiger gebrauchte Begriffe, bis schließlich mit Werken wie „Götz und „Werther" nationale Literatur von so umfassender Wirkung entstand, da die bisher wenig beachtete deutsche Literatur den europäischen Büchermarkt erobern, zur Weltliteratur werden konnte. Die Dichtung der Goethezeit hat an der Herausbildung eines deutschen Nationalbewußtseins ebensolchen Anteil, wie umgekehrt die Lage der Nation zu der Notwendigkeit führte, sich ihrer bewußt zu werden und sie künstlerisch auszusprechen.

    Vergessen wir nicht die belebende Wirkung, die die französische und englische Literatur auf die deutsche ausübten. So wie die ökonomische Kräftigung und die politische Emanzipation des Bürgertums in diesen Ländern weiter fortgeschritten waren, so waren ihre Bücher für die Deutschen der Spiegel, in dem sie ihre Zukunft, das Bild einer großen deutschen Literatur und den Weg zu einer neu geordneten Gesellschaft erblickten. Erst die Einflüsse aus den Nachbarvölkern - der Einfluß der englischen und französischen Aufklärungsphilosophie - machten es möglich, in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts auch in Deutschland die Grundlagen für das moderne Denken und für das heutige wissenschaftliche Weltbild zu schaffen. In Losungen wie „aufklären, „aus dem Dunklen und Verworrenen zur Klarheit gelangen, den „Mut haben, sich seines Verstandes zu bedienen, „dem Tyrannen das Zepter entreißen, findet sich die Summe aller Erkenntnisse - und auch aller Täuschungen - des Jahrhunderts wieder, soweit es den historischen Fortschritt verkörpert. Dieser Fortschritt war gegen Klerus und Feudalismus gerichtet, hatten die beiden miteinander verbündeten Mächte doch zu lange und zu drückend auf dem materiellen und geistigen Leben der Menschen gelastet. Aus dieser Richtung erklärt sich auch die Stoßkraft der humanistischen Ideen, die der Aufklärung in Deutschland ihr Gepräge gaben.

    Humanismus, das war für Goethe die Lehre, die im Menschen den eigentlich interessanten Gegenstand seiner theoretischen und praktischen Bemühungen sah. Die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft, die Beziehungen der Klassen untereinander, das Verhältnis der Menschheit zur Natur, ihre Geschichte und ihre Zukunft fesselten Dichter und Denker. „Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit" nannte Herder sein Hauptwerk. Kants, Fichtes und Hegels Gedanken bewegten sich in ähnlicher Richtung. Als treue Söhne der Aufklärung und als Humanisten errichteten sie das Gedankengebäude der klassischen deutschen Philosophie. Die Idee oder gar der Glaube an ein über- oder außernatürliches Wesen, an einen Schöpfer, war entbehrlich geworden, wenigstens für die junge Intelligenz. Gott und Natur waren für viele von ihnen, darunter auch für Goethe, identisch. Dieses deus sive naturae entnahm er der Lehre des Spinoza. Zwar hatte der Spötter Voltaire mit den Worten gewarnt: „Versuche nur ein Dorf mit hundert Bauern zu regieren, und du wirst wissen, ob Du ohne Gott auskommen kannst", aber die junge deutsche Intelligenz hatte nichts zu regieren, sie hatte nur anzugreifen, eine unerträgliche Lage zu ändern, himmlischen und irdischen Göttern den Kampf anzusagen, und sie verfügte über das erforderliche Selbstbewußtsein. War der begabte Mensch, das Kraftgenie, nicht selbst ein Schöpfer? Der Künstler, schuf er nicht eine „zweite Natur", wie Goethe sagte? Und rief nicht Schiller den Künstlern zu: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie, sie sinkt mit euch! mit euch wird sie sich heben!"

    Prometheisch war das Selbstgefühl der Dichter. Und nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten, vollendeten sie auch ihres Lebens Bahn. Es war nicht Jugendüberschwang, im reiferen Alter belächelt, sondern die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Bewegung, der sie sich einordneten und deren Sprecher sie waren. Ihre humanistische Grundhaltung war es auch, die sie die gesellschaftliche Funktion der Kunst entdecken ließ, den untrennbaren Zusammenhang der Kunst mit der gesellschaftlichen Psyche und die Wechselwirkung beider. Eine Ahnung, daß die gesellschaftliche Psyche ihrerseits aus Zuständen und Bewegungen in der materiellen Basis der Gesellschaft herrührte, erhob sie weit über ihre Zeitgenossen. Diese Ahnung war es, die Schiller aussprechen ließ: „Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich satt gegessen hat, aber er muß warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll."² Auf den Menschen und die Verbesserung seiner Lebenslage im materiellen wie im geistigen Bereich waren die Anstrengungen auch der Dichter gerichtet, insofern sie ohnehin nicht auch Politiker, Philosophen und Erzieher waren. Erzieher der Menschheit wollten sie alle sein.

    Die letzten dreißig Jahre des 18. Jahrhunderts und die ersten des 19. waren eine Zeit grundlegender naturwissenschaftlicher Entdeckungen und Erkenntnisse. Die modernen Disziplinen der Naturwissenschaft sonderten sich und traten als selbständige Wissenschaften hervor. Biologie und Medizin, Chemie, Physik, Geologie und Mineralogie, Botanik, Zoologie und Geographie erhielten ihre im Wesentlichen noch heute gültige Gestalt. Dieser stürmische Lauf war keinesfalls zufällig. Nachdem die neue Produktionskraft Dampf einmal erkannt war, drängte die sich entwickelnde Industrie auf deren Anwendung in den verschiedenen Zweigen. Sie wurde zum Auftraggeber, Förderer, ja, zur Triebkraft der Wissenschaft und der Technik.

    Wie aufgeschlossen stand Goethe, selbst ein Forscher auf vielen Gebieten, der Naturwissenschaft gegenüber! Wie aufmerksam verfolgte er ihre Fortschritte und wie umfangreich sind seine Äußerungen dazu in seinen Dichtungen und in seinen wissenschaftlichen Schriften! Er war wirklich der „Genosse einer fortschreitenden Zeit". Zwar suchen wir ihn in erster Linie auf dem Hauptfelde seiner Lebensleistungen auf: in Dichtung, Sprache und Kunsttheorie, doch wir trennen die Gebiete nicht mehr voneinander, um sie vielleicht dem Nur-Naturwissenschaftler, Nur-Politologen, Nur-Philosophen usw. zu überlassen. „Es kann niemand einen Dichter verstehen, der nicht dessen Zeit versteht", ruft er uns selbst mahnend zu, und von der Kunst seiner Zeit sagt er, daß sie niemand verstehe, der nicht die Philosophie der Zeit kenne.

    Kunst, Literatur und bildende Kunst werden stets aus drei Quellen gespeist: aus der gesellschaftlichen Psyche, die das Produkt der realen Verhältnisse in Produktion und gesellschaftlichen Zuständen ist, aus den Einflüssen gleichzeitiger künstlerischer Äußerungen von Kunstgenossen, die infolge der Ungleichförmigkeit der Entwicklung sehr stark voneinander abweichen können, und aus der Überlieferung. Die Überlieferung ist zunächst eine passive Macht, die aufgesucht werden muß. Und tatsächlich sucht jede Zeit, jede Klasse und Schicht, überhaupt jede der neben- und miteinander ringenden Parteien, Strömungen, Schulen die ihr gemäße Tradition auf, oftmals unter völliger Verkennung des wirklichen Inhalts dieser Tradition.

    So wandten sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts die bedeutendsten Geister - des Schnörkel- und Muschelwesens, der barocken Pathetik wie der höfischen Dichtung übersatt und ihr feindselig gesonnen - einer Kunst zu, die ihnen als „stille Größe und edle Einfalt" und damit als der genaue Gegensatz zur vertrauten Gegenwart erschien. Griechentum, griechische Kunst und Literatur wurden das große Idol der Zeit. So sehr sich à la grecque geben auch eine Modesache wurde, die verständlicherweise bald durch eine andere Mode abgelöst wurde, so ernst nahmen Winckelmann und Lessing, Goethe und Schiller und mit ihnen die zahlreichen Künstler von Mengs und David bis Carstens und Thorvaldsen diese Wiedergeburt der antiken Kunst. Sie erstrebten eine Erneuerung der Gesellschaft über und mit der Kunst, glaubten sie doch den Zusammenhang von großer Kunst mit politischen Einrichtungen, den republikanischen und demokratischen griechischen Institutionen, und mit der geschichtlichen Entwicklung erkannt zuhaben „Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten..." schrieb Winckelmann im Jahre 1755. Er gab damit die Richtung für die eigentlich deutsche Renaissance der griechischen Antike, die wir, über das Normative dieses Begriffs hinausgehend, mit Klassik bezeichnen.

    Wir nennen den gesamten Zeitraum von Lessing bis Heine „Epoche der klassischen deutschen Literatur", weil wir ihn als Einheit betrachten, innerhalb derer für Kunst und Literatur die Aufnahme und Verarbeitung des humanistischen Gedankenguts, die hellenische, heidnische Sinnenfreude, die Wertschätzung des Wirklichen vor dem Eingebildeten, die Priorität des Lebens vor der Idee das Kennzeichnende ist.

    Wie abwegig muß es unter diesem Gesichtswinkel betrachtet anmuten, wenn der Begriff der Klassik auf das Jahrzehnt des Freundschaftsbundes zwischen Goethe und Schiller beschränkt wird und die Einheit der Epoche in eine Aufeinanderfolge von gegensätzlichen oder verwandten Erscheinungen wie Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassik, Romantik, Biedermeier, Vormärz usw. aufgelöst wird, so daß die kausalen Zusammenhänge verloren gehen und Wirkungen sowie Gegenwirkungen unverständlich bleiben!

    Nicht weniger absurd ist die Vorstellung, die in der Epoche der klassischen deutschen Literatur angestrebte gesellschaftliche und individuelle Entwicklung eines harmonisch gebildeten Menschen aus der „harmonischen Goethe- und Schillerzeit" - im Gegensatz zur Gegenwart - zu erklären und daraus die Unbrauchbarkeit ihrer humanistischen Lehren für unsere Zeit abzuleiten. Wir würden für diese Art Harmonie danken, die amerikanische Bürger zwang, zu den Waffen gegen das englische Kolonialjoch zu greifen, die das Volk von Paris einen Aufstand beginnen ließ, in den ganz Frankreich, ja in seinen Folgen Europa hineingezogen wurde, für eine Harmonie, die grausame Interventionskriege gegen das revolutionäre Frankreich kannte und die zwanzigjährigen blutigen Kriege Napoleons, für eine Harmonie, die den Länderschacher des Wiener Kongresses, die Karlsbader Beschlüsse, die Demagogenverfolgungen, Restauration und Revolution nicht ausschloß.

    Gerade darin stimmt unser heutiger Standpunkt mit Goethes Hinweis überein, daß die Literatur so wenig wie die Menschen, die sie schaffen, isoliert von den großen geschichtlichen Bewegungen und den kleinen menschlichen Tragödien und Komödien betrachtet werden darf.

    Um noch einmal Goethe zu zitieren: „Den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt."³ Das dürfte auch unsere Aufgabe sein.

    Im Laufe von mehr als hundert Jahren hat ein allzu eifriges Heer von Gelehrten und Schulmeistern diese ganze große klassische Epoche auf ihre ästhetizistische und auf ihre ethische Seite beschränkt, hat die Pflanze von ihren Wurzeln, durch die die klassische Dichtung mit den gesellschaftlichen, revolutionären und demokratischen Bewegungen ihrer Zeit verbunden war, getrennt. Der Zusammenhang mit industrieller Revolution und moderner Naturwissenschaft ist kaum noch im Bewußtsein. Alle die fröhlichen Seitentriebe, das Heidnisch-Heitere und Verstandesklare wurden mit den gehässig abfälligen Epitetha „Aufkläricht, platter Rationalismus, blutleerer Klassizismus, kaltes Griechentum" abgeschnitten und zum Verdorren verurteilt. Die Gegenströmung, die das Gesetzlose auch in Kunstdingen, die Nachtseiten der Natur und des Lebens und das Dumpf-Gefühlvolle, Mystische und Rückwärtsgewandte auf ihre Fahnen geschrieben hatte, führt im Grunde noch heute die Feder vieler Historiker. Darüber darf die moderne Einkleidung alter Ideen nicht hinwegtäuschen.

    So ist es nicht verwunderlich, daß die moderne Arbeiterbewegung und ihre wissenschaftliche Art, die Welt zu betrachten, der Sozialismus, an die deutsche klassische Überlieferung anknüpften. Klassische deutsche Philosophie und klassische deutsche Literatur gehören zu den Quellen des Marxismus wie englische politische Ökonomie und französischer utopischer Sozialismus.

    Die moderne, revolutionäre Arbeiterbewegung ist die Kraft, die in den letzten hundert Jahren die fortschrittlichen Traditionen der Goethezeit bewahrt und weitergeführt hat. Zuerst waren es die allmählich aufkommenden, weit verstreuten kommunistischen Gemeinden, dann eine kraftvoll sich reckende revolutionäre Arbeiterbewegung, schließlich der erste Staat der Arbeiter, Bauern und Soldaten in Rußland, und nun ist es das sozialistische Weltlager, das sich in der Jahrhundertmitte herausbildete und die Deutsche Demokratische Republik einschließt, die zu den neuen Trägern des Humanismus geworden sind. Der sozialistische Humanismus sucht alles zu vereinigen, was an fortzeugenden großen Leistungen der Dichtung, der Kunst und der Wissenschaft im Jahrhundert Goethes hervorgebracht wurde. Aus seinen eigenen neuen Schöpfungen und aus dem Erbe, das er aufgreift und assimiliert, geht der Humanismus der sozialistischen Gesellschaft hervor.

    ¹ Joh. Wolfg. Goethe: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. Vierte Abteilung. Baco von Verulam. In: Joh. Wolfg. Goethe: Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 133 Bde in 143 Teilen. Abt. II Bd. 3, S. 239 - Weimar: Böhlau 1887 - 1919. - Künftig: WA mit Abteilungs- und Bandangabe.

    ² Friedr. Schiller an Herzog Christian Friedrich von Augustenburg, 11.November 1793.

    ³ Joh. Wolfg. Goethe: Dichtung und Wahrheit. Vorwort. WA I 26, S.7.

    Gesellschaft, Kultur und Kulturauffassung im klassischen Weimar

    In: Natur und Idee. Andreas Bruno Wachsmuth zugeeignet. Im Auftrag des Vorstands der Goethe-Gesellschaft in Weimar hrsg. von Helmut Holtzhauer. Weimar: Herm. Böhlaus Nachf. 1966. S. 115 - 142

    Im Jahre 1812 hieß es in der Instruktion für den Ministre plénipotentiaire in Weimar, den Baron de St.Aignan: „Die Stadt Weimar ist der Sammelpunkt einer großen Zahl berühmter Schriftsteller, deren Schriften in ganz Deutschland gelesen, großen Einfluß auf die öffentliche Meinung haben; und da oft politische Fragen in rein literarische Abhandlungen vermengt sind, wird sich der Herr Baron von St.Aignan über alle in Weimar oder Gotha neu erscheinenden Werke in Kenntnis halten müssen und über den Geist, in dem sie verfaßt sind." ¹ Zwar lauteten die Weisungen für die Gesandten Napoleons im übrigen Deutschland nicht viel anders, da ihr Ziel eine sorgfältige Überwachung aller geistigen Regungen und politischen Stimmungen war, doch galt dies von Weimar in besonderem Maße. Goethes Ausspruch über Weimar als geistigen Mittelpunkt Deutschlands war so allgemein anerkannt, daß die Kenntnis der dort geäußerten und vertretenen Auffassungen von großem Gewicht sein mußte.

    Aber so bedeutend und weltweit wirkend die Ideen der weimarischen Großen auch waren: in Weimar selbst waren ihnen die engsten Grenzen gesetzt, denn der Staat war klein, die Zahl seiner Einwohner gering und deren ökonomische und politische Kraft äußerst schwach. Dies galt in gewissem Sinne auch für das ganze deutsche Reich, dessen politische Zersplitterung und rückständige Wirtschaft es ohnmächtig dem Kampf um Einflußsphären in- und ausländischer Mächte auslieferten. Gleichzeitig war das Land den Einwirkungen des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, vorzüglich Englands und Frankreichs, ausgesetzt und der daraus resultierenden philosophischen und politischen Ansichten. Deutschland nahm diese Anregungen bereitwillig auf, war in wenigen Jahrzehnten in der Lage, sie nicht nur zu verarbeiten, sondern selbst Maßstäbe zu setzen und in andere Länder zu wirken. Alle diese Momente kennzeichnen die gesellschaftliche und kulturelle Situation im Ganzen wie im einzelnen, nur daß, so buntscheckig wie die Landkarte sich ausnahm, auch das kulturelle Niveau in den einzelnen Ländern und Landschaften ganz verschieden war.

    Die Grundlage des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach war die Landwirtschaft wie überall in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Von den 106 000 Einwohnern des Herzogtums gehörten 63 Prozent zur bäuerlichen Landbevölkerung, 13 Prozent zum städtischen Bürgertum (überwiegend Handwerker und Kaufmannschaft), 23 Prozent zur untersten Schicht der Handwerksgesellen, Dienstboten und Tagelöhner und 1 Prozent zur herrschenden Schicht des Adels.² Um 1785 lagen im weimarischen Landesteil 8 Schatullgüter, 37 Kammergüter und 81 Ritter- und Freigüter.³ Diese 126 Güter nahmen 17 Prozent des Bauernlandes, d.h. des bebauten Grund und Bodens ein, 79 Prozent lagen in den Händen der Klein- und Mittelbauern, und 4 Prozent gehörten der Kirche. Die wirkliche Stellung des Adels als der ökonomischen und politischen Macht wird aber erst deutlich, wenn wir die Konzentration der 17 Prozent Ackerfläche in wenigen Händen der Zersplitterung des bäuerlichen Landbesitzes gegenüberstellen. Wenn eine Gutsbesitzerfamilie im Durchschnitt 100 bis 200 ha Ackerland besaß, zu dem noch etwa ebensoviel Wald- und Wiesenland gehörte, so kamen auf die Bauernfamilie durchschnittlich nur 3 ha Gesamtfläche. Doch nicht genug damit. Diese Familie hatte für den Grundherren Frondienste zu leisten: Pferdefronen, Handfronen, Baufronen, Jagdfronen, Brennholzfronen und viele andere Leistungen. Ein zeitgenössischer Schriftsteller, der die Steuerverfassung in Deutschland untersuchte, hat allein 750 Namen der verschiedenen Dienste und Abgaben zusammengestellt.⁴ Ein Pferdefröner hatte z.B. für das Rittergut Ulrichshalben täglich 3,3 preußische Morgen (ca. 1 ha) mit seinem Pferd zu bearbeiten. Er erhielt dafür als Lohn 2 Pfund Brot und einen Pfennig für ein „Käschen". Ein Handfröner erhielt den gleichen Lohn für einen halben Arbeitstag. Da die Gerichtsbarkeit in den Händen der Gutsherrschaft lag, waren der Willkür und Rechtsbeugung bei der Durchsetzung der Fronen keine Grenzen gesetzt. Den Lasten der Bauern standen die Vorrechte der Gutsbesitzer gegenüber. Hatte der Bauer pro Acker jährlich 18 Groschen 8 Pf., in der Stadtflur Weimar 12 Groschen an Steuern zu zahlen (1 Acker = 0,28 ha), wozu noch die anderen Abgaben, wie Kirchensteuer usw., kamen, so gab es für den Adel Steuerfreiheit. Kaum weniger wichtig für den Adel, dafür aber den Bauern um so ärger drückend, war das Triftrecht, das jenem erlaubte, sein Weidevieh auf den Brachen der Bauern zu halten und diesen zwang, bei der Dreifelderwirtschaft zu bleiben, anstatt das Brachland mit Futterkräutern zu besömmern.⁵

    Das also war die Lage im wichtigsten Erwerbszweig des Landes, der Basis des ganzen gesellschaftlichen Systems, das wir das feudalistische nennen. Und wenn wir das Wort Kultur bei seiner ursprünglichen Bedeutung, nämlich Ackerbau, nehmen, so ist leicht einzusehen, daß die materielle Kultur der Masse des Volkes im Weimarischen wie in ganz Deutschland auf einer recht niedrigen Stufe stand.

    Schilderungen zeitgenössischer Schriftsteller vermitteln den Eindruck, als wäre die Lage der Bauern in Hessen, Preußen und Kursachsen noch schlechter, im Erfurtischen und Gothaischen dagegen etwas besser als im Weimarischen gewesen. Magister Laukhardt z.B. schreibt 1792: „Ich merkte es gar zu genau, daß ich in ein Land [Hessen-Kassel] kam, wo ziemlich überspannte Grundsätze herrschten. Die Bauern waren durchaus arme Leute, und eben damals hatte der verstorbene Landgraf seine Untertanen nach Amerika verhandelt. Da liefen einem die halbnackten Kinder nach und baten um ein Almosen und klagten, daß ihre Väter nach Amerika geschickt wären und daß ihre armen verlassenen Mütter und ihre alten abgelebten Großväter das Land bauen mußten. Das war ein trauriger Anblick. Ganz anders sieht es im Gothaischen und Weimarischen aus und noch besser im Erfurtischen."⁶ Ein „wandernder Helvetier" beschreibt im gleichen Jahre den Eindruck, den er auf dem Wege von Erfurt nach Weimar empfing, folgendermaßen: „Die Landwirtschaft zeigte sich etwas bergicht und rauh; ich erblickte wieder Gehölze, die großen wohlgebauten Gehöfte in den Dörfern verschwanden, und dürftige Hütten traten zum Teil an ihre Stelle. Die armselig gekleideten und dürftig eingerichteten Landleute, welche mit schlechten Pferden und Zeug daherfuhren, machten die Idee, daß ich in einem minder ergiebigen und wohlhabenden Lande sein müsse, vollständig. Ich hatte richtig geschlossen, denn ich befand mich auf weimarischem Grund und Boden."

    Eine Lebensweise, die vom Bauern verlangte, seine ganze Kraft auf das Notdürftigste und Nächstliegende zu richten, hemmte natürlich den Fortschritt in der Landwirtschaft nicht weniger als das Joch des Feudalsystems. So konnten Verbesserungen nur mühsam und vereinzelt erreicht werden. Einigen Dörfern gelang es, den Gutsherren die Fron- und Weiderechte abzukaufen, wie z.B. in Oßmannstedt im Jahre 1799. Im Ganzen aber blieb es bis in das erste Viertel des 19. Jahrhunderts hinein bei den alten Zuständen. Auch Goethes Bemühen, den Futterkräuteranbau zu fördern und Gutsland durch Zerschlagen von Gütern aufzuteilen, blieb ohne dauernden Erfolg.⁸ Auf der anderen Seite wurden die Bauern geistig auf einer niedrigen Stufe gehalten und waren ökonomisch zu schwach, um den Vorzug neuer landwirtschaftlicher Verfahren sich zunutze zu machen. Es mußten wirksamere Kräfte ins Spiel kommen als ein paar Reformen.

    Die Quellen, aus denen sich unser Wissen über die geistige Kultur der bäuerlichen - und auch beachtlicher Teile der bürgerlichen - Bevölkerung zur Zeit Goethes speist, fließen spärlich, obwohl seitdem nicht einmal 150 Jahre vergangen sind. Wenn Goethe noch 1827 Eckermann gegenüber sein Leid klagt, daß seine Lieder im Volke wenig bekannt seien, so trifft er auf einen wesentlichen Zug der nationalen Kultur im damaligen Deutschland. Eckermann notiert aus dem Gespräch mit Goethe: „Nehmen Sie Burns. Wodurch ist er groß, als daß die alten Lieder seiner Vorfahren im Munde des Volkes lebten, daß sie ihm sozusagen bei der Wiege gesungen wurden, daß er als Knabe unter ihnen heranwuchs und die hohe Vortrefflichkeit dieser Muster sich ihm so einlebte, daß er darin eine lebendige Basis hatte, worauf er weiterschreiten konnte. Und ferner, wodurch ist er groß, als daß seine eigenen Lieder in seinem Volke sogleich empfängliche Ohren fanden, daß, sie ihm alsobald im Felde von Schnittern und Binderinnen entgegen klangen und er in der Schenke von heiteren Gesellen damit begrüßt wurde. Da konnte es freilich etwas werden!

    Wie ärmlich sieht es dagegen bei uns Deutschen aus! Was lebte denn in meiner Jugend von unseren nicht weniger bedeutenden Liedern im eigentlichen Volke? Herder und seine Nachfolger mußten erst anfangen, sie zu sammeln und der Vergessenheit zu entreißen; dann hatte man sie doch wenigstens gedruckt in Bibliotheken."

    So reich der Schatz an Märchen, Sagen und Liedern Thüringens auch war, gegen den Ausgang des 18.Jahrhunderts war er nicht mehr lebendig genug, um sich als selbständige kulturelle Äußerung zu behaupten. Dieser Verlust an geistiger Substanz - dem auch nicht das Sammeln von Liedern, Märchen und Sagen abhalf - wurde zunächst durch nichts Entsprechendes auf anderen geistigen Gebieten ersetzt; er zeigt einen wirklichen Verfall an. Besonders deutlich wird dies bei Betrachtung des Schulwesens auf dem Lande. Auf etwa 320 Einwohner kam ein Lehrer. Wenn man dessen Stellung untersucht, so kommt heraus, daß er mehr Gehilfe des Pfarrers als Jugenderzieher war und im Übrigen mit seinem Einkommen pro Jahr, das zwischen 23 und 324 Talern im einzelnen Falle schwankte, auf den untersten Einkommensstufen stand (Durchschnitt 50 150 Taler, so viel wie das Einkommen eines Tagelöhners). Seinen Lebensunterhalt durch Acker- und Gartenbau, Bienenzucht, Kurrendesingen und durch „Rumsitzen", wie dies Winckelmann so anschaulich in seinen Briefen schildert, zu bestreiten, war die wichtigste Aufgabe des ländlichen Schulmeisters. Auch im Weimarischen versanken auf diese Weise selbst aufgeweckte Geister in den ödesten Sumpf der nächstliegenden Interessen.

    Dieser Zustand bestimmte in Wahrheit die Qualität des Unterrichts und die geistige Kultur der Bauern überhaupt. So kam es, daß die Lektüre, aus der die Bauern Bildung empfangen konnten, sich fast nur auf zwei Bücher beschränkte: die Bibel und den Bauernkalender. Ein Fortschritt war da schon das Erscheinen von Beckers Not- und Hilfsbuch, das 1787 erstmals in einer Auflage von 30.000 Stück bei Göschen in Leipzig herauskam und, wie der Verfasser angibt, im Laufe von 25 Jahren eine halbe Million Exemplare erreichte.¹⁰ Umso größere Bedeutung kam unter diesen Umständen einer anderen Form der Verbreitung von Wissen zu, nämlich dem Vorlesen aus Wielands „Neuem teutschen Merkur", wodurch die Bauern über ihre Lage aufgeklärt wurden.¹¹

    Schon aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich, daß die geistige Kultur der Bauern sich kraß von der des Adels unterschied, daß sie als eine „zweite Kultur anzusehen war, wie auch die Bauern fast wie eine besondere Menschenrasse betrachtet wurden, die zu „entdecken und in das Blickfeld der Literatur zu rücken ein Verdienst der Aufklärung war. Etwa von 1700 an mehrten sich die Schriften, in denen die Lage der Bauern beschrieben wurde, und bereits gegen den Ausgang des Jahrhunderts war das Land und seine elenden Zustände ein geläufiger Gegenstand der soziologischen und der poetischen Literatur. So waren es besonders die deutschen Aufklärer und Humanisten, wie z.B. Christian Garve, die vorschlugen, bessere Dorfschulen einzurichten, um den sozialen Mißständen abzuhelfen.¹²

    In scharfem Gegensatz zu den schwer arbeitenden, in roher Unwissenheit gehaltenen Bauern verlief das Leben des Edelmanns. Wenn nicht die zahlreichen erhalten gebliebenen Zeugnisse aus jener Zeit in beredten Worten sprächen, wäre es kaum glaubhaft, was von dem nichtigen, in bloßer Unterhaltung und ohne jede gesellschaftliche Pflicht und Leistung sich abspielenden Leben des Adels berichtet wird. Der Adel im Weimarischen machte dabei keine Ausnahme. Wenn in älteren Darstellungen Weimar als Musenhof bezeichnet wird, so ist das eine Legende, die dem Fürstenhause ein Verdienst zuschreibt, das es nicht - nicht einmal als Ausnahme im Vergleich zu anderen Höfen - besessen hat. Was zu dieser Legende führte, wird bei anderer Gelegenheit zu zeigen sein. Aber gesagt werden kann schon jetzt, daß weder Anna Amalia noch Karl August die Lebensweise des Adels zu ändern vermochten. Ihre persönliche Vorliebe für gewisse geistvolle Unterhaltungen ging niemals über die Grenzen hinaus, die ihnen von der Staatsräson gesetzt wurden, und in den häufigen Konflikten zwischen beiden trug stets die letztere den Sieg davon.

    Die Kultur des Adels, seine Lebensgewohnheiten und seine Ansichten in politischer, sozialer, künstlerischer Hinsicht beherrschten zwar das öffentliche Leben, so daß mit vollem Recht zu Beginn der klassischen Epoche in Deutschland noch von einer feudalistischen Kultur gesprochen werden kann, aber es war doch die Kultur einer untergehenden Gesellschaftsordnung. So übertreiben wir keineswegs, wenn wir sagen, daß das Wesen der feudalistischen Kultur am Ausgang des 18. Jahrhunderts nicht in der künstlerischen Atmosphäre oder in verfeinerten Sitten zu suchen ist, sondern in dem gesellschaftlichen Schmarotzerdasein des Adels, dessen Anstrengungen nur noch auf die Erhaltung seiner bevorrechteten Stellung und Lebensweise gerichtet waren.

    Eine in den Einzelheiten recht treffende Charakteristik der Sitten am Hofe und des städtischen Wesens gab Karl Freiherr von Lyncker in seinen Erinnerungen an den weimarischen Hof unter Herzogin Anna Amalia und Karl August.¹³ Mit kritischerem Blick sah das Hofleben Johann Michael von Loen, ein Großonkel Goethes, dessen Bücher in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erschienen.¹⁴ Beide schildern, wie sich das höfische Leben im Allgemeinen auf einer recht niedrigen Stufe der Unterhaltung abspielte. Konversation, Kartenspiel, Theater, Jagden und Bälle füllten es so ziemlich aus. Zwar war durch die zur Ausgestaltung herangezogenen Künstler und Kunsthandwerker der Eindruck einer verfeinerten Kultur entstanden, wie sie die Rokoko-Kunst auszeichnet, wie roh jedoch in Wirklichkeit die Unterhaltungen der höchsten Herrschaften waren, sei an einem kleinen Beispiel gezeigt, von dem Lyncker berichtet. „Der Herzog brauchte [seinen Läufer] namens Beilschmidt ... zu mancherlei Parforcetouren. Er mußte z.B. bei dem damals gewöhnlichen Hasenbaxieren dergleichen ganz gesunde allein fangen, und zuweilen befahl ihm der Herzog zu Mittag, Jagden in Ilmenau, Allstedt usw. für den anderen Tag anzusagen. Ich hörte daher Serenissimus einst aussprechen: ,Ich habe so viele Pferde zuschanden geritten, so viele Hunde lahm gejagt, und Beilschmidt ist immer noch auf den Beinen‘."

    Nicht weniger charakteristisch ist die Schilderung Loens vom Schicksal des unglücklichen Gundling, Gelehrten und Narren am Hofe Friedrich Wilhelm I., der bekanntlich der Wissenschaft zum Tort zum Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften befördert wurde. Bei seinem Tode im Jahre 1732 wurde Gundling in einem Faß mit der sinnigen Aufschrift begraben:

    Hier lieget ohne Haut,

    Halb Mensch, halb Schwein,

    Ein Wunderding:

    In seiner Jugend klug,

    In seinem Alter toll,

    Des Morgens wenig Witz,

    Des Abends allzeit voll,

    Beweint ruft Bacchus laut:

    Dies teure Kind ist Gundeling.

    Das war in der Tat ein hochadliger Scherz.

    Goethe spottete im „Götz, daß jemand „so gelehrt wie ein Deutscher von Adel seit, und in „Wilhelm Meisters Lehrjahre" schreibt er: „Die Leute, mit denen ich umgeben war, hatten keine Ahnung von Wissenschaften, es waren deutsche Hofleute, und die Klasse hatte damals nicht die geringste Bildung."

    Eine völlig andere Rolle spielte im gesellschaftlichen Gefüge das Bürgertum. Gegen Ende des 18.Jahrhunderts stellte es in den großen Städten Deutschlands bereits eine ansehnliche ökonomische Macht dar. Weitreichende Handelsbeziehungen, große Manufakturbetriebe verschafften den Bürgern der großen Städte einen weiteren Horizont und ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein, und sie riefen natürlich politische Ansprüche wach. Dieser Stellung entsprach auch die Rolle der bürgerlichen Intelligenz, die mehr und mehr zum Sprecher des Bürgertums wurde.

    Aber die Entwicklung war sehr ungleichmäßig. Nicht gleichzusetzen waren Städte wie Leipzig und Hamburg etwa mit Weimar, auch waren die Unterschiede zwischen Groß- und Kleinbürgertum und den von ihnen abhängigen Schichten stark ausgeprägt. Das Kleinbürgertum dominierte durch seine Zahl und seinen Einfluß in Deutschland in verhängnisvoller Weise. Mit Nachdruck wies Goethe im Schema zu „Dichtung und Wahrheit von 1811 auf die „Breite der Mittelklasse und die „Kultur der Mittelklasse" hin. „Die sämtliche Geistlichkeit", so schreibt er dort, „alle Sachwalter und Beamten, die eigentlichen tätigen Räte der Kollegien, die Ärzte, Professoren und Schullehrer, alle sind aus dieser Klasse; dies gibt ihr ein ungeheures Übergewicht." - „Die Großen und Vornehmen haben nur Begriff von französischer Dichtung, die Gemeinen keine Ahnung, daß es etwas der Art gebe. Ihre ganze Poesie beschränkt sich auf die alten Kirchenlieder, deren Wörtliches ihnen heilig ist."

    So kam es in Deutschland zu einem ungewöhnlichen Mißverhältnis zwischen der Masse des Kleinbürgertums und den übrigen bürgerlichen Schichten. Die den Fortschritt tragenden Kräfte, die eigentlich schöpferisch-produktiven Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler, mußten der Masse der städtischen und ländlichen Kleinproduzenten erst das Bewußtsein ihrer politischen und ökonomischen Lage geben, um sie in den Strom der historischen Entwicklung hineinzuziehen, solange sie nicht von der Gewalt unerträglicher Verhältnisse hineingestoßen wurden. Oft eilten die Führer des Fortschritts und der historischen Bewegung den Massen voraus, manchmal blieben sie hinter ihnen zurück, oder sie verloren den Boden der Wirklichkeit unter ihren Füßen: immer strafte die Geschichte den einen wie den anderen Irrtum.

    In den mittleren und kleinen Städten, zu denen mit seinen rund 6500 Einwohnern im Jahre 1785 auch Weimar zählte (1832, bei Goethes Tod, waren es etwa 10 000), herrschten noch Handwerkerei, Krämergeist und verknöchertes Zunftwesen vor. Doch hatte sogar Weimar mit dem Bankier Ullmann und den Unternehmern Bertuch und Froriep, dem Leibarzt Dr. Huschke und den Staatsbeamten Goethe, Schmidt und Schnauß, die sämtlich aus dem Bürgertum kamen und sich ihm zugehörig fühlten, schon Bürger mit dem recht stattlichen Einkommen von rund 3000 Talern im Jahr, denen sich drei weitere Kaufleute, der Bankier Elkan und die Wirte des „Elephant und des „Erbprinz, mit Einkommen zwischen 1000 und 2000 Talern, sowie Kammersänger, Kapellmeister, Schauspieler, der Direktor des Gymnasiums nebst zwei weiteren Ärzten zugesellten. 1796 gibt ein ungenannter Verfasser folgende Schilderung: „Unter den 11000 [Wahrheit: ca.6500] Menschen, welche die Stadt bewohnen, ist bei weitem die größere Zahl eine Rasse von kleinstädtischen Spießbürgern, welcher man weder die Verfeinerung einer Hofstadt noch sonderlichen Wohlstand anmerkt. Alles lebt vom Luxus eines eingeschränkten Hofes, dessen Fürst abwesend ist und dessen geringer Adel zum Teil arm ist, zum Teil aus gelehrten und schönen Geistern besteht, welche zu philosophisch denken, um des Hofes wegen Aufwand zu machen."¹⁵

    Wie kleinlich und eng es im Weimar Goethes zuging, mögen einige Bilder aus jener guten alten Zeit anschaulich machen: Es war ein zeitungswürdiges Ereignis, als das Portechaisen-Institut die Zahl der innerstädtischen Verkehrsmittel „um 50 Prozent steigerte. Statt zwei gab es von 1807 an drei Portechaisen. Die dritte war sogar mit zwei Laternen ausgestattet. Allerdings rentierte sich diese Neuerung nicht, da die Einwohner die sechs Pfennige meist einsparten, wie überhaupt der „dritte Waggon nur bei Hoffesten, städtischen oder privaten Feiern verlangt wurde.

    Stadtbeleuchtung gab es eigentlich nur um das Schloß herum und in der Nähe der Toreinfahrten der Häuser der Honoratioren, und die Gemeindevertretung war sich überdies darüber einig geworden, daß auch diese Laternen nur „in dunklen Nächten ohne Mondschein und nicht auch in dunklen Mondscheinnächten" anzuzünden waren,

    Gab es in Weimar zwischen 1800 und 1819 häufig Tage, an denen nicht ein einziger Einheimischer eines der vier Tore passierte, so konnte man immerhin mit 20 Fremden am Tage rechnen, die sich auf die acht Gasthöfe verteilten. Kein Wunder, daß nur der „Elephant" und das heutige Parkhotel einträglich waren. Für einen längeren Aufenthalt mußte der Fremde übrigens Zeugnisse über seine Unbescholtenheit beibringen, was zur Zeit der Demagogenriecherei besonders streng gehalten wurde.

    Als letztes Bild auf unserem Bogen sei die Post gezeigt. 1812 ließ Karl August an der Hauptwache den ersten Briefkasten anbringen als einen weiteren Schritt zum Ausbau des Postwesens, nachdem erst 1808 eine Station der Leipzig-Erfurter Post eingerichtet worden war. Bis dahin lief die Postlinie über Buttelstedt, mit dem Weimar lediglich durch einen Botendienst Verbindung hatte.¹⁶

    In diese Weimarer Welt nun trat im Jahre 1775 Goethe ein, der durch „Götz und „Werther in Deutschland berühmt gewordene Dichter. Aber dieses Deutschland setzte sich aus Hunderten von Weimar ähnlichen Gemeinwesen zusammen, aus denen nur ein paar Handelsstädte und die großen Höfe Wien, Berlin, Dresden sich heraushoben. Auf Goethes Betreiben folgte Herder, dessen Schriften nicht minder Aufsehen erregt hatten. Seit 1772 war bereits Wieland hier ansässig, der nicht nur durch seine Werke, sondern auch durch die von ihm herausgegebene Zeitschrift „Teutscher Merkur" als einer der bedeutendsten Geister Deutschlands bekannt war. Mit Schiller schloß sich endlich der Kreis, mit dem wir es im wesentlichen zu tun haben, wenn von Kultur des klassischen Weimar die Rede ist.

    Alle vier stammten aus dem Bürgertum. Soziale Erfahrungen prägten frühzeitig ihre Anschauungen von der bestehenden und ihre Vorstellungen von einer künftigen Welt. Wenn die wohlbekannten Tatsachen des Werdegangs dieser Schriftsteller auch hier nicht wiederholt werden müssen, so soll doch ausdrücklich aus mehreren Gründen darauf hingewiesen werden. Obwohl beträchtliche Unterschiede in der persönlichen Entwicklung - in zeitlicher wie in geographischer Hinsicht - und infolge der Herkunft aus verschiedenen Schichten des Bürgertums bestanden, waren die gesellschaftliche Grundlage und das geistige Klima doch ziemlich einheitlich, waren ihre Lebensläufe typisch für die bürgerliche Intelligenz um die Jahrhundertwende.

    In der Regel führte der Weg den jungen Mann aus kleinbürgerlichem Hause zum billigsten Studium, der Theologie, und von da zur Stellung des Hauslehrers. Jakob Michael Reinhold Lenz hat diesem Beruf mit seinem Drama „Der Hofmeister ein unvergängliches Denkmal gesetzt. Die weitere Entwicklungsstufe dieses „höheren Bedienten, wie der Hofmeister seiner Behandlung und Besoldung nach mit Recht bezeichnet wurde, war Lehrer oder Pfarrer, vielleicht, wenn er Glück hatte, Arzt, Professor oder Beamter. Aus diesen Kreisen gingen zumeist die Schriftsteller hervor. Das, was wir heute den „freien, also den vom Ertrag seiner Feder lebenden Schriftsteller nennen, gab es damals so gut wie gar nicht. Erst ganz allmählich konnte sich die Gruppe der „Freischaffenden auf Grund einer wachsenden Leserzahl herausbilden, die das Bürgertum stellte, und mit dessen ökonomischer Entwicklung sowie dessen Interessen sie engstens verbunden war. Die Zahl der Schriftsteller stieg in Deutschland zwischen 1773 und 1787 von 3000 auf 6000. Aber wie wir aus der Stellung der Bedeutendsten von ihnen sehen, waren sie noch in starkem Maße von den fürstlichen Höfen abhängig. Wer sich auf eigene Füße stellte, mußte sich fast ausnahmslos auf die Fabrikation von Unterhaltungsliteratur mit sehr bescheidenem Niveau beschränken: zumeist auf die gängigen bürgerlichen Rührstücke, Ritter-, Gespenster- und Räuberromane. Wiederum ist es Goethe, der die Situation am treffendsten darstellte: „Die deutschen Dichter, da sie nicht mehr als Gildeglieder für einen Mann standen, genossen in der bürgerlichen Welt nicht der mindesten Vorteile. Sie hatten weder Halt, Stand noch Ansehen, als insofern sonst ein Verhältnis ihnen günstig war, und es kam daher bloß auf den Zufall an, ob das Talent zu Ehren oder Schanden geboren sein sollten. - Gesellte sich hingegen die Muse zu Männern von Ansehen, so erhielten diese dadurch einen Glanz, der auf die Geberin zurückfiel. Lebensgewandte Edelleute, wie Hagedorn, stattliche Bürger, wie Brockes, entschiedene Gelehrte, wie Haller, erschienen unter den Ersten der Nation, den Vornehmsten und Geschätztesten gleich."¹⁷

    Dennoch war im Laufe eines Halbjahrhunderts in Deutschland ein gewaltiger Umschwung erfolgt. Aus einem Lande, dessen Kultur vollständig vom Ausland, besonders Frankreich, abhing, einem Lande, das praktisch keine eigene Literatur hatte, war um 1800 das literarisch führende Land geworden. Die Spitze einer Pyramide von Schriftstellern und einer großen Lesergemeinde bildeten Goethe, Schiller, Wieland und Herder. Kursachsen und die sächsischen Herzogtümer gaben mit der Zahl ihrer Schriftsteller, Buchhändler und Leser die Basis. „Um 1780 sollen 138 Schriftsteller in Leipzig gelebt haben, 77 in Dresden, 83 in Wittenberg, 21 in Bautzen und weitere 400 verstreut in etwa 200 Städten und Dörfern", schreibt der Engländer Walter Horace Bruford in seinem hervorragenden Werk über „Die gesellschaftlichen Grundlagen der Goethezeit".¹⁸ In dem kleinen Weimar waren ihrer mehr als zwei Dutzend.

    Der schon erwähnte Loen gab ein sehr anschauliches Bild von der geistigen Situation in den sächsischen Ländern während der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts, und wir dürfen mit Sicherheit annehmen, daß die von ihm charakterisierte kulturelle Eigenart fünfzig Jahre später noch viel ausgeprägter war und der für Einflüsse und Anregungen weit geöffnete Zugang zu dem erneuten und viel höheren Aufschwung der Literatur im Zuge der Aufklärung und des Humanismus. Loen schrieb in seinen „Moralischen Schildereien": „Das sächsische Blut ist das schönste in Deutschland: es ist feurig, zärtlich und überaus verbuhlt. Die Wollust macht die Einwohner in diesem Land sinnreich, angenehm, höflich und schmeichlerisch, aber zugleich auch wankelmütig, weichlich, plauderhaft und schwelgerisch. Weil sie von Natur mit einer glücklichen Erfindungskraft begabt sind, so findet man unter ihnen die meisten Poeten und Romanschreiber: sie sind die ersten, die sich erkühnt haben, deutsche Schauspiele nach dem Geschmack der Franzosen zu verfertigen.

    Sie sind überhaupt zu allen Künsten und Wissenschaften vor anderen Deutschen aufgelegt; und was dabei am merkwürdigsten ist, so sind sie ebenso glücklich in tiefsinnigen und ernsthaften als in lustigen und scherzhaften Sachen. Unsere zwei größten Weltweisen, Leibniz und Wolff, haben sich in diesem Land hervorgetan. Drei Gelehrte Thomasii, Jacobus und dessen berühmten Söhne, Christian und Gottfried, sind Leipziger gewesen: und wenn wir die Schriften und Nachrichten von den gelehrten Leuten lesen, durch welche die vier sächsischen hohen Schulen, Leipzig, Wittenberg, Jena und Halle, so berühmt geworden sind, so können wir sie fast allein allen andern, welche sich in den übrigen Teilen von ganz Deutschland bekanntgemacht haben, entgegensetzen."¹⁹

    Den Unterschied zu anderen Teilen Deutschlands machen folgende Zahlen deutlich: in Leipzig kam ein Schriftsteller auf 170 Einwohner, in Berlin dagegen einer auf 675 und in Wien gar einer auf 800. Ein sehr langsames, von der feudalen Gesellschaftsverfassung gehemmtes Wachstum der ökonomischen Kräfte des Bürgertums, dessen Schwerpunkt in Handelsstädten wie Leipzig und Hamburg lag, ein relativ hoher Bildungsgrad des Bürgertums in den sächsischen Gebieten und ein starker Einfluß bürgerlich-fortschrittlicher Auffassungen aus England und Frankreich, der sich sowohl durch schöngeistige als auch philosophische Schriften verbreitete, bereiteten den Boden für das Hervorschießen einer Literatur, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte als Nationalliteratur, ja als Weltliteratur präsentierte.

    Die Frage lautet nun, in welcher Weise sich die großen Dichter und Denker dieser Entwicklung bewußt wurden, welche Vorstellung sie sich selbst davon machten. Die materielle Kultur hatte noch kein besonders hohes Niveau erreicht, als die geistige Kultur bereits im höchsten Glanze strahlte. Die Basis für die geistige Kultur der Klassiker mußte erst noch geschaffen werden, und zwar in doppelter Hinsicht. Zunächst mußte sich die kapitalistische Produktionsweise, die in Deutschland noch in ihren Anfängen stand, durchsetzen. Wie die erst allmählich, dann sprunghaft sich vollziehende Entwicklung vor sich ging, zeigen die folgenden, von Jürgen Kuczynski mitgeteilten Tatsachen. Er schreibt: „Schon 1715 war in Kassel eine englische Dampfmaschine ... zum Betrieb eines Springbrunnens eingeführt und aufgestellt worden. Man sieht, wie wenig die feudale Gesellschaft damals mit dieser Produktivkraft des kapitalistischen England, das seine Bergwerke mit solchen Dampfpumpen vor dem Wasser rettete, anfangen konnte. Gelegentlich wurde in den folgenden siebzig Jahren eine solche Maschine eingeführt. 1785 wurde sie in Deutschland (am König-Friedrich-Schacht bei Mansfeld) zum ersten Male als deutsches Produkt in Gang gebracht. Noch vierzehn Jahre sollte es dauern, bis die erste Dampfmaschine Preußens als Antriebsmaschine für Werkzeuge aufgestellt wurde..."²⁰

    Ein anderes Beispiel zeigt, wie dem langsamen Aufstieg eine sprunghafte Entwicklung folgt. Im Jahre 1785 waren in Sachsen-Thüringen nur drei Jenny-Spinnmaschinen in Betrieb, aber 1800 waren es bereits 2000! Und ferner mußte sich das Bürgertum, der dritte Stand des Feudalsystems, zur Bourgeoisie, zur herrschenden Klasse des kapitalistischen Systems mit allen ihren bekannten Eigenschaften wandeln.

    Dieser Wandlungsprozeß charakterisiert das Jahrhundert, mit dem wir es zu tun haben, und ihn begleitet die Dichtung, indem sie alle seine Erscheinungsformen auf seine Wesensmerkmale zurückführt, verdichtet, wie zuweilen die eine Seite des poetischen Schaffens bezeichnet wird. Aber die Dichtung auf den Schwingen der Phantasie und der Divination eilt der Zeit auch weit voraus und entwirft das Bild einer harmonischen Gesellschaft bereits in einer Zeit, wo in England die kapitalistische sich in ihrem ersten Stadium, in Frankreich in revolutionärer Umwälzung befindet, in Deutschland dagegen erst im Keime vorhanden ist. Wen kann es da wundernehmen, wenn das Bild dieser Gesellschaft sich häufig ins Utopische verklärt?

    Vom wichtigsten Vehikel der Kultur, der deutschen Sprache, berichtete Wieland noch 1764 an einen Freund, er habe seinen adligen Gönner mit erotischen Verserzählungen „von seinem hergebrachten Vorurteile gegen die deutsche Poesie bekehrt; er wunderte sich gar zu sehr, daß man das alles in deutscher Sprache sagen könne -, denn bisher kannte er die deutsche Sprache nur aus Akten, Urkunden und Ministerial-Schriften." Hier hatte sich bereits ein gründlicher, zielbewußt beförderter Wandel angebahnt.

    Johann Gottfried Herder, der Theoretiker der „literarischen Revolution in Deutschland, wie Goethe in prägnanter Weise die siebziger und achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts bezeichnete, legte auch in den beiden folgenden Jahrzehnten seine Gedanken über Kultur vor allem in theoretischen Schriften dar. Die „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit aus den Jahren 1784 - 1791 und die „Briefe zu Beförderung der Humanität (1793 - 1797) sind neben den „Schulreden und anderen kleinen Schriften die Hauptquellen, aus denen wir seine Auffassungen kennenlernen.

    Auffallend ist, daß er die Worte Aufklärung, Bildung, Humanität wie Synonyma gebraucht.²¹ Nun hat auch das Wort „Aufklärung" durchaus keinen eindeutigen Sinn. Wir verstehen heute darunter die geistige Bewegung, die (in Deutschland) vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts von den politischen und ökonomischen Emanzipationsbestrebungen des Bürgertums getragen wird und diesen Ausdruck verleiht. Die Aufklärung richtet sich gegen die feudale Gesellschaftsordnung und ihre sie rechtfertigende Gedankenwelt. „Religion, Naturanschauung, Gesellschaft, Staatsordnung, alles wurde der schonungslosesten Kritik unterworfen; alles sollte seine Existenz vor dem Richterstuhl der Vernunft rechtfertigen oder auf die Existenz verzichten."²² So unterschiedlich die Stellung der verschiedenen Schichten des deutschen Bürgertums zu den einzelnen Problemen auch war, in der Hauptsache stimmten sie doch überein und teilten ihre Auffassung mit dem Bürgertum in den wichtigsten Ländern Europas. Und so sieht auch Herder die Sache. Als soziologische Erscheinung wie als psychologischer Prozeß ist Aufklärung für ihn dasselbe wie Kultur. Daneben betrachtet er Aufklärung auch als einen Denkvorgang, als die Klärung von Begriffen. In diesem Sinne kommt bei ihm das Wort etwa seit 1770 vor. Der Begriff, durch den Herder jedoch versucht, die Summe aller Qualitäten des einzelnen Menschen wie die der menschlichen Gesellschaft zusammenzufassen, ist „Humanität. Durch „Humanität unterscheidet sich der Mensch vom Tier. „Das Tier", so schreibt er in den „Ideen", „ist nur ein gebückter Sklave ... Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten: so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch ... selbst Gewicht zu sein auf der Waage. - Allmählich entfaltet sich sein Gesicht und hangt am Auge der Menschen um ihn her, wie sein Ohr an der Sprache der Menschen hangt und durch ihre Hülfe die ersten Begriffe unterscheiden lernet. Und so lernt seine Hand allmählich greifen; nun erst streben seine Glieder nach eigner Übung. Er war zuerst ein Lehrling der zwei feinsten Sinne: denn der künstliche Instinkt, der ihm angebildet werden soll, ist Vernunft, Humanität, menschliche Lebensweise, die kein Tier hat und lernet."²³ [Hervorhebungen vom Verf.]

    In den „Ideen gibt Herder auch seine Definition von „Kultur. Für ihn ist in die Definition einbeschlossen, was zum ersten Male Samuel Pufendorf hundert Jahre früher dem aus der Antike übernommenen und dem inhaltlich veränderten Begriff hinzugefügt hatte: dessen gesellschaftliche Bedeutung.²⁴ Pufendorf hatte festgestellt, daß ein Individuum, losgelöst von der Gesellschaft, keine Kultur haben kann, daß menschliche Kultur überhaupt nur als gesellschaftliche Erscheinung möglich ist. „Im status naturalis, d.h. in einem Zustand ohne Gesellschaft", meint Pufendorf, „lebt der Mensch elend, fast wie ein Tier, aber durch das Leben in der Gesellschaft, in der socialis vita, findet er sein persönliches Glück: das Leben wird nämlich durch das Zusammenleben mit anderen bequemer und schöner, es gibt Ackerbau, geistige Bildung usw."²⁵ Socialis vita, das Leben in der Gesellschaft, vitae cultura, das Leben in höheren Formen, und den antiken Ausdruck cultura animi, Geistes- und Herzensbildung, faßt Pufendorf zu dem einheitlichen Begriff cultura zusammen. In diesem Sinne übernimmt Herder den Begriff Kultur. Doch er geht einen Schritt weiter und verbindet damit die Idee des Fortschritts. „Das Menschengeschlecht ist bestimmt, mancherlei Stufen der Kultur in mancherlei Veränderungen zu durchgehen; auf Vernunft und Billigkeit [Gerechtigkeit] aber ist der dauernde Zustand seiner Wohlfahrt wesentlich und allein gegründet."²⁶ Die Kultur des Einzelnen und die eines Volkes, ja der ganzen Menschheit, steigt für Herder von niederen zu höheren Stufen, sie umfaßt „den Ackerbau mit mancherlei Geräten ..., die Viehzucht ..., das Kochen der Speisen ..., Spinnen, Weben und Nähen ..., Bergbau und Hüttenwesen ..., Bildnerei und Baukunst ..., die Schreib- und Dichtkunst, Handel, ..., Schiffahrt ..., Arzneiwissenschaft und Kriegskunst ..., Arithmetik, Geometrie und Mechanik, in politischen Einrichtungen Gesetze, Gerichte ..., eine Menge sittliche Gebräuche...". Kultur umfaßt also bei Herder sowohl materielle als auch geistige Leistungen und - was besonders bemerkenswert ist - Lebensgewohnheiten und Lebensweisen.

    Dem Gedanken des Fortschreitens entsprechend gipfelt bei Herder die Entwicklung der Kultur in einem Endzustand, in dem alle dem Menschen innewohnenden Fähigkeiten sowohl im Einzelnen als auch in der Gesellschaft harmonisch ausgebildet sind. Diesen Zustand nennt er Humanität. „Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zu Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde."²⁷

    Die Darstellung von Herders Auffassung von Kultur stimmt, wie uns die Entstehungsgeschichte der „Ideen zeigt, weitgehend mit der Meinung Goethes überein. Goethes Ansichten müssen nun freilich in erster Linie in seinen poetischen Werken aufgesucht werden. Die Begriffe Kultur, Humanität, Aufklärung kommen darin, wie uns die Arbeitsstelle des „Goethe-Wörterbuchs belehrt, nicht gar so häufig vor. In den Werken, Briefen und Tagebüchern finden wir Humanismus, Humanität, Humanitätskultur nicht mehr als dreizehnmal.²⁸ Aber das ist nicht entscheidend. „Das höchste Studium des Menschen ist der Mensch", lautet Goethes humanistisches Credo, das im Mittelpunkt seiner Kulturauffassung steht. Für ihn ist Humanismus eine Anschauung, nach der im Mittelpunkt der Welt und des Lebens als ihr realer Bezugspunkt der Mensch stehe. Er nimmt die seit der Antike bekannte Erkenntnis auf, nach der die Menschen nur der Natur und sich selbst gegenüberstehen und ihre Entwicklung nicht um eines Gottes oder anderen übernatürlichen Wesens sondern um ihrer selbst willen vor sich geht und sie sich den Sinn dieser Entwicklung selbst geben. In dieser Hinwendung zum Menschen und zur Menschheit als Gegenstand künstlerischer Bemühungen, aber auch wissenschaftlicher Untersuchungen und praktischer, politischer Unternehmungen, liegt der tiefste Grund für alle „Vorwürfe, er sei ein Heide, wie er später von den Romantikern kam und wie seine frühzeitige lakonische Bemerkung, er sei ein „dezidierter Nichtchrist bestätigt.²⁹ So stellt Goethe das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt dar, sei es Kulturoder Naturzustand: „Der Mensch ist als wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, daß er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche hervorbringen kann. Alle gesunden Menschen haben die Überzeugung ihres Daseins ... um sie her", und ironisch fährt er fort: „Indessen gibt es auch einen hohlen Fleck im Gehirn, d.h. eine Stelle, wo sich kein Gegenstand abspiegelt, wie denn auch im Auge selbst ein Fleckchen ist, das nicht sieht. Wird der Mensch auf diese Stelle besonders aufmerksam, vertieft er sich darin, so verfällt er in eine Geisteskrankheit, ahnt hier Dinge aus einer andern Welt, die aber eigentlich Undinge sind und weder Gestalt noch Begrenzung haben, sondern als leere Nacht-Räumlichkeit ängstigen und den, der sich nicht losreißt, mehr als gespensterhaft verfolgen."³⁰[Hervorhebungen vom Verf.]

    Mit dieser Ansicht geht Goethe allerdings weit über Herder hinaus. Dieser war der Meinung, daß ein Gott die Welt geschaffen und den Menschen zu dem Zwecke feiner als die übrige Lebewelt organisiert habe, um den Kulturzustand der Humanität zu erreichen. Diese sei das in die Menschheit gelegte Gesetz, nach dem sie nunmehr, ohne daß weitere Eingriffe von außen erforderlich seien, ihr Schicksal selbst gestalte: „Der Mensch sei Mensch! er bilde sich seinen Zustand nach dem, was er für das Beste erkennet."³¹ Unter der Voraussetzung, daß ein überirdischer Schöpfer anerkannt wird, ist also auch für Herder der Mensch seines Glückes Schmied. Mit diesem Diesseitigkeitsgedanken Herders ist Goethe einverstanden, aber er findet Ursache und Gesetzmäßigkeit der menschlichen Entwicklung in der Natur begründet, in der für außer- oder übernatürliche Wesen kein Platz ist. Er identifiziert das Humanitätsgesetz, nach dem die Kultivierung des Menschengeschlechts verläuft, weitgehend mit Naturgesetzlichkeiten. Er nennt den Prozeß dieser Kultivierung oder Selbstvervollkommnung „Bildung". Bildung ist sowohl die persönliche Kultur des Individuums als auch die der Allgemeinheit. Jene wird im Laufe des Lebens erworben, diese im Laufe der Geschichte.

    Dieser weitere Unterschied zu Herders Auffassung muß im Auge behalten werden. Während Herder vor allem an die kulturelle Entwicklung der Völker denkt, richtet sich Goethes Aufmerksamkeit zunächst - d.h. während der Entstehungszeit der „Ideen, also in den achtziger und neunziger Jahren - auf die Entwicklung des einzelnen innerhalb einer sozialen Schicht. Diese Schicht ist das Bürgertum, und diesen Entwicklungsprozeß nennt er „Bildung. Er gebraucht das Wort also einmal im Sinne eines Vorgangs und ein andermal im Sinne eines Ziels oder eines Ergebnisses. Goethe sieht den Bildungsprozeß in striktem Gegensatz zur Theologie, weil er davon überzeugt ist, daß dem Menschen eine schöpferische Kraft innewohnt, daß das wichtigste Attribut Gottes, das Schöpferische, nicht bei diesem, sondern beim Menschen und in der Natur liege. „Der kleine Gott der Welt" ist ein Prometheus, der sich seine Hütte, seinen Herd, die ganze Erde, um die ihn selbst ein Zeus beneidet, mit eigenen Händen geschaffen hat. „Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände so viel als möglich bestimmt und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen läßt. Das ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufälligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammenstellt. Alles außer uns ist nur Element, ja, ich darf wohl sagen: auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll, und uns nicht ruhen und rasten läßt, bis wir es außer uns oder an uns, auf eine oder die andere Weise dargestellt haben."³² Goethe schildert in „Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) den Vorgang der menschlichen Bildung unter ganz konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Bildung ist für ihn zur Zeit der „Lehrjahre die Befriedigung des Strebens nach Erkenntnis. Sich selbst und die Gesellschaftsschichten erkennen, mit denen Wilhelm zusammentrifft, das ist die eine Seite, Erkenntnisse in Kunst und Wissenschaften gewinnen, die andere. Der Gedanke an „Faust drängt sich auf, der ja auch erkennen will, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gleich ihm beschränkt sich Wilhelm Meister jedoch nicht auf den Erwerb „nutzlosen Wissens, sondern geht auf produktive Erkenntnisse aus, die ihm Einblick in Gesetze der Natur und des Menschenlebens mit dem Ziele geben, bewußt im Sinne dieser Gesetze an der eigenen Vervollkommnung und der der Menschheit zu arbeiten.

    Goethe findet die Grundlage für seine Ansicht sowohl in der Naturwissenschaft als auch im menschlichen Leben. Botanische und anatomische Studien bestätigen ihm das Gesetz der „Bildung. Bildung und Umbildung organischer Naturen ist für Goethe ein zentraler Begriff. Wie für Herder das eigentliche Synonym für Kultur „Humanität ist, so für Goethe „Bildung. Das Ziel der kulturellen Entwicklung sind nach Goethe der gebildete Einzelmensch und die gebildete Gesellschaft auf der Grundlage einer hochentwickelten Ökonomie. In den beiden Meisterromanen wird dies ganz deutlich. So großes Gewicht Goethe auch darauf legt, den Bildungsprozeß Wilhelms darzustellen und ihn z.B. gegenüber dem Nur-Künstler Serlo oder dem Nur-Wissenschaftler und Spießbürger Werner abzugrenzen, so isoliert er diesen Prozeß keinen Augenblick lang von der gesamten gesellschaftlichen Situation. Wilhelm ist für ihn der ideale, aber zugleich typische Vertreter der bürgerlichen Klasse. In den „Wanderjahren, wo es um die sozialen und ökonomischen Grundlagen für diese Entwicklung geht, tritt dieser Typus noch schärfer hervor. In den „Wanderjahren findet Goethes Kulturbegriff denn auch seine umfassendste Darstellung, indem er ihn in seiner Wechselwirkung mit den produktiven Kräften der Gesellschaft und des einzelnen vorführt. Aber schon viel früher als in den „Wanderjahren schreibt er im Vorwort zu „Dichtung und Wahrheit": „... so ward ich aus meinem engen Privatleben in die weite Welt gerückt, die Gestalten von hundert bedeutenden Menschen, welche näher oder entfernter auf mich eingewirkt, traten hervor; ja die ungeheuren Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs, die auf mich, wie auf die ganze Masse der Gleichzeitigen, den größten Einfluß gehabt, mußten vorzüglich beachtet werden. Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein."³³

    Sowohl Goethe als auch Herder haben also eine durchaus soziale Ansicht von Kultur und beschränken sich keineswegs nur auf deren geistigen Aspekt.

    Bilden die ökonomischen und sozialen Erscheinungen die eine Komponente des kulturellen Lebens, aus der Goethe seine Erfahrungen gewinnt, so die nationale Frage die andere. Frühzeitig nimmt er zu den nationalen Problemen in Deutschland Stellung und hilft, sie zu lösen, indem er den Schatz der Nationalliteratur erweitert, ja überhaupt erst das Bewußtsein einer Nationalliteratur schafft. Sieht er doch in der kulturellen und psychischen Eigenart seines Volkes einen Faktor, der für die Herausbildung einer Nation von größter Bedeutung ist. Die Wirkung seiner Dichtung in seiner Zeit beruht ja gerade auf seiner Fähigkeit, das im richtigen Moment auszusprechen, was das Volk fühlt und was es bewegt, und das waren die Kämpfe um nationale Einheit und soziale Befreiung.

    Rückschauend beurteilt Goethe das nationale Problem in der Kultur Deutschlands um die Mitte des 18.Jahrhunderts mit den Worten: „Deutschland, so lange von auswärtigen Völkern überschwemmt, von anderen Nationen durchdrungen, in gelehrten und diplomatischen Verhandlungen an fremde Sprachen gewiesen, konnte seine eigene unmöglich ausbilden ... Der Deutsche, seit beinahe zwei Jahrhunderten in einem unglücklichen, tumultuarischen Zustande verwildert, begab sich bei den Franzosen in die Schule, um lebensartig zu werden, und bei den Römern, um sich würdig auszudrücken. - „Betrachtet man genau, was der deutschen Poesie fehlte, so war es ein Gehalt, und zwar ein nationeller; an Talenten war niemals Mangel.³⁴ Und um zu zeigen, daß, lange in Ansätzen vorbereitet und nun mit einem Male ausgelöst durch die nationale Katastrophe des Siebenjährigen Krieges, dieser nationale Gehalt in der deutschen Dichtung für die Allgemeinheit evident wurde, wies er auf Lessings Schauspiel „Minna von Barnhelm" hin.

    Und gegen das Ende seines Lebens zu hob Goethe diese Ansicht von einer nationalen Kultur noch einmal hervor, als er 1827 schrieb: „Wie aber die militärisch-physische Kraft einer Nation aus ihrer innern Einheit sich entwickelt, so muß auch die sittlich-ästhetische aus einer ähnlichen Übereinstimmung nach und nach hervorgehen. Dieses kann aber nur durch die Zeit bewirkt werden. Ich sehe so viel Jahre als ein Mitarbeitender zurück und beobachte, wie sich, wo nicht aus widerstreitenden, doch heterogenen Elementen eine deutsche Literatur zusammenstellt, die eigentlich nur dadurch eins wird, daß sie in einer Sprache verfaßt ist, welche aus ganz verschiedenen Anlagen und Talenten, Sinnen und Tun, Urteilen und Beginnen nach und nach das Innere des Volks zutage fördert."³⁵

    In der Sprache, nicht nur in der Literatur, sieht Goethe einen wichtigen kulturbildenden Faktor, wie umgekehrt die Sprache sich seiner Auffassung nach auf die „Elemente, „Boden, Klima, Lebensart, Sitten, gesellschaftlichen Verkehr, Verfassung und dergleichen, also auf die kulturellen Verhältnisse gründet.³⁶

    Im Anschluß daran darf noch einmal auf die Begriffe Humanität, Humanismus zurückgekommen werden, soweit sie Goethe benutzt. Die wenigen Fundstellen, von denen vorhin gesprochen wurde, dürfen nicht über das Gewicht hinwegtäuschen, das sie für die Bestimmung von Goethes Standort besitzen. So sagt er, um nur ein Beispiel zu nennen, von den Einwohnern Vicenzas, daß ihre Kultur sich durch die „freie Art Humanität auszeichne, die sich in dem offenen, dabei höflichen und gesetzten Wesen der Männer, dem unbefangenen Verhalten der Frauen äußere. Erstellt dieser Erscheinung ausdrücklich die Eingeschränktheit und geistige Verkrüppelung in den deutschen „kleinen souveränen Staaten gegenüber, wo die Menschen elend und einsam sein müssen, weil besonders der in hervorragender Stellung Befindliche „mit niemand reden darf, der nicht was wollte oder möchte".³⁷ Die Kultur, die Goethe vor Augen hat, setzt also ganz bestimmte soziale Verhältnisse voraus, in diesem Falle demokratische, wie er sie in den italienischen Städten zu finden glaubte.

    Im Wesentlichen stimmt auch Schiller mit Herder und Goethe in dieser Auffassung von Kultur überein. Allerdings faßt Schiller den Begriff insofern enger, als er die Rolle der Kunst bei der Herausbildung des gesellschaftlichen Bewußtseins wesentlich höher einschätzt, ja überschätzt. Ansätze zu dieser Auffassung finden sich schon in der Antrittsrede vor der Deutschen Gesellschaft 1784, „Vom Wirken der Schaubühne auf das Volk", wo er auf die Frage, was stehende Schaubühnen eigentlich wirken können, antwortet, sie seien mehr als jede andere öffentliche Anstalt des Staats eine Schule der praktischen Weisheit, ein Wegweiser für das bürgerliche Leben.³⁸ Dieser Auffassung bleibt er treu, vor allem als er sich darin durch Kant bestätigt findet. In der Abhandlung „Über die ästhetische Erziehung des Menschen ..." baut er auf der entscheidenden Rolle der Kunst sein kulturpolitisches Programm auf. Schillers Ausgangspunkt ist für seine Zeit einzigartig. „Der Mensch ist noch sehr wenig, wenn er warm wohnt und sich sattgegessen hat; aber er muß warm wohnen und satt zu essen haben, wenn sich die bessere Natur in ihm regen soll."³⁹ Die bessere Natur ist für ihn der freie, im vollen Besitz seiner Vernunft befindliche Mensch, der nicht unter das „tyrannische Joch" der Bedürfnisse gebeugt ist, für den nicht der „Nutzen...das große Idol der Zeit [ist], dem alle Kräfte frönen und alle Talente huldigen ..."⁴⁰ Darauf folgt aber der für Schillers Denken so wichtige Satz: „... um jenes politische Problem [der Freiheit und der Vernunft] in der Erfahrung zu lösen, [muß man] durch das ästhetische den Weg nehmen ..., weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert."⁴¹

    Sehen wir vorübergehend von der Vorstellung ab, daß die ästhetische Erziehung das Hauptmittel sei, eine höhere Stufe der Kultur zu erklimmen, so finden wir, daß Schiller die kulturelle Situation seiner Zeit geradezu mit seherischem Blick durchschaut. Er sieht

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