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ZEITREISE: durch 500 Jahre niedersächsische Familien- und Sozialgeschichte: Von Heidebauern in Celle zu Unternehmern in Hameln
ZEITREISE: durch 500 Jahre niedersächsische Familien- und Sozialgeschichte: Von Heidebauern in Celle zu Unternehmern in Hameln
ZEITREISE: durch 500 Jahre niedersächsische Familien- und Sozialgeschichte: Von Heidebauern in Celle zu Unternehmern in Hameln
eBook954 Seiten10 Stunden

ZEITREISE: durch 500 Jahre niedersächsische Familien- und Sozialgeschichte: Von Heidebauern in Celle zu Unternehmern in Hameln

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Über dieses E-Book

Das Buch beschreibt die niedersächsische Geschichte aus der Erlebniswelt einer einzelnen Familie. Es ist ein historisch-soziologisches Sachbuch über die Lebenswelt der Bauern, Soldaten, Gastwirte, Handwerker und Unternehmer in einer Zeitspanne von 13 Generationen und fünf Jahrhunderten.

Es berichtet von den Lebensbedingungen der Bauern auf dem Celler Land im ausgehenden Mittelalter, von Kavalleristen, die im 18. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Kriegen kämpften und von Fuhrunternehmern und Gastwirten, die während der napoleonischen Besetzung des Landes bankrottgingen. Es erzählt vom Leben der Wagenbauunternehmer in Bad Gandersheim sowie von den Malermeistern und ihren Familien, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts in Hameln niederließen. Als Dekorations- und Kirchenmaler engagierten sie sich beim Aufbau ihrer Berufsorganisation – der Malerinnung – und nach dem Ersten Weltkrieg kommunalpolitisch in der konservativ-liberalen Deutschen Volkspartei und als Bürgervorsteher in Hameln, bis 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen. Es schildert grausame Erlebnisse im zweiten Weltkrieg und die schwere Kriegsverletzung des letzten Malermeisters der Familie in der Sowjetunion. Schließlich erzählt das Buch von der wirtschaftlichen Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Handwerksbetrieb zu einem mittelständischen Unternehmen mit 70 Mitarbeitern anwuchs, letztlich jedoch scheiterte.

Im Kontext der Herrschafts- und Politikgeschichte wird in groben Zügen nachgezeichnet, wie die Familienmitglieder vor dem Hintergrund der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen gelebt haben und wie sie mit den Herausforderungen umgegangen sind. Auf diese Weise entsteht eine Geschichte des Alltags und der Erlebniswelt einer Familie und aus dem Blickwinkel der regionalen Besonderheiten im Celler Land, in Bad Gandersheim und Hameln.

Das Buch schließt mit einer soziologischen Generationen-Analyse ab: Identitäten, statistisches Lebensalter, Heiratsmuster, Familienbeziehungen, Konflikte und Solidaritäten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Nov. 2021
ISBN9783347901261
ZEITREISE: durch 500 Jahre niedersächsische Familien- und Sozialgeschichte: Von Heidebauern in Celle zu Unternehmern in Hameln
Autor

Hans-Jürgen Brandt

Dr. HANS-JÜRGEN BRANDT, geboren 1946 in Hameln, studierte Rechtswissenschaft und Politologie und promovierte am Osteuropa Institut der Freien Universität Berlin. Er war Richter am Landgericht in Berlin und hat in Organisationen der internationalen Entwicklungskooperation gearbeitet. Zu seinen Publikationen zählen vor allem rechtssoziologische Bücher und Artikel zu lateinamerikanischen Themen, die er bis 2017 für die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung erarbeitet hat. Seitdem befasst er sich vorwiegend mit historischen Fragestellungen.

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    Buchvorschau

    ZEITREISE - Hans-Jürgen Brandt

    2. Heidebauern in der Frühen Neuzeit (1490 – 1736)

    2.1 Historischer Kontext

    Die Zeitreise beginnt in der Lüneburger Heide im ausgehenden Mittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit um 1500. Dort lebte und arbeitete die Familie Brandt auf einem eigenen Bauernhof. Wie müssen wir uns das kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Umfeld der Menschen der damaligen Zeit vorstellen?

    Vor uns taucht das Bild eines Epochenwandels auf. Es ist das Zeitalter Martin Luthers (1483 – 1546), der die katholische Kirche reformieren wollte, die Autorität des Papstes und der Kirchenfürsten herausforderte und dessen Lehren eine Kirchenspaltung verursachten. Es ist die Epoche der Eroberung der „Neuen Welt, nachdem Columbus und seine Seefahrer 1492 für die Europäer Amerika „entdeckten. Der Habsburger Carlos I. wurde 1516 König von Spanien (d.h. von Kastilien, León und Aragón), erbte 1519 das Erzherzogtum Österreich und ist von den Kurfürsten als Karl V. zum deutschen Kaiser gewählt worden.⁷⁵ Von seinem Reich, das auch die Übersee-Territorien in Lateinamerika umfasste, hieß es, dass in ihm „die Sonne nie unterging." Die Handelshäuser Fugger und Welser erwarben mit ihren internationalen Geschäften mit Gewürzen (Pfeffer, Muskat, Nelken), Gold, Silber und Sklaven sagenhaften Reichtum und mit ihren Krediten an Kaiser und Könige großen Einfluss.

    In Deutschland existierte keine zentrale politische Autorität. Zwar gab es das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation" mit einem Habsburger Kaiser,⁷⁶ der jedoch außerhalb seines eigenen Herrschaftsbereiches in Österreich keine wirkliche Macht über die zersplitterten Landesteile der Reichsstände hatte, d.h. über die 300 Territorien der geistlichen und weltlichen Fürsten, Grafen, Prälaten und Reichsstädte.⁷⁷ Während sich in den Städten eine wohlhabende Schicht der freien Kaufleute, Handwerker und Bankiers herausbildete, blieben die Bauern, d.h. der überwiegende Teil der Bevölkerung, einem Feudalsystem unterworfen. Sie waren nicht Eigentümer des von ihnen bestellten Landes. Vielmehr gehörte dieses dem Grundherrn, dem sie unterworfen waren. Sie schuldeten ihm Naturalabgaben (den Zehnten), Geldleistungen und Arbeitsdienste (Fron). Gegen neue drückende Lasten richteten sich seit dem späten Mittelalter vor allem in Süddeutschland Bauernaufstände, die im Bauernkrieg 1524 – 56 ihren Höhepunkt hatten.⁷⁸

    Es ist zudem das Zeitalter der Renaissance, in dem – ausgehend von Italien – versucht wurde, die Kunst und Architektur der Antike wiederzubeleben. Bekannte Repräsentanten waren die Maler Lucas Cranach d. Ä. (1472 – 1553), Albrecht Dürer (1471 – 1528)⁷⁹ und in Rom das Universalgenie Leonardo da Vinci (1452 – 1519), der nicht nur zahlreiche Kunstwerke schuf (z.B. Mona Lisa), sondern auch Studien zur Anatomie und zum Kosmos durchführte und Entwürfe zur Architektur und zu Maschinen anfertigte.⁸⁰ Michelangelo (1475 – 1564) malte die Fresken der Sixtinischen Kapelle in Rom, die die Schöpfungsgeschichte wiedergeben,⁸¹ und Hieronymus Bosch (1450 – 1516)⁸² schreckenserregende, apokalyptische Szenen des Jüngsten Gerichts, das über den Aufenthalt im Himmel oder der Hölle entscheiden würde und das nach der Vorstellung der Menschen damaliger Zeit unmittelbar bevorstand. Kulturelle Zentren der Renaissance waren die Städte, in denen die begüterten Kaufleute und Bankiers die neuen Fähigkeiten der Künstler und Handwerker förderten.

    Das 16. Jahrhundert ist ferner die Zeit des akademischen Humanismus und der im Zusammenhang mit der evangelischen Bewegung stehenden humanistischen Reform der Universitäten.⁸³ Im Mittelpunkt ihres Programms stand die Rückbesinnung auf die authentischen antiken Quellen, insbesondere das Studium der antiken Literatur in den ursprünglichen Sprachen statt in lateinischen Übersetzungen und die Entwicklung des rationalen Diskurses. Humanistisch bedeutet hier nicht Toleranz und Offenheit. Die religiösen Quellen des Alten und des Neuen Testaments waren nicht kritisierbar.⁸⁴ Allgemein herrschende Überzeugung war, dass die Welt auf einer festen, von Gott gewollten Ordnung basiert. Das galt auch für die gesellschaftliche Ungleichheit, die als natürlich bzw. von Gott gestiftet angesehen wurde: Es war selbstverständlich, dass nicht alle Menschen die gleichen Rechte hatten: man gehörte entweder zur Obrigkeit oder war Untertan, man war Herr oder Knecht, zählte zum Adel oder war Bürger oder Bauer.⁸⁵

    Geradezu revolutionär war demgegenüber die Veränderung des Weltbildes durch Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543), der die Auffassung widerlegte, dass die Erde Mittelpunkt der Welt ist, um die die Himmelskörper kreisen. Das Gegenteil, d.h., dass sich die Erde um die Sonne dreht, ist heute eine Binsenweisheit. Diese Erkenntnis widersprach jedoch bis zur „kopernikanische Wende nicht nur der herrschenden Lehre der Kirche, sondern auch dem „gesunden Menschenverstand.⁸⁶

    Es ist eine Zeit der Ambivalenz: Der Zeitgeist des Mittelalters lebte noch fort, die Erkenntnismethoden der Neuzeit hatten sich noch lange nicht durchgesetzt. Es dauerte noch mehr als 100 Jahre, bis René Descartes den frühneuzeitlichen Rationalismus entwickelte⁸⁷ und knapp 300 Jahre, bis Immanuel Kant 1788 die „Kritik der praktischen Vernunft veröffentlichte.⁸⁸ Ein Beispiel für die Zwiespältigkeit des Denkens ist Martin Luther. Einerseits hatte er mit der Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache, dessen Neues Testament ab 1522 in sehr hohen Auflagen gedruckt wurde,⁸⁹ eine Bildungsreform eingeleitet: Er sprach den mündigen Christen an, der selbst über seinen Glauben reflektieren kann. Die Gottesdienste wurden zum ersten Mal in deutscher (und nicht in lateinischer) Sprache gehalten und waren für alle Gemeindemitglieder verständlich. Mit seiner „Ratsherrenschrift von 1524, forderte er von den Stadträten die Einrichtung von Schulen, damit alle lernen können, die Bibel zu lesen und zu verstehen, sowohl Jungen als auch Mädchen.⁹⁰ Damit legte er den Grundstein für das spätere öffentliche Schulwesen. Andererseits war Luther im Denken des Mittelalters verhaftet. Er war ein religiöser Fundamentalist, der nur die eigene Bibelexegese akzeptierte. Die Philosophie lehnte er als „Menschenwerk ab. Die menschliche Vernunft könne nicht zur Erkenntnis Gottes kommen und die Welt nicht erklären, denn die eigentliche Wahrheit bliebe ihr verschlossen. Sie sei ebenso verdorben wie der Mensch.⁹¹ Mehr noch: für Luther ist die Vernunft „des Teufels Hure, sobald der Mensch die Endlichkeit der Vernunft vergisst.⁹² Zwar ist sie für ihn die „Erfinderin und Lenkerin" der Künste und der Wissenschaften.⁹³ Jedoch missbrauche der Mensch die Vernunft unter dem Einfluss des Teufels. Er schreibt: Der Mensch „vergißt über dem Besitz der Vernunft und ihren großen Leistungen Gott selbst, den Geber aller Gaben und Werke. Er brüstet sich mit seiner eigenen Leistung: ›Das habe ich gemacht‹, statt, wie es recht wäre, demütig-dankbar zu bekennen: ›Das habe ich empfangen.‹." Für den „gefallenen Menschen" sei das Evangelium verschlossen.⁹⁴ Ferner lieferte Luther sich eine polemische Auseinandersetzung mit dem Humanisten Erasmus von Rotterdam über die Existenz des freien Willens, eine Vorstellung, die Luther ablehnte.⁹⁵ Er war von der Existenz des Teufels fest überzeugt, nicht als „Allegorie des Bösen, sondern dessen Verkörperung. Von seiner physischen Existenz war er geradezu „besessen.⁹⁶ „Zauberei und Hexerei" sind für ihn „des Teufels eigene Werke. […] Wir alle sind mit Leib und Gut dem Teufel unterworfen als Gäste dieser Welt, deren Fürst und Gott er selber ist."⁹⁷ Die Folter und Verbrennung von Hexen hat Luther sogar ausdrücklich befürwortet. Man müsse an solchen Leuten ein Exempel statuieren, damit andere abgeschreckt würden.⁹⁸

    Mit seiner düsteren Lebens- und Weltauffassung stand Luther im Einklang mit dem herrschenden Zeitgeist.⁹⁹ Für die Menschen seiner Zeit waren Himmel und Hölle real und vom Alltag nicht zu trennen. Der Teufel, die Hexerei und Zauberei gehörten zu ihrer Lebenswirklichkeit¹⁰⁰ auch in der Lüneburger Heide, wohin uns unsere Zeitreise führt. Die Angst vor dem „Schadenszauber, dem „maleficium, war weit verbreitet. Wenn bei der Butterherstellung im Butterfass die Butter nicht fest wurde, dann wurde das auf den Einfluss von Hexen zurückgeführt: „Do wüßt se" – die Bäuerin – „de hexe wör an’work.¹⁰¹ Um die Kühe vor Hexen zu schützen, wurden „am Christabend im Stall Lichter angezündet und wenn man einem Nachbarn Milch gab, denn streute man etwas Salz hinein, damit die „Kühe nicht behext" werden.¹⁰² Unwetter, die die Ernte vernichteten, Zeiten außergewöhnlicher Trockenheit, wie im Jahre 1540, oder Epidemien, wie die Pest, wurden als Strafe Gottes oder als Teufelswerk angesehen.¹⁰³

    Frauen waren in der Zeitenwende der frühen Neuzeit als mögliche Hexen zur latenten Bedrohung geworden. Von den jüngeren ging die Versuchung der sündigen Sinnenlust aus. Der „weibliche Schoß", der die männliche Triebnatur magnetisch anziehe, könnte in Wahrheit „der Höllenschlund" sein, „der die Seele mit hinab und in die Verdammnis zieht, um sodann eine neue, von der Erbsünde verseuchte Brut auszuwerfen."¹⁰⁴ Besonders gefährdet waren Frauen, die sich mit den Mitteln der Kräuterheilkunde auskannten. Sie könnten „mit den Mächten der Natur im Bunde stehen. Ihre Behandlungsmethoden hatten für die Zeitgenossen einen magischen Charakter. Zwar liefen „weise Frauen und Geburtshelferinnen häufiger Gefahr, wegen Zauberei angeklagt zu werden, sie waren jedoch nicht die einzigen Opfer.¹⁰⁵ Vereinzelt waren es auch Männer.¹⁰⁶ „Hexen" wurden auch aus Geiz und Neid verfolgt, nicht nur in ökonomischer Hinsicht, sondern auch als Folge der Verletzung von Gefühlen wie Liebe oder Ehre. Häufig sind einfach nur lästige Nachbarn beschuldigt worden. Mit einer Anklage schuf man sie sich vom Hals und konnte dabei sogar noch ein gutes Gewissen behalten. Für die Opfer waren Flüche und Verwünschungen eine Reaktion auf ihre soziale und rechtliche Ohnmacht, für die Ankläger und Nachbarn dagegen ein erneuter Beweis für die schwarze Magie.¹⁰⁷ Die Hexen waren das Schreckensbild der Epoche, das mit ihrer Verbrennung zu Asche werden sollte.¹⁰⁸

    Auch in Celle wurden Hexen vor dem „peinlichen Gericht – d.h. dem Kriminalgericht, das Körper- und Todesstrafen verhängen konnte – beschuldigt, mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Sie wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ihnen wurde vorgeworfen, mit Zaubermitteln, wie Kräutern, Tierkörperteilen, Zaubersprüchen, Flüchen oder gar durch den „bösen Blick schädlichen Einfluss auf Menschen oder die Natur auszuüben. Rechtsgrundlage für die Verurteilung der schadensstiftenden Zauberei war ab 1532 die kaiserliche Halsgerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina),¹⁰⁹ die in Celle erstmals 1547 angewandt wurde.¹¹⁰ Nach Art. 44 konnte die „peinliche Frage (d.h. die Folter) bei Verdacht auf Zauberei angewandt werden. Das Geständnis war Voraussetzung für die Verurteilung. Art. 109 („Straff der zauberey) bestimmte, dass derjenige, der „den leuten durch zauberey schaden oder nachtheyl zufügt mit dem Tod durch Feuer bestraft wird.¹¹¹ In dem Verfahren war der Ankläger zugleich der Richter. Cassel beschreibt mehrere Verfahren der „hochnotpeinlichen Halsgerichtsbarkeit in Celle des 16. Jahrhunderts gegen Frauen: Metke Mussmann z.B. war 1547 in Celle angeklagt worden, als Kräuterhexe erfolglos versucht zu haben, Krankheiten zu heilen. Unter der Folter mit Daumenschrauben gestand sie schließlich, was man hören wollte: Sie soll mit Zaubermitteln anderen Schaden zugefügt haben, indem sie angeblich diese Mittel unter Türschwellen und in Betten von Nachbarn deponierte.¹¹² Andere unglückliche Opfer dieses Aberglaubens in Celle sollen teils mit dem Teufel getanzt, mit dem „bösen Geist" eine Vereinbarung getroffen oder Zaubermittel in Getränke gefüllt haben. Sie wurden beschuldigt, Krankheiten oder gar den Tod von Menschen und Tieren verursacht zu haben.¹¹³ Niemand bezweifelte damals, dass es überhaupt ein (strafbares) Bündnis mit dem Teufel geben könnte.

    In diese Zeit werden wir versetzt, wenn wir die Geschichte der Brandts bis zu ihren ersten feststellbaren Spuren zu Beginn des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen.

    2.2 Thies Brand (geb. um 1490)

    Zwischen 1438 und 1511 ist die Familie Brandt in den Besitz eines Bauernhofes in Altenhagen/Celle gelangt. Das Schatzregister der Burgvogtei in Celle – d.h. die Steuerliste der Verwaltung des Fürstentums – erwähnt in einer Urkunde von 1511 Thies Brand als Inhaber eines Hofes.¹¹⁴

    Die unterschiedliche Namensbezeichnung Brand bzw. Brant, Brandes oder Brandt ist – wie bereits erwähnt – darauf zurückzuführen, dass bis ins 17. Jahrhundert hinein meine Vorfahren mangels Schulbildung Analphabeten waren, sie ihren Namen also nicht buchstabieren konnten und die Schreiber der Amtsregister und die Pfarrer deshalb die Namen nach Gehör notierten und mangels Standardisierung der Schriftsprache dabei von orthographischen Vorlieben geleitet wurden.¹¹⁵

    Über die Lebenszeit des Thies Brand sind wir auf Schätzungen angewiesen, da die Eintragungen über Geburten, Taufen, Todestage und Beerdigungen in den Kirchenbüchern der Celler Stadtkirche erst mit dem Jahr 1617 beginnen. Wenn wir annehmen, dass Thies Brand als erwachsener Hofbesitzer zur Zeit seiner Erwähnung etwa dreißig Jahre alt war, muss er um 1490 geboren sein, also ziemlich zeitgleich mit Martin Luther (10. November 1483).

    In welchem Ort lebte Thies Brand und unter welchen Bedingungen? Altenhagen wird als „Oldenhagen, plattdeutsch auch Olenhagen, im 14. Jahrhundert erstmalig erwähnt,¹¹⁶ ist jedoch früher gegründet worden. Das Dorf liegt in unmittelbarer Nachbarschaft von Celle, das als „Neuzelle mit Burg und Stadt vom Lüneburger Herzog Otto II. (dem Strengen) im Mündungsdreieck der Flüsse Fuhle und Aller 1292 angelegt wurde, nachdem die Burg in Altencelle abgebrannt war. 1378 wurde Celle politisch zur Residenzstadt aufgewertet, als Herzog Albrecht den Sitz seines Fürstentums

    2). von Lüneburg dorthin verlegte. Das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg war bereits 1235 als Reichsfürstentum gegründet worden. Es basierte auf den Gütern der Welfen mit ihren Burgen in Braunschweig und Lüneburg. Im Jahr 1269 kam es zu einer ersten Teilung in die Fürstentümer Braunschweig und Lüneburg, die jedoch zusammen weiterhin Teilstaaten des Herzogtums Braunschweig-Lüneburg bildeten.¹¹⁷

    Abbildung 5: Fürstentum Lüneburg, bearbeitete Karte von Johannes Mellinger, 1593¹¹⁸

    Das nur drei Kilometer von Celle entfernte Altenhagen war zwar ein eigenständiges Dorf, umgeben von Feldern, die Lebensverhältnisse wurden jedoch durch die Nähe zur Residenzstadt beeinflusst, d.h. durch die vielfältigen Angebote des Stadtlebens mit Kirche, Markt, Handwerk und Handel sowie der Kaufkraft des Bürgertums der Stadt und des Fürstenhofes, einschließlich Bediensteten und Angehörigen des Militärs. 1459 erhielt Celle das Monopol für die Kornschifffahrt auf der Aller, durch das die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt gefördert wurde, und von dem auch die Bauern des Umlandes profitierten.¹¹⁹

    In dem Schatzregister der Burgvogtei von 1511 – d.h. der erwähnten Urkunde der Steuerverwaltung des Fürstentums¹²⁰ – wurden alle Bauern von Altenhagen („Oldenhagen") aufgelistet, die in diesem Jahr die Hofsteuer an den Burgvogt bezahlt hatten:

    • Hans Ebeling 1 Gulden

    • Helmke Ebelinge 1 Gulden

    • Hinrik Ule 1 ½ Gulden

    • Henneke Thies 1 ½ Gulden

    • Thies Arbergs 1 ½ Gulden

    • Tynnermann 7 ½ Schilling

    • Thies Brand: 1 ½ Gulden

    • Albert Thies 11 ½ Schilling.¹²¹

    An siebter Stelle erscheint Thies Brand.¹²² Aus der Steuerliste geht hervor, dass dieser 1 ½ Gulden¹²³ Pflugschatz, d. h. eine Abgabe für das Ackerland, an die Burgvogtei entrichtet hatte. Die Höhe wurde nach der Größe der Ackerfläche berechnet.

    Die größten Höfe zahlten 1 ½ Gulden jährlich, vier Höfe entrichteten weniger. Da Thies Brand den höchsten Satz bezahlte, muss er einen sog. „Vollhof" besessen haben. Damit war ein Großhof zu verstehen, der unter dem Schutz der Burgvogtei stand. Welchen Vollhof Thies Brand besessen hat, dafür bietet das Schatzregister keinen Anhaltspunkt. Dennoch hat Knoop die Lage der Höfe ermitteln können:

    Thies Brand hat den Hof Nr. 7 besessen, der in der Abbildung durch Pfeil gekennzeichnet ist.¹²⁴

    Während im Allgemeinen die Bauernhöfe im Fürstentum nach „Meierrecht vergeben wurden, deren Nutzung noch im 16. Jahrhundert vertraglich nur für eine bestimmte Zeit überlassen wurde,¹²⁵ sind die Höfe in Altenhagen an die Gründungssiedler auf der Grundlage des sog. „Hagenrechts¹²⁶ (oder Hägerrechts) übertragen worden. Darüber existieren zwar keine Urkunden mehr, jedoch lassen mehrere Fakten auf diese Rechtsform schließen. Zunächst deutet bereits der Ortsname Altenhagen darauf hin. Grundherren des Dorfes waren die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg bzw. die Fürsten des Teilstaates Lüneburg.¹²⁷ Zur Gründung des Dorfes wurden den Siedlern vom Landesherren entlang der heutigen Lachtehäuser Straße Agrarflächen übertragen. Hinter ihren Höfen besaßen sie jeweils einen 70 bis 80 Meter breiten und rd. 500 Meter langen Streifen Land – die Hagenhufen. Diese waren durch eine Hecke, Hagen genannt, von den übrigen landwirtschaftlichen Flächen abgetrennt. Die Abtrennung setzte sich aus Schwarzdornbüschen, Haselnusssträuchern, Brombeeren und Gestrüpp zusammen.¹²⁸

    Abbildung 6: Hof Nr. 7 von Thies Brand Altenhagen, nach: Knoop 1939b

    Die Hagenhöfe sind planmäßig entstanden. In der harten Anfangszeit, in der das Land urbar gemacht werden musste, sind die Siedler durch einen besonders guten Rechtsstatus motiviert worden, sich hier niederzulassen.¹²⁹ „Rodungsbauern erhielten als Anreiz [vom Landesherrn] besondere Rechtsprivilegien zugesichert, so z.B. erbliches Besitzrecht an den Höfen, Veräußerungsrecht an den Höfen (bei Vorkaufsrecht des Hagenherren), persönliche Freizügigkeit, Hägergericht (unter dem Vorsitz eines vom Hagenherren eingesetzten Hachmeisters mit Funktion eines Richters),¹³⁰ größere Unabhängigkeit in Gemeindeangelegenheiten […] und nur geringe jährliche Zinsleistungen."¹³¹ Das Verfügungsrecht der Bauern über ihre Höfe in Altenhagen entsprechend des Hagenrechts wird durch eine Urkunde vom 5. Februar 1619 belegt.¹³² Diese bestimmte, dass nach dem Tod des Inhabers der Hof nicht unter den Erben geteilt (Realteilung), sondern einem Erben – i.d.R. dem ältesten Sohn – übertragen wurde (Anerbenrecht), der seine Geschwister auszahlen musste.¹³³ Schließlich deutet der „Hachzins, den die Bauern in Altenhagen neben dem Pflugschatz an den Landesherrn zu zahlen hatten, auf das Hagenrecht hin. Dieser wird auch Hagenzins oder Hagzins genannt. Er bestand für die einzelnen Bauern in Altenhagen jährlich aus der Zahlung von 18 Schillingen¹³⁴ und der Übergabe von Naturalien in Form von Hühnern – Rauchhühnern oder „Rockhon genannt – sowie 405 Eiern, den sog. „Hageiern".¹³⁵ Im Vergleich zu den Abgaben, die die Bauern nach dem Meierrecht zu leisten hatten, waren die Althagener Bauern privilegiert, denn sie mussten an den Herzog als Grundherren kein sog. Weinkaufsgeld¹³⁶ beim Wechsel der Inhaberschaft entrichten, ebenso wenig wie ein Hofrindergeld oder Hofschweinegeld.¹³⁷ Neben den Leistungen an den Landesherren war der Hof zu Abgaben an die Celler Stadtkirche verpflichtet, worauf noch zurückzukommen sein wird. Diese rechtlichen Verpflichtungen galten nur für die ältesten Höfe der Gründungszeit, nicht aber für die späteren Neusiedlungen ab dem 16. Jahrhundert.¹³⁸

    Wie müssen wir uns das Leben eines Bauern mit seiner Familie in Altenhagen im 16. Jahrhundert heute vorstellen? Der Celler Theologe Urbanus Regius fasst die Lebenssituation der Bauern im Fürstentum Lüneburg 1532 – im Sinne reformatorischer Klosterkritik – so zusammen:

    „Der Landmann arbeitet Tag und Nacht, daß ihm der Rücken krumm wird, liegt in einer räucherigen Hütte, die wie eine Arche Noah ist, Hund und Katzen, Rösser, Säue, Hühner und Schafe, alle beieinander, bei einem Feuer. Wenn er sich müde und krank gearbeitet und heimkommt, so hat er nicht Holz genug für den Frost. Er muß einen rohen stinkenden Speck und Hartbrot wie Wetzstein nagen, Wasser trinken, schlecht liegen, mit Sorgen schlafen, und was er im Schweiße seines Angesichts erwirbt, muß er in die Klöster geben [… ] ."¹³⁹

    Thies Brand war verheiratet.¹⁴⁰ Wir wissen jedoch nicht, mit wem, denn Kirchenbücher mit Eintragungen über Trauungen gab es noch nicht. Der Name seiner Frau taucht nirgendwo auf. Dies gilt auch für Ehefrauen seines Sohnes Hans Brandes, „der Alte" (* um 1525) und seines Enkels Hinrich Brandes (*1592), die ebenfalls nirgends erwähnt werden, obwohl die Ehepartnerinnen im bäuerlichen Haushalt von erheblicher Bedeutung für die landwirtschaftliche Produktion und den Wohlstand der Familie waren. Sie arbeiteten mit ihrem Ehemann gemeinsam in der Feld- und Viehwirtschaft, waren für die Erzeugung der Milchprodukte, die Gartenpflege sowie die Ernte von Gemüse und Obst zuständig. Ferner war der Haushalt ihre Domäne: Brot backen, Schneidern, Stricken etc. Schließlich fühlten sie sich für die Betreuung der Kinder verantwortlich, allerdings ohne sich dabei pädagogische Gedanken zu machen. Die Kinder liefen im Alltag mit und sollten durch Mitarbeit und Miterleben alles lernen, was zur Weiterführung des elterlichen Betriebs erforderlich war. Auf diese Weise sollten sie in ihre künftigen Rollen hineinwachsen.¹⁴¹ Gegenüber dem Gesinde übten die Frauen Autorität aus, sie waren jedoch ihrem Mann untergeordnet, denn der Haushalt war patriarchalisch strukturiert. Allein der Mann war Inhaber des Besitztitels an Grund und Boden, nur er war als Hausvater rechtlich handlungsfähig und genoss die hausherrliche Gewalt, bis hin zum körperlichen Züchtigungsrecht.¹⁴²

    Das bäuerliche Haus war keine Idylle. Enge Gefühlsbindungen zwischen den Ehepartnern einerseits und mit ihren Kindern anderseits waren eher schwach ausgeprägt. Nicht die „große Liebe, wie sie heute gesucht wird, war der Grund für die Ehe, vielmehr standen ökonomische Gesichtspunkte im Vordergrund. Die drei Kriterien der bäuerlichen Brautsuche waren: „Mitgift, Arbeitsfähigkeit und Gesundheit, stellt Rosenbaum fest.¹⁴³ Die Beziehung zwischen den Ehegatten war durch die gemeinsame Arbeit in der Land- und Viehwirtschaft und durch das Interesse am Erhalt des Hofes geprägt. Alle anderen persönlichen Bedürfnisse waren dem untergeordnet. Die sachlichen, arbeitsorganisatorischen Beziehungen waren dominant, die persönlichen Gefühle dagegen hatten zurückzutreten.¹⁴⁴ Auch die Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern hatten einen eher instrumentellen Charakter. Sie wurden, schreibt Rosenbaum „primär unter dem Aspekt der Kontinuität (des Hofes, der Generationen) als Arbeitskräfte und als Unterstützung im Alter" wahrgenommen. „Das Kind als Arbeitskraft und Erbe, das waren die beiden grundlegenden Perspektiven, unter denen Bauernkinder von ihren Eltern gesehen und behandelt wurden.¹⁴⁵ Die Familie lebte mit dem Gesinde in einem Hausverband zusammen. Da alle eine Produktionseinheit bildeten, unterschieden sich die Beziehungen zwischen Blutsverwandten, Mägden und Knechten nicht wesentlich voneinander. Alle wurden nach ihrer Arbeitsleistung bewertet. Die Einsicht, dass für das Kindeswohl ein liebevoller Umgang erforderlich ist, hatte sich noch nicht herausgebildet. Die Eltern-Kind-Beziehungen waren durch Befehl und Gehorsam geprägt, notfalls wurde mit einer Tracht Prügel nachgeholfen.¹⁴⁶ „Emotional-affektive Orientierungen, stellt Rosenbaum fest, ließen die Rollen im Bauernhaus nicht zu. Deshalb konnten sich in diesem „Sozialisationsprozess Fähigkeiten wie Rücksichtnahme, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen nicht oder nur rudimentär entwickeln."¹⁴⁷ Andererseits waren die Kinder und Heranwachsenden aber auch emotional unabhängiger von ihren Eltern als heute. Die Bauern lebten mit ihrer Familie, dem Gesinde und ihrem Vieh in sog. niederdeutschen Hallenhäusern, die an der Dorfstraße aufgereiht errichtet wurden. Wie sah das Bauernhaus aus?

    Abbildung 7: Bauernhaus Südheide¹⁴⁸

    Unter einem strohgedeckten Dach (Reetdach) befanden sich die Wohnräume, Ställe und Lagerböden. Typisch ist die lange Diele/Deele mit gestampftem Lehmboden, in der an Werktagen gearbeitet – z.B. Korn gedroschen – und an Festtagen gefeiert wurde. Man erreichte die Diele durch das Eingangstor, die „grote Dör" Sie war so groß, dass Erntewagen hindurchfahren konnten. Neben dem Tor und rechts und links der Arbeitsdiele befanden sich in den niedrigeren Seitenteilen unter dem Schrägdach und abgetrennt durch ein Gatter die offenen Ställe für die größeren Tiere, wie Kühe, Pferde und Schweine.¹⁴⁹

    Die sog. Tiefställe wurden nicht täglich ausgemistet. Über den frischen Kot wurden immer wieder getrocknete „Plaggen" der obersten Humusschicht des Heidebodens eingestreut,¹⁵⁰ bis der Stallraum mit Humus und Dung – gut gemischt durch die Hufe der Tiere – ausgefüllt war, der dann über die Diele als Dünger auf das Feld gebracht wurde.¹⁵¹ Die Tiere der vollbesetzten Ställe erzeugten im Winter eine beträchtliche Wärme, ihr Dung jedoch einen Gestank, den heute kaum jemand in seinem Arbeits- und Wohnbereich aushalten würde.

    Nach der Diele folgte das Fleet bzw. Flett, d.h. die Wohnküche als Allzweckraum, in dem sich das gesamte soziale Leben abspielte. Hier wurde gekocht, gegessen, gearbeitet und gefeiert.¹⁵² Der Raum nahm die gesamte Hausbreite ein und hatte zu beiden Seiten einen Ausgang.

    Auf der offenen Feuerstelle im Fleet wurden die Mahlzeiten zubereitet. Darüber befand sich unter den Balken das „Feuerrähm, d.h. ein Schutzdach gegen Funkenflug, an dem die verstellbaren Kesselhaken befestigt waren. Da Schornsteine auf dem Land noch nicht üblich waren,¹⁵³ zog der Rauch durch die große Doppeltür des Hauses ab. Als Vorteil des „Deutschen Herdes, d.h. der ebenerdigen oder auf einem Sockel befindlichen offenen Feuerstelle mit Aschengrube, wurde gesehen, dass die Hausfrau von hier aus die Kontrolle über Gesinde und Vieh behielt und dass hier, wo sich auch ein großer Tisch befand, die Kommunikation mit Mitbewohnern und Gästen stattfand.¹⁵⁴ Ferner vertrieb der Rauch Insekten und hatte eine konservierende Wirkung für das Holz.¹⁵⁵ Der Nachteil des „Rauchhauses" waren chronische Erkrankungen der Atemwege der Bewohner (Bronchitis, Lungenkrankheiten), wie der Arzt August Walbaum bereits 1897 in seiner Doktorarbeit feststellte.¹⁵⁶

    Der Raum war relativ dunkel. Tageslicht fiel durch das große Tor hinein, das im Winter aber wegen der Kälte überwiegend geschlossen gehalten werden musste. Spärliches Licht fiel zudem durch die wenigen Fenster rechts und links vom Fleet. Künstliche Beleuchtungsmöglichkeiten mit eher funzeliger Helligkeit boten rußende Kienspäne (Stöcke aus harzreichem Holz), stinkende Talg- oder Öllichter¹⁵⁷ und selten Kerzen, die auf dem Markt teuer waren, aber aus Bienenwachs der eigenen Imkerei selbst angefertigt werden konnten.

    Der Wohnbereich des Bauernhauses der Familie Brand mit Kammern und Stuben lag im Südwesten des Hauses – also der Sonne zugekehrt. In der großen Stube, der „grote Dönz, schliefen die Bauern und in der „lütje Dönz die Altenteiler, d.h. die Eltern bzw. Schwiegereltern des Bauernpaares.¹⁵⁸ Eine Privatsphäre, ein eigenes Bett – und erst recht ein eigenes Schlafzimmer – gab es i.d.R. bis Mitte des 19. Jahrhunderts nicht. Meistens teilten sich zwei bis drei Haushaltsmitglieder – nach Geschlechtern getrennt – ein Bett. Es bestand aus einem hölzernen Bettgestell und Strohsäcken als Matratze.¹⁵⁹ Man teilte das Bett nicht nur mit Familienmitgliedern oder anderen Hausbewohnern, sondern auch mit Läusen, Wanzen und Flöhen. Zur Bekämpfung der Flöhe wurde gelegentlich Wasser mit Koriander und gegen die Läuse Ochsengalle mit Essig über den Strohsack gesprüht.¹⁶⁰ Der Erfolg wird dürftig gewesen sein. Allerdings konnte man auch das Stroh leicht wechseln und den Leinensack waschen. Da sich die Plagegeister aber überall in der Kleidung fast aller Menschen aufgehalten hatten, erschien die Bekämpfung eine Sisyphusarbeit. Hautkrankheiten waren durch ihre Bisse weit verbreitet.

    Ursprünglich wurden die Stuben nicht beheizt, jedoch sind ab Mitte des 17. Jahrhunderts eiserne Hinterladeöfen nachweisbar.¹⁶¹ Das Gesinde schlief im Wirtschaftsteil: die Knechte über den Pferdeställen und die Mägde in Kammern rechts und links neben den Kuhställen.¹⁶²

    Von außen waren die Wände der Bauernhäuser der Südheide mit Holzbohlen verkleidet, ähnlich wie bei den sog. Stabkirchen. Die heute an alten niedersächsischen Bauernhäusern sichtbaren Backsteinfüllungen des Fachwerks – wie im folgenden Bild zu sehen – sind später seit etwa 1700 entstanden.¹⁶³

    Die hygienischen Verhältnisse waren erbärmlich. Wasser musste in Eimern aus dem Brunnen gezogen werden: Über eine hölzerne Rolle wurde eine Kette in den Brunnen gehängt, an deren beiden Enden sich jeweils ein Eimer befand. Zog man an der Kette, senkte sich der leere Eimer in die Tiefe, während der volle emporkam. Es gab keine Toiletten, erst recht kein Badezimmer. Die Raumtemperaturen erreichten im Winter trotz der Wärme der Feuerstelle und des Viehs nur sechs Grad über der Außentemperatur.¹⁶⁴ Die Ansteckungsgefahren sind aufgrund des fehlenden Wissens über Hygiene und der überall existierenden Keime groß gewesen. Die Säuglingssterblichkeit war extrem hoch. Schätzungen zufolge starb etwa ein Drittel der Kinder bei der Geburt.¹⁶⁵ Nur die Hälfte der Neugeborenen erlangte das Erwachsenenalter.¹⁶⁶ Wegen der geringen medizinischen Kenntnisse der wenigen Ärzte im nahen Celle und der fehlenden ärztlichen Versorgung auf dem Land führten schwere Krankheiten – wie Typhus oder Ruhr – oft zum Tode. Selbst die Ärzte wussten fast nichts über Entstehung und Verbreitung von Infektionen, über Ansteckungsgefahren und Möglichkeiten der Behandlung.¹⁶⁷ Noch bis 1800 wurden die meisten Ärzte nicht empirisch an Krankenbetten, sondern rein akademisch ausgebildet.¹⁶⁸ Mit Wunden und Brüchen ging man zum Bader, d.h. zu einem handwerklich ausgebildeten Praktiker des Heilberufs, der auch chirurgische Eingriffe vornahm oder bei Schmerzen Zähne ausbrach.¹⁶⁹ Umherreisende Quacksalber boten auf den Märkten ihre angeblichen Wundermittel gegen alle möglichen Krankheiten an. Kein Wunder, dass das Durchschnittsalter auf dem Land noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur bei etwa 37 Jahren lag.¹⁷⁰ Es stieg erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich an.¹⁷¹

    Der Ackerbau war die wichtigste wirtschaftliche Grundlage der Heidebauern, denn er lieferte das Brotgetreide. Aus der Schätzung des Ertrages des Hofes von 1664 – die auch für das Jahrhundert davor aussagekräftig ist – ergibt sich, dass auf den Feldern der Familie Brand(es) vor allem Roggen und Hafer geerntet wurde.¹⁷² Für den Anbau von Weizen waren die mageren Sandböden der Heide kaum geeignet. Hinter den Hofgebäuden lag – wie aus der Abbildung Seite 36 ersichtlich – auf einem schmalen Flurstreifen eine Ackerfläche, die dem Hof bei der Gründung vom Landesherrn zugeteilt wurde. Sie verlief bis zu einem Bach in der Feldmark, der heute zugeschüttet ist. Das aufkommende Wasser wird jetzt durch Drainageröhren abgeleitet. Da die ursprünglich zur Verfügung gestellten Böden nicht zum Lebensunterhalt ausreichten, wurden später Wälder gerodet und die neuen Flächen unter Pflug genommen, wodurch nicht mehr alle Äcker der Bauern ausschließlich hinter ihren Höfen lagen, d.h. die später erworbenen Flächen lagen in der Feldmark verteilt.

    Altenhagener Flurnamen wie „Neue Roland" (gerodetes Land) nehmen darauf Bezug.¹⁷³ Diese Rodungen waren vermutlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts abgeschlossen.¹⁷⁴ In der Abbildung Seite 49 ist zu sehen, dass sich im Jahre 1780 die Äcker um das ganze Dorf verteilten. Da es noch keine Feldwege gab, konnten diese nur durch Querung der Äcker der Nachbarn erreicht werden. Deshalb mussten Feldbestellung und Ernte abgestimmt werden, um nicht deren Felder zu beschädigen.¹⁷⁵ Damit zu gleichen Zeiten gesät und geerntet werden konnte, hatten deshalb alle die gleichen Feldfrüchte anzubauen (Flurzwang).¹⁷⁶ Die Erträge waren wegen der geringen Bodenqualität relativ niedrig. Zudem wurden die Ernten in Norddeutschland in der ersten Hälfte die 16. Jahrhunderts immer wieder durch Wetterextreme beeinträchtigt, die zu Ausfällen führten.¹⁷⁷

    Abbildung 8: Dorfstraße, Otto Modersohn¹⁷⁸

    Hinter den Hofgebäuden, vor dem Acker, lag der Garten. Dieser wurde vor allem von den Frauen und Kindern des Hofes bestellt.¹⁷⁹ Die Gartenbewirtschaftung war nicht sehr vielseitig. Man baute Kohl, Rüben, Hülsenfrüchte, Salat, Küchenkräuter und Obst an.¹⁸⁰ Kartoffeln gab es noch nicht. Sie sind erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts aus Südamerika kommend in Europa eingeführt worden. In Norddeutschland wurden diese „Erdäpfel" ab Mitte des 18. Jahrhunderts angebaut. In der Stadt Braunschweig sind sie erstmals 1753 als Gartenfrüchte erwähnt worden.¹⁸¹

    Während Ackerland und Garten jedem einzelnen Hofe zugeschrieben worden waren, standen Weideland und Wald als „Almende" im Besitz der Dorfgemeinschaft. Die Ausweitung dieser Flächen durch die Althagener Bauern im 16. Jahrhundert führte zu Konflikten um die Aufteilung der Weiderechte mit den Bauern der Nachbardörfer Lachtehausen, Bostel und Garßen, die erst 1664 beigelegt werden konnten.¹⁸²

    In den folgenden Ausschnitten eines Gemäldes von Pieter Bruegel werden Bauern bei der Kornernte in damaliger Zeit dargestellt. Auf dem Felde in Altenhagen ist es ähnlich zugegangen. Allerdings dürfte die Ernte auf dem kargen Heideboden weniger üppig ausgefallen sein.

    Abbildung 9: Kornernte 1565: Pieter Bruegel der Ältere¹⁸³

    Die Rinderzucht war in der Lüneburger Heide wegen der schlechten Weidebedingungen nur wenig ertragreich. Mit den heute durch Züchtung ertragsoptimierten Milchviehrassen auf den Bauernhöfen hatte der damals gehaltene „Heidschlag" wenig zu tun. Die Tiere waren wesentlich kleiner. Sie hatten ein rotbraunes oder dunkelgraues Fell und wogen nur 400 bis 800 Pfund (heute sind sie doppelt so schwer). Im Winter wurden sie nur mit Stroh gefüttert. Im Frühjahr sind sie dann – so früh wie möglich – völlig abgemagert auf die Weiden getrieben worden.¹⁸⁴

    Im Mittelpunkt der Tätigkeiten auf dem Hof stand die Produktion der allermeisten Güter des täglichen Bedarfs. Der bäuerliche Haushalt war eine „Einheit von Konsumtion und Produktion."¹⁸⁵ Die Milch der Kühe und das Fleisch geschlachteter Tiere dienten der Selbstversorgung. Die frisch gemolkene Rohmilch wurde entrahmt und die Sahne zu Butter verarbeitet. Die sich beim Buttern im Stoßbutterfass absondernde Buttermilch wurde getrunken oder für Grütze verarbeitet. Milch- und Breispeisen, wie dicke Milch mit geröstetem Schwarzbrot, und gekochtes Gemüse waren das Hauptnahrungsmittel der Landbevölkerung. Die Butter wurde nur zu besonderen Anlässen, wie einer Hochzeit, selbst verbraucht und i.d.R. auf Märkten verkauft. Als Butterersatz diente Ölschmalz aus Leinöl und Mehl.¹⁸⁶ Gemüse, Salate und Kräuter aus dem Garten ergänzten das Speiseprogramm. Aus dem Roggenmehl wurde Brot gebacken. Nur Salz ist auf dem Markt oder von den durchziehenden Söltern (Salzfahrern) gekauft worden.¹⁸⁷

    Zur Viehhaltung gehörten neben den Kühen vor allem Schweine und Hühner, aber auch Heidschnucken, die sehr genügsam waren und das Heidekraut als Futter akzeptierten. Ferner wurde die Imkerei betrieben. Über den konkreten Viehbestand des Hofes gibt es erst Aufstellungen aus dem 17. Jahrhundert (1687).¹⁸⁸ Aus Studien über die bäuerliche Viehhaltung in Niedersachsen im 16. Jahrhundert¹⁸⁹ sind jedoch Vergleichsdaten bekannt. Danach wurden auf den Vollhöfen in der Heide¹⁹⁰ i.d.R. folgende Tiere gehalten:

    • 2 – 3 Pferde. Diese waren als Zugtiere für den eigenen Hof aber auch für die Spanndienste, die die Bauern für den Landesherrn und die Kirche zu leisten hatten, erforderlich. Auf dem Hof der Familie Brand dürften es nur zwei Pferde gewesen sein.¹⁹¹

    • 8 – 9 Rinder, davon 6 Kühe, darunter mindestens ein Ochse als Zugtier schwerer Lasten (die Zahl der Rinder auf dem Hof Brand könnte um 1500 höher gewesen sein, denn 1687 wird sie mit 18 beziffert, s.u.)

    • 2 – 4 Schweine

    • 5 bis 52 Schafe.¹⁹² Der Schafbestand auf dem Hof Brand wird jedoch in einer niedrigen, zweistelligen Größenordnung gelegen haben, denn nach dem Register über den Fleischzehnten Ende des 17. Jahrhunderts wurden auf dem Hof jährlich rd. 8 Lämmer geboren,¹⁹³

    • ferner: Hühner und 2 bis 3 Bienenstöcke.

    Dass dieser Viehbestand eine realistische Schätzung für den Hof der Familie Brand widerspiegelt, ergibt sich nicht nur aus dem späteren Kontributionskataster von 1687,¹⁹⁴ sondern auch aus den Abfindungen, die die Hoferben im Zuge der Erbauseinandersetzung an ihre Geschwister leisten mussten. Diese erfolgten auf der Grundlage eines nicht unbeträchtlichen Viehbestandes und waren so bemessen, dass dem Hoferben sicherlich der größte Teil der Tiere erhalten blieb.¹⁹⁵

    Die Kühe sind ganzjährig nachts im Stall gehalten und täglich ein- und ausgetrieben worden. Diese Arbeit wurde i.d.R. „einem noch nicht konfirmierten" Kind übertragen. Hatte der Bauer kein jugendliches Kind, beschäftigte er hierfür einen Sohn anderer Eltern während der Sommermonate.¹⁹⁶ Von der Mitarbeit der Kinder am Hof hielt auch nicht die Möglichkeit des Schulbesuches ab, denn die Dorfschule wurde erst Mitte des 17. Jahrhunderts eingerichtet.¹⁹⁷ In der kargen Geestlandschaft der Lüneburger Heide betrug der Milchertrag rd. 500 Liter pro Kuh und Jahr. Der Fleischertrag war wegen der damals geringeren Größe und des niedrigeren Gewichts der Tiere kleiner als heute. Das Schlachtgewicht der Kühe lag bei 100 kg, bei Schweinen 50 kg und bei Schafen 20 kg pro Tier.¹⁹⁸

    Der Stall der grauwolligen Heidschnucken stand gewöhnlich außerhalb des Dorfes in einer Heidekoppel, sodass die Tiere von dort direkt auf die Weide gelangen konnten. Größere Herden wurden von einem Schäfer gehütet. Zweimal im Jahr sind die Schafe gewaschen und geschoren worden. Die Wolle wurde größtenteils bei einem Kaufmann in der Stadt gegen Waren des bäuerlichen Bedarfs eingetauscht oder zu Geld gemacht. Außerdem verkauften die Bauern Schafe auf dem Markt in der Stadt.¹⁹⁹ Für den eigenen Verbrauch wurde die Wolle gesponnen und zu Kleidungsstücken verarbeitet.²⁰⁰

    Sämtliche Familienmitglieder waren in die Bewirtschaftung des Hofes einbezogen. Alle waren ökonomisch aufeinander angewiesen. Sie bildeten eine Haus-, Arbeits- und Solidargemeinschaft, die relativen Schutz vor den vielfältigen Gefahren der Zeit bot, wie Missernten, Krankheit, Tod von Angehörigen und Bedrohung von Feinden. Der Lebensrhythmus war der Natur angepasst. Es gab arbeitsintensive Zeiten, wie bei Aussaat und Ernte, und Zeiten mit mehr Muße, wie im Winter.²⁰¹ Der Arbeitstag war lang. Im Sommer stand man bereits zwischen drei und vier Uhr früh auf und machte sich nach dem Frühstück, das aus einem Teller Suppe, Getreidebrei oder Erbsen und Bohnen bestand,²⁰² an die Arbeit.

    Zur Hausgemeinschaft gehörte auch das „Gesinde". Die Arbeitskraft der Familienmitglieder allein reichte auf den großen Bauernhöfen nicht aus. Nachgewiesen werden konnte, dass die Bauernfamilie Brand(es) eine Magd beschäftigte.²⁰³ Üblich war auf großen Höfen aber auch die Arbeit von Knechten, die Lohn, Kost und Logis erhielten und wie Familienmitglieder behandelt wurden. Im Durchschnitt wird die Haushaltsgröße 6 Personen betragen haben (1 Elternpaar, 3 auf dem Hof lebende Kinder, 1 Magd, 1 Knecht).²⁰⁴ Dass auf dem Bauernhof mindestens ein Knecht gearbeitet haben muss, ergibt sich aus der Arbeitsorganisation auf dem Hof und aus den Spanndiensten für den Landesherrn, die von zwei erwachsenen Personen – d.h. neben dem Bauern noch von einem Knecht (bzw. einem erwachsenen Sohn) – zu erbringen waren.²⁰⁵ Der Knecht hatte den Kuhstall zu streuen, die Tiere mit Futter und Wasser zu versorgen und das Pferde- oder Ochsengespann zu führen, vor allem bei der Aussaat und der Ernte sowie bei den Spanndiensten für Grundherren und Kirche. Auch Tagelöhner wurden bei der Feldbestellung und Ernte beschäftigt.²⁰⁶

    Abbildung 10: Struktur des Hofbesitzes in Niedersachsen 1580/1600²⁰⁷

    Zurück zur Dorfentwicklung: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts kamen zu den Gründungshöfen sog. Halb- und Kötnerhöfe hinzu. Saalfeld zeigt, dass in der Frühen Neuzeit in Niedersachsen 79% der Ackerflächen von Voll- und Halbhöfnern bewirtschaftet wurden, diese aber nur 35% der Hofstellen besaßen.²⁰⁸ Die Vollhöfner waren damit die Oberschicht auf dem Lande. Die große Mehrheit der Bauern bildeten dagegen die Kötner (57%), denen aber nur 20% der Ackerflächen zustanden. Zur untersten agrarsozialen Schicht gehörten die Brinksitzer, die i.d.R. über keine Ackerflächen verfügten, und die sog. Häuslinge" ohne Land, die zur Miete wohnten und im Tagelohn auf den großen Höfen arbeiteten.²⁰⁹

    Abbildung 11: Altenhagen im 18. Jhdt., gekennzeichnet sind die Kötnerhöfe 7 i, k und l

    Die Kötnerhöfe sind durch Teilung der Vollhöfe oder durch Neusiedlung entstanden und hatten entsprechend geringere Steuerlasten zu tragen. Auf eine Teilung eines Hofes ist zu schließen, wenn die neuen Höfe einen gemeinsamen Brunnen hatten, ihre Ackerflächen teilweise mit denen des Ausgangshofs identisch waren und wenn sich die an den Grundherren zu leistenden finanziellen Abgaben in der Summe entsprachen. Dies trifft auf den großen Vollhof Nr. 7 der Familie Brand(es) zu, der zwischen 1511 und 1526 geteilt worden sein muss.²¹⁰ Aus ihm entstanden die 3 Kötnerhöfe Nr. 7 i, 7 k und 7 l, wobei der Hof 7 l von den nachfolgenden Generationen des Thies Brand bewirtschaftet wurde. Den langen Streifen Ackerland, der hinter dem alten Hofe lag, erhielt der Hof i. Das übrige verstreut liegende Land wurde auf die Höfe k und l aufgeteilt.²¹¹

    Carl Brandt schreibt: Vor dieser Teilung war der Gesamthof „im Besitz unseres Vorfahren Thies Brand noch 1511, als er mit drei anderen das höchste Schatzgeld im Dorfe zahlte. Möglich, dass er vor 1532 verstorben war und der Hof unter zwei Söhnen und einem Schwiegersohn geteilt wurde. Möglich auch, dass dies auf Veranlassung der herzoglichen Regierung geschah, welche dadurch ihre Steuerzahler vermehrte, vielleicht aus demselben Grunde auch auf Betreiben der Kirchengemeinde. Auch trieb man dadurch die Inhaber an, durch Neurodungen das Areal zu vergrößern und die Höfe dadurch wieder ihrem Gesamtbestand anzunähern, was wiederum im Interesse der Grundherren Staat und Kirche lag. Zunächst also sanken alle drei Hofteile zu Kothöfen herab. Später wurde der bei der Familie Brandt verbliebene Teil 7 l wieder als Vollhof bezeichnet, […] vielleicht durch Zuwachs von Rodungen oder Kauf"²¹²

    2.3 Hans Brandes, der „Alte"(geb. um 1525)

    Hans Brandes, der „Alte, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der Sohn von Thies Brand. Mangels öffentlicher Personenstandsregister in der damaligen Zeit ist die Abstammung allerdings nur aus Indizien zu schließen: Thies und Hans haben den gleichen Nachnamen und Hans wurde – offenbar als Erbe – Inhaber des Kothofs 7 l, der durch Teilung aus dem Vollhof Nr. 7 hervorgegangen ist. Im Viehschatzregister der Großvogtei von Celle von 1589 wird eine Steuerzahlung von ihm registriert: „Hanss Brandss der Alte: 3 fl. (Gulden) ²¹³, 2 s (Schilling).²¹⁴ Allerdings hat Hans nicht unmittelbar den Hof von Thies übernommen, sondern erst ab 1547. Gustav Knoop hat ermittelt, dass vorübergehend von 1532 bis 1546 der Hof von Bartmer Vlenn bewirtschaftet wurde.²¹⁵ Offenbar war Vlenn ein sog. Interimswirt, der den landwirtschaftlichen Hof für den minderjährigen Hoferben verwaltete.

    Der Hof 7 l musste nicht nur Abgaben an den Herzog entrichten. Er war als einer der vier sog. „Knabhöfe in Altenhagen auch der Stadtkirche in Celle dienstverpflichtet. Carl Brandt vermutet, dass diese Höfe der Kirche bei ihrer Gründung „als Teil einer größeren Fundation zugewiesen worden waren²¹⁶, es kommen aber auch spätere Schenkungen in Betracht. Urkunden hierüber sind nicht mehr auffindbar. Insgesamt unterstanden der Celler Stadtkirche acht Bauernhöfe aus vier Dörfern, die neben der Zahlung von Abgaben auch zu Hand- und Spanndiensten verpflichtet waren: Sie mussten auf den Feldern und im Garten des landwirtschaftlichen Pfarrhofs arbeiten.²¹⁷

    In den Kirchenrechnungen wird Hans Brandes, der „Alte", von 1558 bis 1588 als Einzahlender genannt, z.B.:²¹⁸

    • „Anno 1558 […] mark lüb. Zins emfangen von Hans Brandes v a Hagen."

    • „Anno 1588 Auswendige²¹⁹ Zins – Auff dem Altenhagen Hans Brandes von 3 ½ mark lübisch… 3 fl. 3 g."²²⁰

    Das Währungssystem war in Deutschland ebenso zersplittert wie die Territorien unterschiedlichster Größe der mehr als 300 Reichsstände. In Zeiten des Euros ist kaum noch vorstellbar, dass damals in den norddeutschen Herzogtümern mehr Währungen galten als heute in ganz Europa. Für Celle galt: Abgerechnet wurde im Währungssystem des wendischen (d.h. slawischen) Münzvereins der Hansestädte Lübeck, Hamburg, Lüneburg. Dabei handelte es sich um sog. Kurantmünzen – d.h. „kursierende" Münzen –, deren Wert auf dem Materialwert (Silber) beruhte. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts waren das in Celle vor allem der Gulden, die Lübische Mark und der Lübische Schilling.

    (1) Der Gulden war ursprünglich eine Goldwährung, die historisch vom Gulden der Stadt Florenz mit etwa 3½ Gramm Goldgewicht abstammte, der ab dem 13. Jahrhundert auch außerhalb der Toskana benutzt wurde. Die gebräuchliche Abkürzung war fl. oder f. für Fiorino (lat. florenus aureus, französisch Florin). Seit dem 16. Jahrhundert wurde eine große Silbermünze als Äquivalent geschlagen, die als Zahlungsmittel weit verbreitet war.

    (2) Die Lübische Mark war eine Silbermünze. Im 16. Jahrhundert betrug der Materialwert ca. 18 g. Silber pro Münze.

    (3) Der Schilling ist eine silberne Groschenmünze der lübischen Währung gewesen, die in 12 Pfennige unterteilt wurde.

    Die Münzen wurden wie folgt verrechnet:

    Abbildung 12: Währungen des Lübischen Münzsystems 1500 – 1550²²³

    Die Steuerakten zeigen, dass der Hof 7 l der Familie Brand(es) in Altenhagen mit Abgaben für Kirche und Staat belastet war. Die Bauern trugen die Hauptlast der Feudalgesellschaft: Die Fürsten mit ihrem Hofstaat und der Klerus lebten von den Leistungen der Untertanen. Diese Belastungen wuchsen stetig, weil die Zahl der Profiteure stieg, die ihrerseits eine immer teurere Lebenshaltung pflegten. Viele Bauernhöfe waren den Forderungen nicht mehr gewachsen. Die wirtschaftliche und soziale Not, verbunden mit der Kritik an den von Adel und Kirche verursachten Missständen, hatte zuvor im Süden Deutschlands – zur Zeit der Geburt von Hans Brandes – zu Bauernkriegen geführt.²²⁴ Zu einem Bauernaufstand ist es aber im Fürstentum Lüneburg nicht gekommen, obwohl die Abgabenlast der Bauern hoch und die Finanzlage durch die großzügige Lebensgestaltung des Fürstenhofes und den Ausbau der militärischen Festungen äußerst angespannt war. Zwar waren die Nachrichten von den Aufständen im Süden auch im Fürstentum Lüneburg in aller Munde, zumal sich die Herzöge von Braunschweig und Lüneburg mit Truppen an der blutigen Niederschlagung beteiligten.²²⁵ Aber das Ausbleiben von Unruhen im Fürstentum Lüneburg, lag – Hauptmeyer zufolge – daran, dass die Erhöhung der Abgaben nicht zu einer krassen Notlage der Bauern geführt hatte.²²⁶ Dies zeigt sich auch an den in dieser Studie zitierten Schätzungen der Burgvogtei über die Erträge des Hofes der Familie Brandes, ferner daran, dass der Hof die Abgaben und die in den Erbverträgen geregelten Abfindungen tragen konnten.²²⁷ Andererseits mag es auch an der Neuordnung der Finanzverwaltung im Zuge der Einführung der Reformation 1527²²⁸ gelegen haben, durch die sich die Finanzlage des Hofes von Herzog Ernst und dem Kanzler des Fürstentums, Johann Förster, verbesserte. Ihnen kam der neue Zeitgeist zugute. Die Lehren Luthers bestätigten, dass die den Bauern auferlegten Abgaben nicht auf Gottes Willen beruhten.²²⁹ Diese Thesen machten sich die protestantischen Herrscher zunutze. Sie setzten einerseits die Säkularisation der katholischen Klöster durch und stellten die Finanzen der Kirchen unter die Kontrolle des Staates²³⁰: Diese hatten alle drei Jahre ihre Einnahmen vor der herzoglichen Rentkammer offenzulegen und die Überschüsse an die staatliche Rechnungsstelle zu überweisen.²³¹

    Abbildung 13: Stadtkirche St. Marien in Celle

    Zurück zu Hans Brandes: Carl Brandt vermutet, dass er um 1525 geboren wurde.²³² Da er in den Registern immer der „Alte" genannt wird, muss er ein langes Leben gehabt haben. Er hatte zwei Söhne. Der Älteste war Hinrich Brandes, der Hoferbe.²³³

    2.4 Hinrich Brandes, der „Ältere" (geb. um 1550)

    Hinrich, der den Beinamen „der Ältere trug, bewirtschaftete den Stammhof 7 l in Altenhagen in Nachfolge seines Vaters Hans Brandes, dem „Alten. Über sein Leben ist wenig bekannt. Er hat jedoch Spuren hinterlassen: In den Rechnungen der Stadtkirche zu Celle von 1589 bis 1620/21 ist er als Zinszahler aufgeführt worden.²³⁴ In den Rechnungen heißt es

    • 1589, 1594, 1600 gleichlautend: „Auswendige²³⁵ Zins Auf dem Altenhagen. Hinrich Brandes vor 3 ½ m lübisch 3 fl. 3 g."

    • Ähnlich 1620: „Hinrich Brandes gibt 3 ½ m lübisch: iss ahne Müntz 3 fl. 3 g – d."

    Es handelt sich um den Knabhofzins, der an die Stadtkirche in Celle zu entrichten war. Weitere Daten über Hinrich Brandes und seine Ehefrau sind nicht bekannt.

    Die Einführung der Reformation im Fürstentum 1527 wirkte sich auch im Dorf Altenhagen aus. Der Landesherr bestimmte in Abstimmung mit den Ständen die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen,²³⁶ auch wenn er rechtlich dazu erst später – nach dem Augsburger Religionsfrieden zwischen dem Kaiser und den Reichsständen von 1655 – als befugt galt. Die Bevölkerung ist selbstverständlich nicht gefragt worden. Wer mit dem Religionswechsel nicht zufrieden war, musste das Land verlassen. In der Celler Stadtkirche predigte der evangelische Theologe Urbanus Rhegius, der im Auftrage des Herzogs Ernst I. (der „Bekenner) die Reformation in Celle und dem Umland durchsetzen sollte. Von Altenhagen aus gesehen war die Stadtkirche das nächstgelegene Gotteshaus, in das die Bauern zum Gottesdienst gingen. 1548 wurde Altenhagen deshalb auch in den Sprengel (Parochie) der Stadtkirche St. Marien einbezogen.²³⁷ Das besondere Interesse von Urbanus Rhegius galt der Predigt und der Unterweisung der Prediger, „wie und was sie predigen sollten.²³⁸ Von der Kirchenkanzel verkündete er die lutherische Lehre, wonach die Heilige Schrift die einzige Quelle für den christlichen Glauben ist, dass der Mensch sich für seine Taten Gott gegenüber verantworten muss und sein Heil durch Bereuung der Sünden und festen Glauben an Gott erlangen kann, nicht aber durch Wallfahrten, Anrufen von Heiligen oder Geld/Ablass. Rhegius hatte die „Gabe der eindringlichen Rede und die Kunst, größere Gemeinschaften zu lenken und innerlich zusammenzuhalten."²³⁹ Es ist kein Wunder, dass die Celler Bürger und die Bauern des Umlandes in Scharen zu den Gottesdiensten dieses eloquenten und überzeugenden Predigers strömten und sich zu den neuen Lehren bekannten.²⁴⁰ Seit dieser Zeit gehört die Familie Brand(es) der evangelisch-lutherischen Kirche an, d.h. seit Lebenszeiten Martin Luthers, der am 18. Februar 1546 starb.

    2.5 Hans Brandes und Ehefrau (1592 - 1675)

    Hans Brandes, Hinrichs Sohn, wurde vermutlich 1592 in Celle getauft. Dort ist er auch am 22. Dezember 1675 begraben worden.²⁴¹ Er hatte folglich das damals hohe Alter von etwa 83 Jahren erreicht. Von seiner Frau ist nur der Begräbnistag bekannt: Sie wurde am 18. September 1673 in Celle beerdigt. Ihr Name wird dabei nicht genannt. Sie muss zwischen 1598 und 1603 geboren sein.²⁴² Die Eintragungen der Kirchenbücher des 17. Jahrhunderts sind nicht immer vollständig. Jedenfalls war Hans Brandes der Sohn von Hinrich Brandes, dem „Älteren, und beide, Vater und Sohn waren Inhaber des Hofes Nr. 7 l. Dies folgt aus den Eintragungen der Kirchenrechnungen über den „Auswendige[n] Zinss Auf Alten Hagen, in denen als Einzahler immer Hans Brandes oder sein Hof auftritt:

    1622: Hans Brandes gibt 3 ½ m Lüb [=Lübische Mark] Ahne Münz 3 fl. [Florin Gulden] 3 g.²⁴³ Diese Zahlung ist identisch mit denjenigen des Vaters von 1593/94 und 1620.

    Ab 1635 taucht neben dem Hofgeld, das an den Landesherren – d.h. die Burgvogtei Celle – zu übergeben war, die Abgabe eines Huhns bzw. eines „Rockhons"²⁴⁴ oder Rauchhuhns als Naturalsteuer

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