Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der (Un-)Vergessene Widerstand: Die Helden des Alltags, Das tägliche Überleben im antifaschistischen Widerstand
Der (Un-)Vergessene Widerstand: Die Helden des Alltags, Das tägliche Überleben im antifaschistischen Widerstand
Der (Un-)Vergessene Widerstand: Die Helden des Alltags, Das tägliche Überleben im antifaschistischen Widerstand
eBook829 Seiten9 Stunden

Der (Un-)Vergessene Widerstand: Die Helden des Alltags, Das tägliche Überleben im antifaschistischen Widerstand

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Das Kleine ist das Große.
Dieses Buch macht den vergessenen Widerstand des 3. Reiches wieder lebendig und damit unvergessen. Es beschreibt die Herausforderungen des Alltags und die ungewöhnlichen Lösungen der Lebenswege derjenigen, die im Widerstand tätig waren. Die unbekannten Heldentaten des "kleinen" Mannes werden aus dem geschichtlichen Dunkel ins Licht geholt, weg vom Fokus des Widerstands des Adels.
Der Alltag der Widerständler wird im sozialen Kontext des Zeitgeschehens beschrieben, getragen von den persönlichen Geschichten. Das Buch ist ein Zeitzeugen-Bericht, das zeigt, wie kleine Gesten und ziviler Mut, innere Integrität und Freiheit trotz der täglichen Gefahren, im Angesicht von Verrat, Verfolgung, Konzentrationslager und Tod, Menschen von damals wie heute Lebensmut gibt und sie rettet.
Es sind berührende Geschichten von ganz normalen Menschen, die den Sturm der Zeit von 1900 - 1945 trotzten. Leser beschreiben es als Buch der Anthropologie, der Menschenkunde.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Jan. 2015
ISBN9783732319176
Der (Un-)Vergessene Widerstand: Die Helden des Alltags, Das tägliche Überleben im antifaschistischen Widerstand

Ähnlich wie Der (Un-)Vergessene Widerstand

Ähnliche E-Books

Politik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der (Un-)Vergessene Widerstand

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der (Un-)Vergessene Widerstand - Christa Muths

    Einführung in die Zeitgeschichte

    Das Leben der hier beschrieben stillen Helden umfasst eine Zeitspanne von ca. 130 Jahren. Martha, die Kommunistin, die im 3. Reich ins KZ kam, wurde 1886 zu Kaisers Zeiten, in Osterode Ost-Preußen geboren. Die Wahl-Berlinerin Charlotte, die einen jüdischen Musiker aus Budapest heiratete, wurde 1900 in Landsberg an der Warthe geboren. Walter aus Düsseldorf, sein Cousin Wilhelm aus Leipzig und Philipp Pit aus Frankfurt wurden 1909 im Kaiserreich geboren. Walter, Wilhelm, Heinrich sowie seine Schwester Martha in Berlin waren Freidenker, Walter war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend sowie der Naturfreunde, Wilhelm KPD Funktionär und Pit Rotfrontkämpfer, Martha und Heinrich waren Mitglieder der KPD. Nelly in Holland war Mitglied einer streng gläubigen christlichen Kirche. Heinz gehörte keiner politischen Organisation an. Walters spätere Frau Maria (die wilde Hummel, wie sie liebevoll von ihrer Familie genannt wurde) wurde 1917 im Ersten Weltkrieg geboren. Sie ist die jüngste der hier genannten Helden.

    Es gab, wie schon ausgeführt, viele widersprüchliche Nachforschungsergebnisse und es stellte sich schnell heraus, dass die Widersprüche in der Politik der jeweiligen Zeiten sich auch in den geschichtlichen Unterlagen sowie Analysen ausdrücken und die historischen Analysen demzufolge abhängig von der Wahrnehmung des jeweiligen Historikers ist.

    Das ist natürlich wissenschaftlich gesehen nichts Neues, aber es war trotzdem überraschend zu sehen, dass Bücher, Analysen und Material allgemeiner Art, im Internet leicht auffindbar zur Verfügung stehen, während z.B. das Material zur Geschichte der doch sehr starken deutschen Arbeiterbewegung und vor allem des „linken Widerstandes" im 3. Reich sehr viel schwieriger zu finden war.

    Im Laufe meiner Nachforschungen stieß ich dann auf einen Streit zwischen den deutschen Historikern, der sich zum einen auf den Begriff des Widerstandes bezieht und zum anderen auf die gesellschaftlichen Gruppen. Es wird unterschieden zwischen Widerstand, der sich aus demokratischen Gruppen herausgebildet hatte und den „Widerstand" von nicht-demokratischen Gruppen (wie z.B der KPD, Anarchisten und Jugendgruppen wie die Edelweißpiraten). Die antifaschistische Aktionen dieser Gruppen wird von der überwältigen Mehrheit der deutschen Historiker nicht als Widerstand klassifiziert, da diese Gruppen nicht als demokratisch eingestuft werden.¹³ Damit werden unzählige Opfer des Nationalsozialismus nicht nur als Zeitzeugen, sondern vor allem aufgrund ihrer Menschlichkeit, ihrer humanen Verantwortlichkeit, die Basis ihrer Bereitschaft ihr Leben für die Rettung anderer zu opfern, von der historischen Realität vieler Geschichtsschreiber sowie deren Nachforschungen ausgeschlossen. Der Militärhistoriker und Friedensforscher Wolfram Wette, erweiterte mit seinen Untersuchungen über den Widerstand in der Polizei des Nationalsozialismus, diesen eng gesetzten Rahmen.¹⁴

    Auch Johannes Tuchler und andere Gedenkstätten des Widerstandes widmen sich den Lebensgeschichten der Ermordeten sogenannter „Nicht" Demokraten, nun als stille oder vergessene Helden bezeichnet.¹⁵

    Arno Lustiger, polnischer Jude deutscher Nation, selber Überlebender verschiedener Konzentrationslager wie Auschwitz und Buchenwald, sprach am 27.1.2005 im Alter von über 80 Jahren zusammen mit Wolf Biermann vor dem Bundestag, um deutlich auf die fehlende historische Aufarbeitung bestimmter sozialer Gruppen des Widerstandes hinzuweisen. Unter anderem verwies er auch auf die Todesmärsche von KZ-Häftlingen, von denen mehrere Hunderttausende auf den Straßen des Deutschen Reiches umgekommen waren.¹⁶ In seiner Rede bedankt er sich ausdrücklich bei seinem Freund Wolfram Wette für die Öffnung der Diskussion um die Widerstandskämpfer. Er gedenkt in seiner Rede, die er am 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hielt, der vom Nationalsozialismus umgebrachten 6 Millionen Juden, betont aber auch, dass es Mahnmale geben muss für die im Nationalsozialismus umgebrachten Homosexuellen, Sinti und Romas sowie aller anderen Opfer des Nationalsozialismus unabhängig von ihrer Herkunft und den Gründen der Verfolgung. Dann stellt er seinen besten Freund Wolf Biermann als nächsten Redner vor, dessen Vater als Kommunist in Auschwitz hingerichtet wurde. Der Bundestagspräsident Wolfgang Thierse betont in seiner Eingangsrede zu dieser Gedenkfeier: „Jedes Opfer hat das gleiche Recht auf Anerkennung!"

    Der Jude Arno Lustiger startete 2006 einen Aufruf für die Gerechtigkeit in Palästina, ein Konfliktbereich der gerade jetzt wieder hoch aktuell ist.¹⁷

    Welche sozialen Umwälzungen hatten die Menschen damals in ihr Leben zu integrieren? Deutschland erlebte während dieses Zeitraumes von 130 Jahren vier sehr unterschiedliche Staats- und Regierungsformen, geprägt von Unterdrückung, Aufstand, Diktatur mit den größten Grausamkeiten der Vernichtung von Millionen von Menschen, zwei Weltkriegen und dann nach dem Zweiten Weltkrieg die heutigen Demokratie.

    Aber es waren nicht nur sehr wechselhafte und stürmische politische Entwicklungen, sondern auch herausragende technische sowie wissenschaftliche Errungenschaften wie z.B. die Eisenbahn, das Auto, Flugzeuge, die ersten Vorstufen zur Entwicklung des Roboters.

    1817 wurde das Laufrad erfunden, 1870 das Hochrad. 1864 gründeten Nicolaus August Otto zusammen mit Eugen Lange, der Erfinder der Wuppertaler Schwebebahn, die weltweit erste Motorenfabrik N. A. Otto & Cie. in Köln, aus der 1872 die Fabrik Deutz hervorging. Gottlieb Daimler wurde als technischer Leiter der Motorenkonstruktion engagierte. Otto entwickelte bis 1876 im Anschluss an einen 1860 patentierte 2-Takt-Motor einen Viertaktmotor. Im Januar 1886 meldete Carl Benz in Deutschland das erste Auto mit Verbrennungsmotor an. Damit war die Entwicklung des Automobils nicht mehr aufzuhalten.

    Der Kaiser wollte aus Deutschland das weltweit führende Land für technische Innovationen machen und so weihte er die Wuppertaler Schwebebahn persönlich als Welterneuerung ein.¹⁸ Vor allem wurden Firmen, die an Erfindungen arbeiteten, steuerlich begünstigt.

    Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem die notwendigen Gesetzmäßigkeiten bekannt waren, setzte eine breite Anwendung der Elektrizität, also der Elektrotechnik ein. 1844 gibt es die erste Telegraphenlinie in Amerika und im gleichen Jahr wird in Paris erstmalig ein öffentlicher Platz beleuchtet: Place de la Concorde. 1866 von entwickelt Werner von Siemens die erste elektrische Maschine. 1882 gelang die erste Fernübertragung von elektrischer Energie über 57 km im Raume München und 1970 entwickelte Nikola Tesla die heute gebräuchlichste elektrische Energieübertragung mittels Wechselstrom. 1891 gelang der erste Einsatz des heute üblichen Dreiphasenwechselstromes über 176 km im Raume Frankfurt. Der WDR vergleicht die elektrische Revolution um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert mit der Revolution durch das Internet Ende des 21. Jahrhunderts.¹⁹

    1835 gab es die erste Dampf-Eisenbahn in Deutschland. Nach der Deutschen Einigung von 1871 entstand in den einzelnen Bundesstaaten eine Reihe von staatlichen Länderbahnen. Die zahlreichen in dieser Zeit gebauten Privatbahnen dienten in der Regel für den Regional- und Nahverkehr. Die Entwicklung der Straßenbahnen begann mit den ersten Pferdebahnen 1823 in New York. Die erste elektrische Straßenbahn der Weltgeschichte nahm am 16.Mai 1881 in Lichterfelde bei Berlin den Probebetrieb auf. Die Wagen waren von Werner von Siemens gebaut mit einer Geschwindigkeit von maximal 20km/h. Ihr Einsatz verbreitete sich bis um 1920 im ganzen deutschen Reich und veränderte im Zusammenhang mit den Eisenbahnen die Mobilität innerhalb des deutschen Reiches grundlegend.

    Gab es in den Jahren zwischen 1815 und 1849 auch in Deutschland noch große Aufstände der Maschinenstürmer gegen die Technisierung der industriellen Revolution vor allem im Textilbereich, wurden die grundlegenden Umwälzungen dieser neuen technischen Entwicklung eher akzeptiert, vor allem, da sie neue Arbeitsplätze schufen.

    Auch die Entwicklung der Roboter oder ferngesteuerter Maschine, aus der heutigen Industrie- und Wirtschaft nicht mehr wegzudenken, begann in dieser Zeit. 1870 gab es die ersten ferngesteuerten Torpedos, 1898 stellte Nikola Tesla, ein kabelloses Radio kontrolliertes Torpedo vor, welches er der US Navy verkaufen wollte.

    Otto Lilienthal, der Flugpionier (1848-1896) führte seit 1891 erfolgreiche Gleitflüge nach dem Prinzip „schwerer als Luft" durch und unterschied sich von zahlreichen Vorläufern dadurch, dass er nicht einen einzelnen Flug versuchte, sondern nach ausführlichen theoretischen und praktischen Vorarbeiten deutlich über 1.000 mal gesegelt ist. Ab 1910 wurden die ersten Flugzeuge serienmäßig gebaut. Mit dem Überlandflug Wien – Horn – Wien über rund 140 km am 10. Oktober 1910 errang Karl Illner den großen Preis der Stadt Wien. Die Maschine hatte bis in den Ersten Weltkrieg hinein auch Bedeutung als Militärflugzeug.

    Im November 1909 gründete Ferdinand Graf von Zeppelin in Frankfurt am Main die erste Luftfahrtgesellschaft der Welt: die DELAG („Deutsche Luftschifffahrt-Aktiengesellschaft). Sie transportierte zwischen 1910 und 1913 etwa 34.000 Passagiere. Im Juni startete 1912 der Doppeldecker „Gelber Hund als erstes Postflugzeug vom Flughafen Frankfurt-Rebstock zum Flughafen Darmstadt.

    Es wurden weitere Fluggesellschaften gegründet und schon 1913 bestand ein Verkehrsnetz zwischen Düsseldorf, BadenOos, Berlin-Johannisthal, Gotha, Frankfurt am Main, Hamburg, Dresden und Leipzig. Der Erste Weltkrieg verhinderte jedoch den geplanten Anschluss an europäische Hauptstädte.

    Die deutsche Handelsflotte war 1913 die drittgrößte der Welt.

    Auch der wissenschaftlichen Bereich machte enorme Fortschritte: 1897 kam die Entdeckung dass das Atom doch teilbar ist (was dann letztendlich zur Entwicklung der Atombombe führte, das erste Mal von den Amerikanern 1945 in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt).

    92.000 Menschen starben sofort. Weitere 130.000 Menschen starben bis Jahresende an den Folgen, unzählige wietere an Folgeschäden in vielen Jahren danach.

    Die Bedeutung des Lichtes sowie die Bedeutung des RaumZeit Kontinuums und die Relativitätstheorie (Einstein 1916). Damit zusammen hängt auch die Entdeckung der Schwarzen Löcher. Albert Einstein sagte sie in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie voraus. Philosophiert haben Wissenschaftler allerdings schon Ende des 18. Jahrhunderts über „dunkle Sterne". Erst in den vergangenen zwanzig Jahren fanden Astronomen dann auch tatsächlich die ersten Hinweise auf sie am Himmel. Heute im Jahre 2012 gehören sie zum Alltagswissen schon von 10-jährigen Kindern.

    Auch der Beginn der Quantum Physik fällt in die Zeit unserer Großeltern: 1900 trägt Max Planck seine Theorie der Hohlraumstrahlung vor, es ist das Geburtsjahr der Quantenphysik. Die Dualität des Lichtes gleichzeitig bestehend aus Welle (Energie) und Teilchen (Materie) wird erkannt, dies ist eines der Grundsätze der Quantenphysik. Diese spezifischen Eigenschaften des Lichtes finden im Laufe des folgenden Jahrhunderts eine Umsetzung in vielen technischen Geräten, wie z.B. Radio, Fernsehen und auch Computer. In der chemischen Industrie, der Astronomie und vielen anderen Bereichen gehört die Spektralanalyse seitdem zum Grundwerkzeug, denn Licht ist Träger von Information. Diese wurde 1859 von Bunsen und Kirchhoff entwickelt, basierend auf den Erkenntnissen von Fraunhofer. Anhand des Spektralfeldes des Lichtes können z.B. toxikologische Stoffe in der Lebensmittelanalyse bestimmt werden sie ist auch das wichtigste Handwerkszeug der Astronomen, um Informationen über die chemische Zusammensetzung anderer Himmelskörper zu erfahren.

    1895 erschien das Buch von H.G. Wells: „Die Zeitmaschine", ein für den damaligen Kenntnis- sowie Bewusstseinsstand unglaubliche Vision. Mit der Erfindung des Teleskops 1608 begann die Entwicklung zum Bau von Stern warten. Viele bedeutende Sternwarten in Mittel- und Nordeuropa wurde zwischen 1790 und 1830 gegründet, u.a. jene in Hamburg-Altona, München, Düsseldorf, Gotha, Leipzig, Halle, Königsberg.²⁰

    Die Frauen kämpften während dieser Jahre des rasanten Wechsels für ihre Rechte, selbst wenn sich dies als eher langwierig herausstellen sollte. Um mit Zsa Zsa Gabor zu sprechen: „Wenn ein Mann zurückweicht, weicht er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können." Und so mussten die deutschen Frauen viele Anläufe nehmen, um ihre Forderungen seit der Revolution von 1848 umzusetzen. 1865 gründete Louise Otto Peter den Allgemeinen Deutschen Frauenverein. Clara Zetkin setzte 1911 den ersten internationalen Frauentag durch, der seitdem weltweit am 8.3. eines jeden Jahres gefeiert wird. 1919 konnten die deutschen Frauen endlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. 17 Millionen Frauen waren wahlberechtigt und tatsächlich gaben 82.3% ihre Stimme ab.

    1918 hatten weltweit nur 9 Staaten das Frauenwahlrecht eingeführt. Die ersten Frauen weltweit, die wählen durften, waren die Finninnen. Die französischen Frauen erhielten das Wahlrecht 1944, die Italienerinnen 1945 und die Schweizerinnen 1971!

    Die Leibeigenschaft im deutschen Reich, die vom Mittelalter bis zur Neuzeit in Europa und so auch in Deutschland vorherrschte, sie war auch eine der wichtigen Ursachen für den Deutschen Bauernkrieg von 1524 – 1526, wurde in Deutschland während der sozialen Veränderungen nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges von 1756 – 1763 aufgehoben. Zu Beginn des 19 Jahrhundert erhielten die Leibeigenen Freilassungsbriefe. Sehr häufig wurde das Verhältnis zum Großgrundbesitzer dann in einen Erbpachtvertrag umgewandelt.

    Am längsten und strengsten hielt sich die Leibeigenschaft in Russland, denn dort wurde die Auflösung erst unter Zar Alexander 1861 durchgeführt.

    Zu dieser Zeit, ab etwa 1850, war in Staaten wie England und Deutschland die industrielle Revolution in vollem Gange. Erstmals in der Geschichte suchten die „kleinen Leute" eine Organisation, die ihre Interessen gleichberechtigt vertreten konnte.

    So organisierte sich die deutsche Arbeiterbewegung zum ersten Mal 1863 in Leipzig in dem von Ferdinand Lasalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, die erste gesamtdeutsch orientierte Arbeiterpartei. Ausschlaggebend für die Gründung waren die miserablen Existenzbedingungen der Arbeiter sowie ihre wirtschaftliche und politische Perspektivlosigkeit. Die ersten lokalen Sektionen des ADAV befanden sich neben Leipzig in Hamburg, Düsseldorf, Solingen, Köln, Wuppertal, also vorwiegend im Rhein-Ruhr Gebiet. Der ADAV entstand in Abgrenzung zu bereits bestehenden Arbeiterorganisationen, den sogenannten Arbeiter-Bildungsvereinen, die auf liberale politische Vorstellungen des Bürgertums ausgerichtet waren. Die Grundlage des Programms der ADAV hingegen proklamierte gemäß dem „Arbeiterprogramm Lassalles den Aufbau von gemeinsam durch die Arbeiter geführten Betrieben. Zu diesen Genossenschaften gehörte laut Lassalle eine selbstständige Organisierung. Das „Arbeiterprogramm rief die Arbeiter in Anlehnung an das „Manifest der Kommunistischen Partei" von Karl Marx dazu auf, sich in eigenen Organisationen zusammenzuschließen. Doch im Gegensatz zu marxistischen Idee stand der ADAV nicht in fundamentaler Opposition zur bestehenden staatlichen Ordnung und propagierte nicht den gewaltsamen Sturz der Machtverhältnisse. Allein aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit sollten die Arbeiter in freien Wahlen die Mehrheit der Mandate erreichen und so ihre Forderungen umsetzen. Streiks und gewerkschaftliche Organisierung lehnte Lassalle als ungeeignet für den politischen Kampf ab.

    Außerdem strebte der ADAV ein vereintes Deutschland unter der Führung Preußens und unter Ausschluss Österreich an, was sich nicht nur in Geheimverhandlungen Lassalles mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, sondern 1870 auch in der Zustimmung des ADAV zur preußischen Kriegsanleihe ausdrückte. Die auf den existierenden Staat bauende, pro-preußische Position war einer der Kritikpunkte von Karl Marx und Friedrich Engels an Lassalle. Beide forderten stattdessen den offenen, gewerkschaftlich organisierten Kampf zum Sturz der staatlichen Machtverhältnisse. An dieser Position orientierte sich die 1869 in Eisenach gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP).²¹

    Beide Parteien vereinigten sich 1875 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die sich 1891 in Sozialdemokratische Partei Deutschland (SDP) umbenannte.

    Die berufsspezifischen Versorgungssysteme der Zünfte und Gilden des Bergbaus sind die Vorläufer der heutigen Sozialversicherungen. Urkundlich belegt als erste Zunft in Deutschland ist 1149 die der Bettendeckenweber in Köln.²² Im Mittelalter durfte nicht jeder ein Handwerk ausüben. Der Zugang zu den Handwerkberufen war schwierig, da die Handwerker in Zünften zusammengeschlossen hatten, die streng nach außen abgeschlossen waren. Sie lebten in ihren eigenen Vierteln und folgten eisernen Vorschriften, die von den jeweiligen Zünften genau überwacht wurden. Eine Zunft ist also die Berufs vereinigung der Handwerker und zünftig heißt demzufolge: fachmännisch, sachgemäß.

    Die Zünfte setzen die Löhne fest, versorgten Notleidende und Hinterbliebene der Zunftmitglieder, sie schränkten die Konkurrenz ein und sicherten dadurch ihren Mitgliedern ein gutes Einkommen. Sie kontrollierten auch die Qualität der Waren. Die Zünfte erzogen ihre Mitglieder (Lehrlinge) zu guten Bürgern, sie behinderten aber auch die freie Entfaltung, gaben jedem aber ein Gefühl der Geborgenheit.²³ Die Zünfte begrenzten die Zahl der Lehrlinge, Gesellen und Meister und überwachten die Ausbildung des Nachwuchses. Sie setzten die Mindestpreise fest sowie die Ladenöffnungszeiten, sie regelten die Arbeitszeit und sie erhoben Strafen bei der Übertretung der Gesetze. Die Zünfte hatten ein Monopol ihres Gewerbes in ihren Städten. Sie bauten Gemeinschaftshäuser für ihre Mitglieder, dort wurden alte und kranke Mitglieder versorgt. Sie bewachten die Stadt und versuchten auch bei der Regierung ihrer Städte mitzuwirken. Die Zunftmitglieder feierten zusammen Familienfeste sowie Feste aller Art. Anschaulich und sehr lebendig berichtet Günther Thömmes in seinem Buch „Der Bierzauberer"²⁴ über das Leben und Treiben einschließlich der Intrigen in Klöstern, wo ursprünglich das Bier gebraut wurde und später auch in den Zünften.

    Es gab allerdings auch Handwerker außerhalb der Zünfte, die Handwerker des „Freien Gewerbes", die es jedoch wirtschaftlich sehr viel schwerer hatten und nicht rechtlich geschützt waren. Außerdem wurden von den Handwerkern der Zünfte verachtet. Zeichnete sich jedoch ein Handwerker des Freien Gewerbes durch besonderes Können oder herausragende wirtschaftliche Leistungen aus, konnten sie von der Obrigkeit den Status des Freimeisters erhalten und dadurch stieg ihre gesellschaftliche Achtung.

    Auf gesellschaftlicher Basis auch durch das Wirken der Zünfte, der traditionellen Handwerker Organisation, entwickelte sich dann im 19. Jahrhundert die Wertvorstellungen der neuen Industriearbeiterklasse. So sah sich aufgrund der starken Arbeiterbewegung in Deutschland und des wachsenden Einflusses der Sozialdemokratie Kaiser Wilhelm I. auf Anraten des ja konservativen Reichskanzlers Otto von Bismarck veranlasst, dem Reichstag vorzutragen, Gesetze zur finanziellen Absicherung der Arbeiter gegen Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter zu beschließen. Er sandte daher zur Eröffnung des deutschen Reichstages im November 1881 eine auf Bismarck zurückgehende kaiserliche Botschaft. So verabschiedete der Reichstag in den folgenden Sitzungsperioden verschiedene Gesetze zur sozialen Sicherung. Das Deutsche Kaiserreich war damit weltweit der Vorreiter beim Aufbau von staatlichen Sozialsystemen. Auch die Kinderarbeit in der Industrie wurde staatlich kontrolliert.

    Kinderarbeit war schon vor der industriellen Revolution in der Landwirtschaft üblich. Während der industriellen Revolution nahm sie aber erschreckende Formen an: Kinder ab 4 Jahren (meistens ab 8 Jahren) mussten bis zu 14 Stunden pro Tag arbeiten. In manchen Betrieben mussten die Arbeiter wie die Kinder bis zu 36 Stunden hintereinander arbeiten. Die Kinder mussten in Kohlen- und Eisenbergwerken unter Tag arbeiten. Dort hatten sie oft in Stollen zu kriechen, die für ausgewachsene Personen zu eng waren.

    Einsichtige Politiker versuchten bald die Kinderarbeit gesetzlich einzuschränken. 1833 wurden in England trotz starken Widerstandes der Fabrikbesitzer erste Kinderschutzgesetze erlassen. Die Kinder durften in Textilfabriken erst ab dem 9. Lebensjahr arbeiten. In Deutschland durften Kinder zu dieser Zeit ab 12 Jahren täglich 6 Stunden arbeiten.

    Bismarck als Vertreter des Adels und der Groß-Bourgeoisie hoffte so, durch die ersten Sozialgesetze, sich bei den von ihm anderseits massiv unterdrückten organisierten Arbeitern (Sozialistengesetze) Unterstützung zu schaffen.

    Deutschland war also zu Kaisers Zeiten weltweit führend in der Industrialisierung, Forschung und Wissenschaft, Luft- und Flugverkehr, Rechtsstellung der Frau sowie die Sozialgesetzgebung.

    Für die Menschen, die in diesem kreativen und höchst innovativen Zeitalter lebten, stellte sich die Welt buchstäblich in einer ungeheuren Geschwindigkeit auf den Kopf. Alle Veränderungen, die auf die Menschen herein prasselten, mussten sowohl vom Einzelnen als auch von der Politik und ihren Gremien und damit der gesamten Kultur und Gesellschaft verarbeitet und umgesetzt werden. Die neuen Industrien verlangten nach neuen Fähigkeiten und schufen neue Berufe. Handwerk hatte zu dieser Zeit tatsächlich goldenen Boden. In 25 Jahren verdoppelte sich die Zahl der Industriearbeiter. Es konnte überall Arbeit gefunden werden. Es wurden Mustersiedlungen gebaut, neue Fabriken schossen wie Pilze aus dem Boden. Die Bauern verkauften ihr Land in der Regel für einen Spottpreis, investierten aber oft ihr Geld in städtische Reihenhäuser²⁵ oder auch in Doppelhäuser und vermieteten die andere Hälfte. Oft mussten sich 6 Familien eine Haushälfte von 115qm teilen.²⁶ Ein der Parolen des Kaisers war: „Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser." Und so wurde nicht nur die Kriegsmarine ausgebaut, sondern vor allem auch die Binnenschifffahrt erlebte spektakuläre Fortschritte. Kanäle wurden gebaut, die die Flüsse verbinden, wie z.B. der Dortmund-Ems-Kanal. Das Schiffshebewerk Dortmund war ein riesiges Wagnis aber ebenso ein weltweites Ereignis welches ebenfalls den deutschen Weltruf festigen sollte. Die deutschen Firmen gingen auf Weltmessen, um sich zu präsentieren. 1902 war in Düsseldorf eine solche Weltmesse, die nicht nur technische Innovatoren aus aller Welt anzog, sondern vor allem auch 5 Millionen Besucher und den Ruf der Stadt als internationale Messestadt festigte.²⁷ Damals kleine Firmen wie Siemens und AEG wurden in kürzester Zeit zu Großkonzernen.

    Der Einzelne musste aber seine eigene Balance in diesen turbulenten Zeiten finden.

    Die mit der Mobilität und Veränderung in ausnahmslos allen Bereichen des Lebens zusammenhängende Entwurzelung vieler, die ihr eigenes Gleichgewicht nicht finden konnten, hinterließ trotz aller Fortschritte große soziale Probleme. Es war zwar leichter als zu früheren Zeiten gesellschaftlich aufzusteigen und ein besseres Leben zu führen, der soziale Abstieg konnte aber gleichermaßen rapide von sich gehen, wenn der „Normalfall" sich nicht aufrecht erhalten ließ, wie durch Krankheit, Unfall etc. Aufgrund der großen Mobilität waren die Familien auseinandergerissen, so das Kranke und damit auch arme Menschen oft alleine und völlig vereinsamt waren. Die neue Freiheit hatte seinen Preis und kam einher mit einer massiven Unterdrückung seitens der Obrigkeit und des Militärs. Somit waren die gesellschaftlichen Widersprüche trotz oder gerade aufgrund des rasanten Wandels enorm. Es wurden somit sehr hohe Ansprüche der Anpassung und der Flexibilität an den einzelnen sowie an die Gesellschaft als Ganzes gestellt.

    In den nächsten Kapiteln werden kurz die einzelnen politischen Epochen zusammenfassend mit ihren Widersprüchen vorgestellt, um den LeserInnen einen Rahmen zu geben, so das:

      einmal die Ereignisse im Leben unserer Alltagshelden besser eingeordnet werden können und

      zum anderen ein besseres Verständnis für das Bewusstsein dieser Zeit und der in ihr lebenden Menschen gefördert wird

      dem Leser ein zusammenhängendes Bild über der geschichtlichen Epochen der letzten 130 Jahre vorzustellen.

    ¹³ Bald Detlef (Hrsg): ‚Wider die Kriegsmaschinerie‘, Kriegserfahrungen und Motive der „Weißen Rose", Essen 2005

    Tuchel Johannes: Der vergessene Widerstand. Zur Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS Diktatur. Göttingen 2005

    ¹⁴ Wette, Wolfram: Retter in Uniform. Handlungsspielräume im Vernichtungskrieg der Wehrmacht. Frankfurt am Main 2002,

    Wette Wolfram: Zivilcourage. Empörte, Helfer und Retter aus Wehrmacht, Polizei und SS. Frankfurt am Main 2004

    Wette Wolfram: Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkrieges. Freiburg/Breisgau 2005

    ¹⁵ Tuchler Johannes: Der vergessene Widerstand. Zu Realgeschichte und Wahrnehmung des Kampfes gegen die NS-Diktatur (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte; Göttingen 2005 Gedenkstätte Dachau: www.kz-gedenkstaette-dachau.de Gedenkstätte Berlin: www.gdw-berlin.de

    ¹⁶ Es weint keiner mehr Video der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus, 27.1.2005, http://www.bundestag.de/Mediathek/index.jsp?action=se-arch&ids=1505542&instance=m187&mask=search&contentArea=details Das Video mit den beiden herausragenden Reden von Lustiger und Biermann kann heruntergeladen werden!

    ¹⁷ de.wikipedia.org/wiki/Arno_Lustiger

    ¹⁸ WDR: Vor 100 Jahren, Sendung 19.7.2013

    ¹⁹ WDR: Vor hundert Jahren, Dokumentation 19.7.2013

    ²⁰ http://de.wikipedia.org/wiki/Sternwarte#Neuzeit.

    ²¹ Deutsches Museum: http://www.dhm.de/lemo/html/kaiserreich/innenpolitik/adav/index.html

    ²² http://de.wikipedia.org/wiki/Zunft

    ²³ http://www.deutschland-im-mittelalter.de/zuenfte.php

    ²⁴ Thömmes Günther: Der Bierzauberer, 2008

    ²⁵ WDR: Vor hundert Jahren, Dokumentation, 19.7.2013

    ²⁶ Siehe da

    ²⁷ Die erste internationale Messe fand 1811 in Düsseldorf statt.

    TEIL EINS

    Der Weg zum Faschismus -

    eine kleine geschichtliche Einführung

    Das Kaiserreich 1871 – 1918

    Die Gründung eines deutschen Nationalstaates war ein wesentliches Ziel der bürgerlichen Emanzipation des 19. Jahrhunderts. Das Deutsche Reich von 1871 – 1918, als Kaiserreich bekannt, war ein Bündnis deutscher Fürsten sowie der freien Reichsstädte. Es wurde 1871 in Versaille als konstitutionelle Monarchie mit der Proklamierung des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser gegründet. Vorangegangen war der Sieg des Norddeutschen Bundes und der mit ihm verbündeten süddeutschen Staaten im Deutsch-Französischen Krieg. So entstand erstmalig ein deutscher Nationalstaat und unter der Herrschaft der preußischen Hohenzollern.

    Der Kaiser und sein Reichskanzler Bismarck hielten gemeinsam den absolutistischen Obrigkeitsstaat, ein Fürstenbund fest in der Hand und kontrollierten Militär, Verwaltung sowie die politische Kultur. Die Fürsten- und Adelsherrschaft in Verbindung mit dem vorherrschenden Militarismus stand dabei in krassem Widerspruch zu der Volksgesellschaft, die, wie wir gesehen haben, sich aufgrund der Industrialisierung rapide wandelte und modernisierte. Innerhalb des neuen Staates standen der Obrigkeit starke Kräfte gegenüber: die starke Arbeiterbewegung, die Sozialdemokratie sowie der Katholizismus. Außerdem stand das Rheinland traditionell den Preußen sehr kritisch gegenüber. Es hatte sich in der Geschichte mehrfach mit den Franzosen gegen die Preußen zusammengeschlossen. Als Napoleon 1801 das linksrheinische Rheinland besetzte, waren die Rheinländer erleichtert die Vorherrschaft der Preußen losgeworden zu sein. Zahlreiche deutsche Fürsten schlossen sich 1806 auf Initiative von Napoleon zum Rheinbund zusammen und akzeptierten so die Vorherrschaft der Franzosen. Daraufhin legte Kaiser Franz in Wien die Reichskrone nieder, denn Fürsten ihm die Gefolgschaft gekündigt und so wurde 1806 das Heilige Römische Reich Deutscher Nation beendet.

    Die Französische Revolution begeisterte viele Deutsche und die dortige Entwicklung wurde in den deutschen Kleinstaaten mit größtem Interesse verfolgt. So brachten die französischen Eroberer frischen Wind von Aufklärung und Aufbruch, von Fortschritt und Modernität in die erstarrten deutschen Verhältnisse. In der napoleonischen Besetzung wurde eine Reihe von notwendigen Reformen in Deutschland durchgeführt. Unterstützt wurden diese Reformen von adeligen Politikern wie Karl vom und zum Stein, Karl August von Hardenberg, Wilhelm von Humboldt, Gerhardt von Scharnhorst und August Neidhardt von Gneisenau. Bei den Preußen bildete sich unter der französischen Besatzung ein starkes Nationalbewusstsein gegen die Franzosen.

    Die Rheinländer, die die Franzosen ja unterstützen, wussten aber auch, dass sie keine Franzosen, sondern eben Deutsche waren und ein deutscher Nationalstaat war auch ihnen sehr erstrebenswert. So stimmten sie zähneknirschend der Vorherrschaft der Preußen im neuen deutschen Reich, dem Kaiserreich von 1871, zu. Ein emotionaler Widerstand gegen die Preußen und die typisch preußischen Tugenden ist auch heute noch im Rheinland, aber auch in den süddeutschen Landgebieten, besonders in (Königreich) Bayern, zu spüren.

    Durch Bismarcks von „Blut und Eisen"²⁸ geprägte Kriegspolitik erlangte Preußen die unangefochtene Vormachtstellung in Kontinentaleuropa. Bismarck wurde so zum Volkshelden, zum Gründervater und zum ersten Kanzler eines Deutschen Reiches. Sein Name steht für Einigung der Deutschen, Aufbau eines starken Deutschlands sowie für soziale Reformen aber auch für seinen Kampf gegen die Sozialisten und die katholische Kirche.

    In der deutschen Geschichte spielt das Kaiserreich insofern eine besondere Rolle, da es lange Zeit als Höhepunkt der deutschen Nationalgeschichte gesehen und somit idealisiert wurde. Der in dieser Zeit vorherrschende Militarismus wurde dabei gerne beiseite geschoben. Erst in den 70ger Jahren des letzten Jahrhunderts begann eine neue Generation von jungen deutschen Historikern nicht nur die Weimarer Republik sondern vor allem auch das Kaiserreich zu hinterfragen und als Vorbereitung zum Nationalsozialismus zu sehen.

    Das Militär spielte im Kaiserreich eine entscheidende Rolle und der Kaiser ließ sich vom Militär leiten. Der Kaiser hatte einen verkrüppelten Arm. Behinderungen und Krüppel hatten zu seiner Zeit ein harsches Schicksal zu erleiden und waren immer Außenseiter. So auch der Kaiser. Er überdeckte seine Schwäche mit besonders forschem Verhalten und das Militär bot ihm die Macht, die als »Schwächling« brauchte, um sich selber anerkennen zu können. Die Beeinflussung des Militärs auf den Kaiser war so groß, dass der englische König Edward VII. befürchtete, dass sein Neffe Wilhelm II, der deutsche Kaiser und König von Preußen, aus Schwäche einen Krieg unter der Beeinflussung des Militärs beginnen könnte. Auch Philipp von Eulenburg, ein enger Berater Wilhelm II äußerte sich besorgt um den Einfluss des Militärs: „Man ist zu der Überzeugung gekommen, dass der Kaiser sich absolut von seiner militärischen Umgebung leiten lässt." Die Stellung des Militärs war weder in der Verfassung geregelt, noch wurde es vom Reichstag kontrolliert. Personen seines Vertrauens, seinen Adjutanten gab er leitende Positionen innerhalb des Militärs.

    Eine solche Vorherrschaft des Militärs wie im Kaiserreich hatte es in den anderen europäischen Staaten in dieser Art nicht gegeben. In Frankreich hatte das Militär immer wieder Kriege verloren und in England gab es nach Charles I eine Militärherrschaft unter Oliver Cromwell, doch diese endete 1648. In den Jahrhunderten danach bekam das Militär in England nie wieder die Bedeutung wie unter Cromwell, denn in England gab es nie wieder ein stehendes Heer. England drückte seine militärische Macht in seinem weltweiten Empire aus, nicht innerhalb des Landes.

    Aber trotzdem hatten auch innerhalb von Europa militärische Denkweisen einen großen Einfluss auf den Alltag: Militärspielzeug, Marine-Schuluniformen, der Kadettenkorps, das war für die Jungen völlig normal, denn drückte dies doch die Liebe zum Vaterland aus.

    Insgesamt spielte der Militarismus international doch eine große Rolle. Die folgende Grafik zeigt das Wachstum der Truppen- und Flotten der Großmächte von 1880 – 1914.

    Truppen- und Flottenstärke der Mächte 1816-1914 (in Tsd.)²⁹

    Die folgende Grafik auch von John Kennedy zeigt die Anzahl der Kriegsschifftonnagen der Länder.

    Der US-Oberst House schrieb am 29.5.1914 an Präsident Wilson: „Die Lage ist ungewöhnlich. Es herrscht der völlig toll gewordene Militarismus. Wenn nicht jemand … handelt, … so wird es eines Tages zu einer fürchterlichen Katastrophe kommen. … Wenn England jemals damit einverstanden ist, werden Frankreich und Russland über Deutschland und Österreich herfallen. England möchte Deutschland nicht gänzlich zerschmettert sehen, denn es hätte dann mit seinem alten Freund Russland zu rechnen; aber wenn Deutschland auf einer überwältigenden Flotte besteht, wird England keine Wahl haben."

    Hans-Ulrich Wehler betrachtete in seinem 1973 erschienenen Buch „Das Deutsche Kaiserreich die Geschichte des Kaiserreichs unter einem neuen Blickwinkel. In seiner Analyse untersucht er, wie der neue deutsche Nationalstaat, basierend auf der gescheiterten Revolution von 1948 absolutistisch „von oben geführt, von Monarchie, Adel, Militär und Bürokratie kontrolliert, eine liberale Revolution, „von unten und damit neue aufbauende Entwicklungsformen kontrolliert und somit behindert habe. Den „alten Eliten aus vorindustrieller Zeit gelang es deshalb das Deutungsmuster, durch eine Mischung aus integrativen und manipulativen Herrschaftstechniken ihre überkommene Herrenstellung gegen alle Modernisierungstendenzen zu verteidigen."³⁰ Somit spitzten sich die sozialen Kluften innerhalb des Reiches dramatisch zu: auf der einen Seite vor-industrielle Herrschaftsautoritäten die im eklatanten Gegensatz zu den auf der anderen Seite sich rapide entwickelnden dynamischen Basisprozessen einer sich in hoher Geschwindigkeit industrialisierenden und modernisierenden Gesellschaft stand. Dieser beschleunigte Wandel erschütterte viele Menschen in ihrer Identität zutiefst, denn er entfremdete sie nicht nur von ihren gesellschaftlichen und sozialen Wurzeln, sondern verlangte nach neuen Weltbildern, löste traditionelle Wertvorstellungen auf und neue mussten gesucht werden.

    Bismarck versuchte diese rapiden Basisprozesse zu kontrollieren und erließ deshalb 1878, also sieben Jahre nach der Gründung des neuen deutschen Nationalstaates die Sozialistengesetze gegen die „gemeingefährlichen" Bestrebungen der Sozialdemokratie. Das Gesetz verbot alle sozialistische und sozialdemokratische Organisationen sowie deren Aktivitäten im Deutschen Reich. Es kam damit einem Parteiverbot gleich. Es galt bis 1890! Verstöße gegen das Gesetz wurden mit Geldstrafen und mit Gefängnis bestraft! Viele der Führer der Arbeiterbewegung setzten sich aufgrund des politischen Druckes ins Ausland ab.

    Bismarck war monarchisch eingestellt und somit demokratischen Bewegungen gegenüber ablehnend. Die Führer der noch jungen Gewerkschaftsbewegung August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren wegen ihrer Opposition gegen den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und ihrer Solidarität mit der revolutionären Pariser Kommune von 1871 bereits 1872 beim Leipziger Hochverratsprozess zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt worden. Sozialdemokraten und Sozialisten galten von nun als Reichsfeinde und mussten, um die absolutistische Monarchie nicht zu gefährden, ausgerottet werden.

    Bismarcks Rechnung, die Stimmen der Sozialdemokraten bei der Reichstagswahl deutlich zu vermindern ging jedoch nicht auf. Hatten die Sozialdemokraten 1881 nur 311.961 Stimmen erhalten, waren es 1884 bereits 549.990, 1887 schon 763.128 Stimmen³¹, 1890 sogar 1.427.000 Stimmen. Mit letzterem Ergebnis wurde die SAP, noch vor ihrer Umbenennung in SPD, zum ersten Mal die wählerstärkste Partei des Reiches.³² Trotz Unterdrückung im eigenen Lande war die sozialistische deutsche Arbeiterbewegung international zur weltweit einflussreichsten Bewegung geworden. Bei der Gründung der Sozialistische Internationale 1889 in Paris war die sozialistische Bewegung aus dem Deutschen Reich mit 85 der 400 Delegierten aus 20 Staaten am Gründungskongress dieser Zweiten Internationale vom 14. bis 20. Juli 1889 beteiligt - unter ihnen neben August Bebel und Eduard Bernstein auch Carl Legien als ein Vertreter der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Mit Clara Zetkin war eine Vertreterin der sozialistischen Frauenbewegung vertreten, die zu jener Zeit jedoch Exilantin in Paris war. Liebknecht leitete die deutsche Delegation und war zusammen mit dem französischen Sozialisten Vaillant Vorsitzender des Kongresses.

    1890 wurde eine weitere Gültigkeit des Sozialistengesetzes im Deutschen Reichstag abgelehnt. Ursache der Ablehnung war das die Vertreter der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) die skrupellosen Machenschaften der politischen Parteien vor dem Parlament enthüllten.

    Im Kampf gegen die Kirchen, vor allem aber gegen den Katholizismus und dessen Oberhaupt Papst Pius IX, führte Bismarck im Rahmen seines Kulturkampfes die Trennung von Staat und Kirche herbeizuführen, schon 1878 die Zivilehe verpflichtend ein. In den von Frankreich besetzten Gebieten, wie z.B. im Rheinland, wurde die Zivilehe schon 1794 eingeführt.

    Im Kaiserreich war der vorherrschende Sport das Turnen, sowie Fechten, Schwimmen und Wandern, basierend auf Turnvater Jahn mit dem Wahlspruch der Bewegung: Frisch, fromm, fröhlich, frei! Jahn war ein Verfechter des Preußentums. Er war in der preußischen Armee als Kurier und kämpfte für die Einheit Deutschland sowie gegen alles Ausländische. Er gründete einen geheimen Deutschen Bund zur Befreiung und Einging von Deutschland, vor allem zur Befreiung von der napoleonischen Herrschaft.

    Im Kaiserreich war es allgemein üblich Regelverstöße mit Körperstrafen zu ahnden. Die Tatze, das Schlagen mit dem Rohrstock auf die Hände war nicht nur in den Schulen allgemein üblich. Davon berichten alle, deren Lebensgeschichten dieses Buch umfasst, dass regelmäßig geschlagen wurde. Hier ein Auszug aus Wikipedia zum Thema Körperstrafen. Man beachte wann sie offiziell in Deutschland abgeschafft wurden!!

    „Eine Körperstrafe ist eine Strafe, die körperlich erfahrbar ist und meist in der Form von Schlägen mit der Hand oder einem Gegenstand (oft dementsprechend benannt, zum Beispiel Auspeitschen, Stockschläge) verabreicht wird, dies wird dann auch als körperliche Züchtigung oder Prügelstrafe bezeichnet. Der ältere Ausdruck Leibesstrafen umfasste auch das Abschlagen von Gliedmaßen (besonders Händen, Ohren, Nase), die Blendung, das Brandmarken, das Stäupen, das Abscheren von Haar (bei Frauen) und Bart (bei Männern), das öffentliche Anprangern (zum Beispiel das öffentliche Schließen in den Block).

    Körperstrafen werden unter anderem … in der Kindererziehung angewendet, in der Vergangenheit auch zur Disziplinierung von Sklaven, Leibeigenen, Ehefrauen, Lehrlingen, im Militär, in Klöstern, Gefängnissen, Ausbildungseinrichtungen, Heimen und einer Vielfalt weiterer Institutionen und Lebensbereiche. Anwendung und gesetzliche Zulässigkeit – sowohl im pädagogischen wie auch juristischen Bereich – haben sich im Lauf der Zeit stark gewandelt und immer eine starke Abhängigkeit von den jeweils herrschenden sozialen Normen gezeigt. Zu den heute allgemein gesetzlich unzulässigen Körperstrafen gehören alle Formen, die unter den Begriff der Folter fallen.

    In Deutschland und Österreich sind Körperstrafen verboten. Das Züchtigungsrecht des Ehemannes gegenüber seiner Frau wurde in Deutschland 1928 abgeschafft. Das Züchtigungsrecht der Eltern gegenüber ihren Kindern wurde

      in Österreich stufenweise zwischen 1975 und 1989 abgeschafft und

      in Deutschland im Jahr 2000 (durch eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB)) ersatzlos abgeschafft: durch die Verschärfung des § 1631 BGB („Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung) haben Kinder das ausdrückliche „Recht auf gewaltfreie Erziehung: „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig".³³

    Im Kaiserreich wird Konrad Koch 1874, der einige Jahre in England verbracht hatte, als Englischlehrer im Braunschweiger Martino-Katharineum, eingestellt. Das Gymnasium war damals eines der fortschrittlichsten im Kaiserreich. Der bekannte deutsche Dichter Heinrich Hoffmann von Fallersleben wurde dort ausgebildet sowie der Mathematiker Carl Friedrich Gauß. Im Zuge der Industrialisierung wuchsen die Städte und die Industrie verlangte nach Arbeitskräften mit kaufmännischen als auch mathematisch-technischen Qualifikationen. Menschen, die sich auch in einer zunehmend internationalen Wirtschaftswelt zurecht finden konnten, waren gefragt. Der Förderverein des Gymnasiums hatte sich für das Experiment Englischunterricht ausgesprochen und Koch galt als der Pionier das Projekt umzusetzen, auch sein Vater war vorher Lehrer an diesem Gymnasium. Koch hatte einige Jahre in England gelebt und studiert.

    Nur 5% der Bevölkerung konnte damals das Gymnasium besuchen. Disziplin, Ehrgeiz, Gehorsam und natürlich Kaisertreue waren die Grundpfosten des Schulsystems insgesamt, nach dem Motto: im Gleichschritt zum Turnen.

    Konrad Koch verpönte das damals übliche Bestrafen mit dem Stock auf den Händen (die Tatze) und wurde deshalb von den sehr disziplinierten preußischen Schülern als „Weichei beschimpft. Ein Lehrer, der nicht schlägt, galt als schwach bei den (ausschließlich männlichen) Gymnasiasten. Daraufhin spielte Koch mit ihnen in englischer Sprache Fußball, ein Spiel das er in England kennengelernt hatte. Dem Lehrer Koch ging es vor allem ethische Tugenden wie Mannschaftsgeist, Fairplay, Respekt vor dem anderen sowie, zu lernen für die eigenen Interessen gerade stehen. Konflikte sollten durch Aussprachen und NICHT durch körperliche Bestrafung geregelt werden. Auch wollte er dem damals allgemeinen Bewegungsmangel der Schüler entgegenwirken. So setzt er bei Konflikten Besprechungen an, um gemeinsam Lösungsansätze zu finden. Die Schüler waren bald ganz begeistert, das konservativ kaisertreue Lehrerkollegium packte jedoch das kalte Grauen. Für sie war das Spiel anarchistisch, undeutsch, wider die Natur und musste als teuflisch sofort verboten werden. Die kaiserliche Hymne „Heil Dir im Siegerkranz wurde täglich gesungen und die Ideale der kaiserlichen Schulordnung waren an der „Blut und Eisen" Ideologie Bismarcks ausgerichtet. Widerspruch in der Klasse galt als Majestätsbeleidigung und wurde mit Stockschlägen (Tatzen) bestraft.

    Lehrer Koch wird entlassen. Die Schüler solidarisieren sich mit ihm, das wird wiederum als Hochverrat betrachtet, das Experiment ist gescheitert, der Lehrer muss gehen und so auch einige Schüler, vor allem aber die armen Schüler, den deren Eltern haben kein Geld sich irgendwie wieder frei zu kaufen. Doch dann taucht unverhoffter Weise eine von Koch noch vor dem offenen Konflikt eingeladene englische Schulklasse auf, um ein Fußballspiel im Park zu spielen. Die zur gleichen Zeit erscheinende kaiserliche Delegation, die den Konflikt begutachten soll, schaut dem Spiel zu. Auch sie sind entsetzt über das Spiel, halten es zunächst für anarchisch und ein Ausdruck der berühmten englischen Krankheit. Als die deutschen Jungen dann aber ein Tor nach dem anderen schießen und das Spiel gewinnen, lässt sich auch die kaiserlich linientreue Delegation mitreißen und jubelt dann begeistert mit den deutschen Gewinnern. Und so wurde 1874 der 1. deutsche Fußballklub in Braunschweig gegründet.³⁴ Aber noch lange wurde der Fußball als Fußlümmelei und englische Krankheit bezeichnet und in Darmstadt z.B. noch 1878 als „blutiges Spiel" verboten.

    In der Schweiz war das Spiel schon 1860 von Engländern, die in der Schweiz lebten, eingeführt worden. In Deutschland fand 1893 die Gründung des Arbeiter Turnerbundes (ATB) statt und in einigen Städten wurde dann auch Fußball gespielt. 1900 wurde der Deutsche Fußball Bund (DFB) gegründet und im selben Jahr wird Fußball olympisch. 1904 wird in der Paris FIFA (Federation Internationale de Football Association) gegründet. Die Fußballbegriffe wie Angriff, Abwehr, Flanke, Deckung und Parade kommen direkt aus dem Militärischen sowie der ideale Fußballer dem Bild des damaligen modernen Soldaten entsprach: pflichtbewusst, treu, hart kämpfend und selbstständig.

    Auch in der Medizin herrschen militärische Begriffe (diese übrigens noch bis zur Jahrtausendwende des Jahres 2000): Bakterien und Viren sind die Angreifer, es wird von einer bakteriellen Invasion gesprochen, das Immunsystem ist die Streitmacht gegen diese Angreifer, die weißen Blutkörperchen werden rekrutiert, es wird von Großalarm gesprochen, bei Krebs desertieren die Zellen, die Helfer Zellen sind die Verstärkung, etc. etc.³⁵

    Nur Frauen der oberen gesellschaftlichen Schichten hatten im Kaiserreich Zugang zu Bildung und Ausbildung. Das zu zahlende Schuldgeld schloss ärmere Kinder sowieso von einer höheren Schulbildung aus. Sozialer Aufstieg war nicht vorgesehen. Mit 12 Jahren durfte schon in der Industrie gearbeitet werden und mit 14 Jahren gingen alle männlichen Jugendlichen in die Produktion. Nur, wenn es sich die Familie leisten konnte, wurde eine Ausbildung gemacht, ansonsten blieben sie ungelernte Arbeiter. Frauen der unteren Schichten hatten i.d.R. keinerlei Ausbildung. Von ihnen wurde ohnehin erwartet, dass sie nach der Hochzeit zu Hause blieben und Kinder sowie Familie betreuten. Die Familie zusammen zuhalten war eins der höchsten deutschen Werte des Kaiserreichs.

    Aufgrund der Industrialisierung und der Entwicklung eines öffentlichen und privaten Dienstleistungssektors wuchsen die Anforderungen an die schulische Bildung und somit auch die Nachfrage an Lehrkräften. Auch für Mädchen der unteren und mittleren Klassen war die Schulbildung mit 14 Jahren abgeschlossen. Sie waren bis auf wenige Ausnahmen von Abitur und Hochschulstudium ausgeschlossen. Die Hürden, um z.B. Lehrerin zu werden waren ungleich höher als für die Jungen. Sie konnten nur in einem 3-jährigen Lehrerinnenseminar zur Volksschullehrerin ausgebildet werden und damit waren sie von vornherein schlechter bezahlt und hatten ein deutlich geringeres Ansehen und auch sie mussten nach der Hochzeit den Beruf aufgeben. Viele Frauen ergriffen jedoch den Beruf der Lehrerin, denn er entsprach genau ihren Vorstellungen von der Kulturaufgabe der Frau. Der 1890 gegründete allgemeine deutsche Lehrerinnenverein war 1913 mit 32000 Mitgliedern der größte weibliche Berufsverband. Es waren aber fast ausschließlich nur Mädchen aus den mittleren bis oberen Gesellschaftsschichten, die diese Ausbildung auch bezahlen konnten.

    „Der Staat ist männlich", so lautete der Wahlspruch viele Frauenorganisationen des späten 20. Jahrhunderts, denn es galt sich gegen die männliche Dominanz der Ideale des Kaiserreichs durchzusetzen. Die Frauen Emanzipation wurde demzufolge auch heftig bekämpft. Bevor Frauen zu Universitäten Zugang hatten, wurde heftig darüber gestritten, ob Frauen von ihrer geistigen Leistungsfähigkeit und körperlichen Verfassung her überhaupt für ein Studium geeignet wären. Um1900 voran war Berlin, stand den Frauen im Kaiserreich jedoch der Zugang zum Abitur und damit das Studium offen. Im internationalen Vergleich war Deutschland jedoch ein Spätzünder:

    An der Universität Zürich konnten bereits 1840 erste Hörerinnen die Hochschule besuchen, sich seit 1863 einschreiben, so die Schriftstellerin Ricarda Huch, die sich 1892 in Zürich mit einer historischen Arbeit promovierte. 1849 wurde das erste Frauencollege der Universität London gegründet, und zwischen 1870 und 1894 wurde in fast ganz Europa das Frauenstudium eingeführt. Nur Preußen sowie ÖsterreichUngarn bildeten die Nachzügler.

    In Holland wurden die Frauen zum Universitätsstudium in allen Fakultäten zugelassen; besondere Gesetze waren dafür nicht vorhanden." In Italien sind den Frauen durch ein Universitäts-Reglement vom 8. Oktober 1876 alle Universitäten eröffnet. Seit dem Jahre 1894 werden auch in der Türkei die Frauen zum Studium zugelassen. Diese Zulassung beschränkt sich jedoch vorläufig nur auf die medizinische Fakultät.

    „Infolge eines seinerzeit viel besprochenen königlichen Dekrets wurde auch in Ungarn, und zwar erst im Jahre 1895, den Frauen die medizinische und philosophische Fakultät eröffnet. Zudem ist in jedem Einzelfall noch die besondere Erlaubnis des Unterrichtsministers einzuholen."

    International gesehen war diese Zeit ebenfalls ein Pulverfass. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Großmächte international weite Teile Afrika und Asiens besetzt und sie zu ihrem wirtschaftlichen und politischen Einflussgebiet gemacht, d.h. sie wirtschaftlich und politisch unterworfen. Dieser Imperialismus und die Machtkämpfe um die Aufteilung der Welt hatte schon öfter zu militärischen Konflikten geführt. Es bestanden komplizierte Bündnissysteme zwischen den europäischen Ländern. Auf der einen Seite gab es den Dreibund, genannt „Entente", bestehend aus England, Frankreich und Russland und auf der anderen Seiten den Bund zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien. Österreich nutzte den abnehmenden Einfluss des Osmanischen Reiches und gliederte 1908 Bosnien sowie Herzegowina in sein Territorium ein. Russland war ebenso am Balkan interessiert, es wollte einen die Meeresengen Bosporus und die Darnellen beherrschen, um einen Zugang zum Mittelmeer zu haben und geriet so in einen Konflikt mit Österreich.

    Am 28.7.1914 wurde in Sarajevo, dem Regierungssitz von Bosnien, der Thronfolger von Österreich-Ungarn Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie Chotek, Herzogin von Hohenberg bei einem Besuch in der Stadt von Gavrilo Princip, einem Mitglied der bosnisch-serbischen nationalistischen Bewegung ermordet. Das Attentat löste die Juli-Krise aus, die zum Ersten Weltkrieg führte. Im August 1914 befanden sich die Bundmächte Deutschland und Österreich-Ungarn im Krieg gegen die Entente-Staaten. Dieser Krieg fand nicht nur auf den Schlachtfeldern in Europa sowie den Kolonien und im Nahen Osten, sondern auch auf hoher See und vor allem erstmals an der „Heimatfront" mit zermürbenden Stellungskämpfen sowie gewaltigen Materialschlachten statt. Der Erste Weltkrieg endete im November 1918 mit der militärischen Niederlage Deutschlands.

    Im Ersten Weltkrieg starben weltweit rund neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten.³⁶ Die Bundeszentrale für politische Bildung spricht von insgesamt 10 Millionen Toten, 20 Millionen Verwundete. 1,8 Millionen deutsche Soldaten waren gefallen, 4,2 Millionen verwundet und oftmals verstümmelt und über 600.000 Deutsche befanden sich in Kriegsgefangenschaft.³⁷

    ²⁸ Mit „Blut und Eisen" für Preußens Gloria: 1864 im Kampf gegen die Dänen, 1886 im Bruderkrieg gegen Österreich, 1870/71 gegen die Franzosen aufgrund deren Einmischung im spanischen Erbfolgekrieg. Eisen steht für Gewehr und Blut für Tod, vor allem für tote Soldaten.

    ²⁹ Kennedy Paul: Aufstieg und Fall der großen Mächte. Ökonomischer Wandel und militärischer Konflikt von 1500 bis 2000, Frankfurt/Main: Fischer, 1994, S. 244, 313.

    ³⁰ Bundeszentrale für politische Bildung http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/kaiserreich/138902/einfuehrung

    ³¹ http://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagswahl_1890

    ³² Wikipedia Sozialistengesetz, http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialistengesetz

    ³³ http://de.wikipedia.org/wiki/Körperstrafe

    ³⁴ Der ganz große Traum, 2011, Film mit vielen Auszeichnungen, Regie: Sebastian Grobler

    ³⁵ Muths Christa: Kriegssprache in der Medizin, http://www.treff-raum-espaciotime.com/de/articles/kapitulation.html

    ³⁶ http:www.dm.de/lemo/html/wk1/index.html

    ³⁷ Bundeszentrale für Politische Bildung: Weimarer Republik 2011, S. 11

    Exkurs: Der Erste Weltkrieg

    1914 Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges Die Kriegszeiten

    Vom Ersten Weltkrieg waren alle genannten Personen stark betroffen, entweder als Kinder, durch den Verlust eines oder beider Elternteile, oder aber durch die schweren Verletzungen der Überlebenden und die daraus entstandenen Folgen nach dem Kriege. Damit sich der heutige Leser ein Bild von den damaligen Umständen und Zuständen machen kann, die die Menschen, über die hier berichtet wird, sehr geprägt haben, wird eine Zusammenfassung der damaligen Ereignisse als Exkurs eingefügt.

    Als am 28. Juni bei einem Attentat das ÖsterreichischUngarische Thronfolgerpaar, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie, in Sarajevo umgebracht wurde, diente dieser Mord als Vorwand, um eine Kette von Ereignissen auszulösen, die zum Ersten Weltkrieg führten. Außer Italien befanden sich alle europäischen Großmächte im Kriegszustand. Das furchtbare Attentat hielt vier Monate lang die Gemüter in Aufregung und wurde der Zündstoff zum größten der Kriege, den die Welt bisher erlebt hatte. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich an Serbien den Krieg. Daraufhin machte Russland mobil und Deutschland war als Mitglied des Dreibundes gezwungen, dem Bundesgenossen zur Seite zu stehen. Als dann die Kosaken in Österreich und Ost-Preußen eindrangen, begann der blutige erste Weltkrieg. Dieser forderte einen so hohen Tribut an Blut und Opfern, wie es bislang noch kein Krieg von Deutschland verlangt hatte. Den Großindustriellen war der Krieg willkommen, für sie war die Kriegsund Waffenindustrie ein hervorragender Absatzmarkt.

    Düsseldorf, wo die Familie von Walter Ferdinand lebte, war das Zentrum der Waffenschmiede des Kaiserreichs. Die Konzerne der stahlverarbeitenden Industrie in Düsseldorf (mehrheitlich Rüstungskonzerne) waren Mannesmann, Haniel & Lueg, Rheinmetall, Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb etc., „Vereinigte Stahlwerke", eine Holding, die 40 % der Stahlproduktion und 35 % der Kohleproduktion des Reichs steuerte. Außerdem war die chemische Industrie in Düsseldorf zu Hause. 2/3 der Stahlrohre im Deutschen Reich wurden in Düsseldorf produziert. Düsseldorf war auch Verkehrsknotenpunkt des Ruhrgebiets. Mannesmann produzierte Rohrwalzwerke und Stahlröhren [für Kanonen, nicht für Wasserleitungen!!], verleibte sich die Kohlezechen des Ruhrgebietes ein und baute so einen Montankonzern auf. Mannesmann hatte ein Patent auf nahtlose Stahlröhren und war deshalb führend in der Stahlindustrie der damaligen Zeit. Haniel & Lueg war eine Maschinenfabrik für Kolbenmaschinen im Eisenbahnbau etc. Rheinmetall produzierte Maschinengewehre (MG3) bzw. Panzer und Maschinengewehre.

    Außerdem war Düsseldorf ab Ende des 19. Jh. Garnisonsstadt mit neuen Kasernen im Norden der Stadt.³⁸

    Die Bevölkerung der Länder, vor allem aber in Deutschland, sahen sich stattdessen durch die Knappheit der Lebensmittel einer großen sozialen Not ausgesetzt. Die erste wirtschaftliche Folge des Krieges war schon bald nach der Mobilmachung die Lichtknappheit, da Petroleum, das gängige Beleuchtungsmittel, nicht mehr zu haben war. Futtergetreide für die Tiere wurde knapp und auch das Brot. Noch schlimmer als die Brotknappheit wirkte sich dann aber der Mangel an Fleisch aus. So gab es schon 1914 in vielen Städten ein Schlachtverbot von Kälbern über 75 kg und Rindern unter sieben Jahren. Es wurden Fleischkarten und Butterkarten ausgegeben.

    Das Geschehen an der Westfront Weihnachten 1914 hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck bei allen Beteiligten, es war ein einmaliges Geschehen in einem Krieg. Karoline erinnert sich, dass die Geschichte auch nach dem Krieg 1945 immer wieder von den alten Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg erzählt wurde.

    Die Westfront: Ein bisschen Frieden im Gemetzel Der Weihnachtsfrieden von 1914

    Am Heiligen Abend 1914 verläuft die Westfront über 600 km von der Nordsee bis an die Alpen. Hier stehen sich junge Männer aus England, Frankreich, Deutschland sowie Belgien als Todfeinde gegenüber. Allen war von ihren Regierungen versprochen worden, dass sie Weihnachten wieder zu Hause sein würden.³⁹ Viele Soldaten waren 1914 enthusiastisch in den Krieg gezogen, voller Siegesgewissheit, der Propaganda ihrer Regierungen vertrauend. Die bittere Realität der Schlachten im Spätsommer und Herbst führte zu einer großen Ernüchterung auf allen Seiten. Der geplante Bewegungskrieg war zu einem Grabenkrieg geworden, zu einem Stellungskrieg, bei dem die Fronten aus Schützen- und Laufgräben bestanden. Sie waren rattenverseucht und befanden sich eingebuddelt in Lehm und Sand zwischen Stacheldraht und Minenfeldern. Rund eine Dreiviertel Million Tote hatte der Krieg bis dahin schon gefordert: 160.000 Engländer, 300.000 Franzosen und genauso viele Deutsche. Sie waren von Granaten zerfetzt, von MG Garben durchsiebt oder beim Bajonettangriff von Mann zu Mann aufgespießt worden.

    Weihnachten, das christliches Fest, wird in allen beteiligten Ländern gefeiert und so sind auch viele Weihnachtsliedern, wie „Stille Nacht, Heilige Nacht" international bekannt und werden in vielen Sprachen gesungen.

    Am 24.12. hatten die Weihnachtspäckchen die Soldaten in den Schützengräbern erreicht.

    Jeder Brite erhielt ein Päckchen des Königs mit Süßigkeiten, Tabak, Zigaretten, sowie eine Grußkarte der Prinzessin Mary. Die Deutschen bekamen zu Weihnachten aus öffentlichen Mitteln gestiftete Geschenke von ihren Heimatgemeinden sowie von ihren Familien. Ihre Päckchen enthielten warme Bekleidung, Essen, Alkohol, Zigaretten. Außerdem hatte die Oberste Heeresleitung Zehntausende Miniaturweihnachtsbäume an die deutschen Fronten versandt.

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1