Eine Kindheit und Jugend zwischen Krieg und Frieden: Erinnerungen eines Zeitzeugen
Von Günter Kühn
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Über dieses E-Book
Günter Kühn, Jahrgang 1934, ist Wissenschaftlicher Direktor i. R., Historiker und Germanist, Autor und Herausgeber diverser Publikationen zum Thema Migration.
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Buchvorschau
Eine Kindheit und Jugend zwischen Krieg und Frieden - Günter Kühn
Günter Kühn
Eine Kindheit und Jugend
zwischen Krieg und Frieden
Erinnerungen eines Zeitzeugen
Laumann-Verlag
Alle im Buch enthaltenden Bilder stammen aus dem Privatarchiv des Autors.
© 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG
Postfach 1461, 48235 Dülmen/Westf.
Gesamtherstellung:
Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,
48249 Dülmen/Westf.
ISBN 978-3-89960-432-0
info@laumann-verlag.de
www.laumann-verlag.de
Gewidmet den Kindern und Jugendlichen
der Zweiten-Weltkriegs-Generation
Vorwort
Krieg und Kriegsende, Vertreibung und Neubeginn: Die Erlebnisse eines Jungen, der mit seiner Familie aus Gleiwitz in Oberschlesien auf einer lebensgefährlichen Odyssee in den sicheren Hafen der Freien Hansestadt Bremen flüchtet.
Warum sollten sich für meine Geschichte Menschen außerhalb meiner Familie interessieren? Ich bin davon überzeugt, dass meine Erinnerungen nicht nur mir gehören, sondern in gewissem Sinne auch meiner Generation.
Den Anlass zu der Niederschrift von Erinnerungen aus meiner Kindheit und Jugend gaben Bemerkungen aus dem engeren Familienkreis, dass man eigentlich von mir gar nichts oder nur sehr wenig über meine Kindheit und Jugend erfahren habe. Ich muss gestehen, dass dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Ich glaube aber auch, dass ich im jüngeren Erwachsenenalter wohl nicht bereit oder nicht in der Lage gewesen bin, mit anderen über die Zeit meiner Kindheit und Jugend offen zu sprechen, die sich zu einem großen Teil in den Kriegs- und Nachkriegsjahren abspielte und von zahlreichen Ängsten und Bangen erfüllt gewesen war. Sie lag zudem in einer Phase meines Lebens, in der das kindliche und selbst noch das jugendliche Gemüt zwischen realer Wahrnehmung und irrealer traumatischer Welt oftmals nicht trennscharf unterscheiden konnte. Bis heute frage ich mich deshalb gelegentlich selbstkritisch: War es wirklich so, wie du es jetzt beschrieben hast?
Als ich mich an meinen Schreibtisch setzte und zu schreiben
begann, war ich mir nicht ganz im Klaren darüber, ob ich überhaupt einen zusammenhängenden Text zustande bringen würde oder ob – wie bisher das eine oder andere Mal – nur fragmentarische Erinnerungen und Bilder, oftmals sehr schemenhaft vor meinem inneren Auge auftauchen und ebenso schnell wieder verschwinden würden. Zu meiner großen Überraschung wurden meine Erinnerungen
immer konkreter und zusammenhängender und flossen schließlich mit zunehmender Beschäftigung in fortlaufender Textform aufs
Papier.
In meinen autobiografischen Erinnerungen handelt es sich um Geschehnisse aus meiner frühen Kindheit in der Vorkriegszeit, die sich während des Zweiten Weltkrieges und am dramatischen Kriegsende zu dunklen Eindrücken verdichteten und bei mir schattenhafte Spuren hinterlassen hatten. In dieser kindlichen Lebensphase stellte sich die Odyssee der Vertreibung insofern als eine einschneidende Zäsur dar, weil sich der Schauplatz meines Lebens schicksalhaft veränderte: Meine Familie verließ mit mir Oberschlesien und die Stadt Gleiwitz, und wir gelangten schließlich nach einigen Irrungen und Wirrungen in die Freie Hansestadt Bremen. Danach erfolgte gewissermaßen eine Stabilisierung und Konsolidierung unseres Lebens, wie es in Deutschland bei vielen Menschen in ähnlicher Situation zu beobachten war.
Ich habe diese Thematik in meinen beiden Büchern Fremde in der Fremde und Menschen in der Migration zwischen vertrauter und fremder Tradition ganz allgemein zu beschreiben versucht. In letzter Konsequenz betrachte ich deshalb diese autobiografische Niederschrift nicht nur als die Darstellung eines wesentlichen Abschnitts in meinem Leben, sondern ordne sie ebenso als einen konkreten und ganz persönlichen Beitrag zur Beschreibung der geschichtlichen Entwicklung unseres Landes – der Bundesrepublik Deutschland – und seiner Gesellschaft ein. Aus diesem Grund habe ich ganz bewusst als Autor den Status eines »Zeitzeugen« gewählt, der unter der Prämisse berichtet, dass die Gegenwart nicht ohne ein bestimmtes Wissen über die Vergangenheit zu verstehen ist. Gleichermaßen kann die Zukunft nicht ohne ein Grundverständnis der Gegenwart mit ihren wesentlichen historischen Bezügen gestaltet werden. Im Hintergrund meiner Ausführungen stehen die existenziellen Fragen nach den Ursachen und den Gründen der Flucht bzw. der Vertreibung, die äußeren Umstände also ebenso wie die innere Verfassung der Menschen während dieser Geschehnisse. Auch die näheren Umstände und Bedingungen bei der Ankunft an einem Zufluchtsort und der Prozess einer (allmählichen) Eingewöhnung in eine fremde Umwelt mit unbekannten Menschen werden in meinen Erinnerungen beleuchtet. Vor diesen Tatbeständen stehen Menschen, die sich in der Migration befinden und nach einem Ort des Halts und des Verbleibs suchen.
Migration und Integration begleiteten die Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis in die Gegenwart – heute wieder in dramatischer Aktualität durch Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie »Boatpeople« vorwiegend aus Nord- und Zentralafrika. Bereits 1954, dem Jahr, mit dem ich die Darstellung meiner Erinnerungen abschließe, wurden in verschiedenen europäischen und nordafrikanischen Ländern sowie der Türkei Arbeiter – damals als Gastarbeiter bezeichnet – für die expandierende deutsche Wirtschaft angeworben. Es war allgemein erwartet worden, dass sie nur für eine begrenzte Zeit bleiben würden. Sie blieben jedoch auf Dauer im Lande. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch begründet dies zutreffend mit den Worten: »Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen.« Gleichzeitig strömten, bis zum Bau einer praktisch unüberwindlichen Grenzmauer 1963, deutsche Landsleute zu Tausenden aus der Deutschen Demokratischen Republik über die Grenze nach Westdeutschland in der Hoffnung, hier einen größeren persönlichen und staatlichen Freiraum mit demokratischen Rechtsverhältnissen sowie besseren wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen vorzufinden. Aufgrund dieser Annahme ist die Bundesrepublik Deutschland in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einer bevorzugten Zuflucht für Flüchtlinge und Verfolgte aus aller Welt geworden.
In der gegenwärtigen Diskussion um die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden wird gelegentlich auf die historische Tatsache hingewiesen, dass Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg über zwölf Millionen Menschen aufgenommen und integriert hat. Ein direkter Vergleich mit der derzeitigen Situation ist allerdings nur sehr beschränkt möglich, da es sich um Deutsche handelte, die aus einem identischen Traditionsrahmen ansässige Landsleute antrafen, die die gleiche Sprache beherrschten und in der Regel in gleichen staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen gelebt hatten. Entscheidender war aber wohl bei der Integration dieser unterschiedlichen regionalen Volksgruppen das gemeinsame Gefühl, den »totalen Krieg« überlebt zu haben, und der wiedererwachte Lebenswillen, gemeinsam eine bessere friedvolle Zukunft zu gestalten. Sie wollten »auferstehen aus Ruinen«! Bekanntlich hat es aber auch bei diesem deutsch-deutschen Integrationsprozess erhebliche Interessenkonflikte und Reibungen aus unterschiedlichen Gründen und Ursachen gegeben.
Zur besseren politischen, soziokulturellen und geschichtlichen
Einordnung meiner beiden Lebensabschnitte »Kindheit« und
»Jugend« in das Gesamtgeschehen des Zweiten Weltkrieges mit
seiner unmittelbaren Vor- und Nachgeschichte sowie zum besseren Verständnis meiner damaligen persönlichen Lebensumstände
dienen deshalb im Anhang einige sowohl allgemein als auch persönlich gehaltene Angaben. Kurze historische Abrisse über meine
damaligen geografischen Lebensbereiche Oberschlesien und die Stadt Gleitwitz als Mittelpunkt sowie über die Freie Hansestadt
Bremen mit dem kleinstädtischen Vorort Bremen-Vegesack, meinem eigentlichen lokalen Lebensbezug in Bremen, sollen dieses An-
liegen erleichtern. Dabei ist beabsichtigt, die jeweils eigentüm-
lichen Charaktere der beiden Landschaften mit ihren Menschen
in ihrer traditionellen Verwurzelung und Herkunft vor Augen zu führen und im lokalen Vergleich die teilweise daraus resultierenden unterschiedlichen Lebensverhältnisse herauszustellen. Mit diesen sahen sich zur damaligen Zeit Einheimische wie Flüchtlinge und Heimatvertriebene konfrontiert, um letztlich mehr oder weniger freiwillig und reibungslos entsprechend den realen Verhältnissen eine gemeinsame Basis für ein akzeptables Zusammenleben zu finden.
Abschließend möchte ich mich an dieser Stelle bei meinem Bruder und meiner Schwägerin, Lothar und Ute Kühn, für die wertvollen Hinweise sowie bei Tomas M. Mielke für die redaktionelle Beratung recht herzlich bedanken.
Günter Kühn
Eine ganz persönliche Einführung:
Eine oberschlesische Familiengeschichte
Einige Anmerkungen zum Lebensverlauf meines Vaters
Eltern sind bis heute normalerweise ein Lebenszentrum und ein Prägungsfaktor für ihre Kinder. Die soziale Herkunft und ihr bisheriger Lebensverlauf beispielsweise beeinflussen die allgemeine Erziehung und den Lebensverlauf ihrer Kinder. Aus diesem Grunde erlaube ich mir, einige Hinweise auf die Lebensgeschichte meiner Eltern zu geben, soweit sie mir bekannt sind und soweit sie in diesem Zusammenhang von Interesse sein könnten, ohne dass ich ihre Persönlichkeitssphäre verletzen möchte.
Mein Großvater väterlicherseits entstammte einer alten Müllersfamilie aus Niederschlesien. Da sein älterer Bruder nach den damals geltenden Erbgewohnheiten die Mühle übernommen hatte, blieben ihm eigentlich nur drei Möglichkeiten zur Auswahl:
– sich als Knecht und Gehilfe bei seinem älteren Bruder zu verdingen, sofern sein Bruder daran interessiert war bzw. es die Erträge der Mühle zuließen,
– durch Einheirat und Teilhabe an eine Mühle oder an einen Bauernhof zu gelangen, sofern sich eine derartige Gelegenheit überhaupt anbot,
– durch Auswanderung sein »Glück in der Fremde«, das heißt an einem anderen Ort, Arbeit zu suchen und die vertraute Umwelt zu verlassen.
Für meinen Großvater ergab sich die Möglichkeit, in Oberschlesien in einer der neu eröffneten Kohlengruben Arbeit zu finden, wo Ende des 19. Jahrhunderts, vergleichbar mit dem Ruhrgebiet, eine Industrialisierung im großen Umfang auf der Grundlage von Kohle und Eisenerz einsetzte, wodurch aus den nahen ländlichen Regionen zahlreiche Arbeitskräfte angezogen wurden. Im Verlauf dieser Binnenwanderung ließ sich mein Großvater in Kattowitz nieder und gründete dort eine Familie mit vier Kindern. So wie viele Bergleute seiner Zeit erkrankte er früh an einer Staublunge und verstarb bereits mit 45 Jahren. Zu allem Unglück folgte ihm seine Frau sehr bald nach durch ein langjähriges Leiden als Spätfolge einer schwierigen Geburt ihres letzten Kindes.
Wie mir weiter bekannt wurde, waren die vier Vollwaisen eine Zeit lang völlig auf sich allein gestellt und mussten sich so gut es ging durchs Leben schlagen. Der ältere Bruder meines Vaters fand irgendwelche Arbeit, um den Lebensunterhalt einigermaßen für sich und seine drei Geschwister zu bestreiten. Die älteste Schwester, zu der Zeit um die 15, 16 Jahre alt, war für den Haushalt und die Betreuung ihrer zwei jüngeren Geschwister verantwortlich – meinen Vater und seine jüngere Schwester. Wie lange dieser Zustand andauerte, kann ich nicht sagen. Der ältere Bruder fiel als Soldat im Ersten Weltkrieg. Alle anderen betroffenen Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben, sodass ich ergänzende Auskünfte nicht mehr erhalten konnte. Mein Vater und auch meine Mutter haben sich über diese Phase seiner Kindheit und Jugend nur zögerlich geäußert. Was ich jedoch erfuhr, war, dass mein Vater schließlich einen Bäckermeister als Vormund erhielt, der ihn ziemlich drangsaliert haben musste und als billige Arbeitskraft ausnutzte. Auf diese Weise erlernte er das ungeliebte Bäckerhandwerk, das er nie mehr in seinem Leben ausgeübt hat.
Mein Vater nutzte jedenfalls den Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, um seine Lebenssituation zu verändern, und meldete sich mit knapp 18 Jahren als Kriegsfreiwilliger. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nahm er am Kriegsgeschehen bei der Artillerie an der Ostfront teil. Über seine Kriegserlebnisse hat er meines Wissens, zumindest in Anwesenheit von uns Kindern, ebenfalls nicht gesprochen. Ich habe nur in Erinnerung, dass er bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges einen sehr ernsten Eindruck machte und keine Freude und erst recht keinen Stolz bei den Sondermeldungen über die schnellen Anfangserfolge der deutschen Wehrmacht zeigte. Von Kriegsbegeisterung war bei ihm keine Spur zu finden! Sehr lückenhaft bin ich ebenso über seine unmittelbare Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges informiert. Aus einigen Gesprächen der Erwachsenen habe ich entnommen, dass er wohl auch mit anderen zurückgekehrten jungen Kriegsteilnehmern an den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den polnischen und deutschen oberschlesischen Bevölkerungsgruppen, unter anderem auf dem Annaberg, auf deutscher Seite beteiligt gewesen war. Diese gewaltsamen Feindseligkeiten unter den beiden Volksgruppen hatten ihre Ursache in den Friedensbedingungen des Versailler Vertrags und der vorgesehenen neuen Grenzziehung in Oberschlesien, wo in einer Volksabstimmung über den Verbleib beim Deutschen Reich oder die Zugehörigkeit zur polnischen Republik entschieden werden sollte. Obwohl im überwiegenden Teilen zugunsten des Verbleibs bei Deutschland votiert worden war, korrigierte der Völkerbund das Votum zugunsten Polens. Aufgrund dessen wurde ein Großteil des östlichen oberschlesischen Industriegebiets mit Kattowitz Polen zugesprochen.
Anfang der 1920er-Jahre gab es wohl auch für meinen Vater Zeiten längerer Arbeitslosigkeit. Die Zwanzigerjahre galten ja als Jahrzehnt, in dem Deutschlands Wirtschaft und Handel völlig darniederlagen, durch enorme Reparationsleistungen sowie weltweite Wirtschafts- und Finanz- bzw. Banken- und Börsenkrisen zusätzlich belastet wurden. Es herrschte millionenfache Arbeitslosigkeit mit einem für uns unvorstellbaren sozialen Elend breiter deutscher Volksschichten. Letzten Endes war es aber meinem Vater gelungen, bei der damaligen Deutschen Reichsbahn eine feste Anstellung als Bahnhofsarbeiter und später als Rangierer zu erhalten. Dass er als Rangierer beschäftigt gewesen war, ist mir insofern deutlich im Gedächtnis haften geblieben, als in der Familie öfters von einem schweren Unfall meines Vaters beim Rangieren die Rede war, bei dem er unter einen Zug geriet und im Bauchbereich Verletzungen erlitten hatte, die ihm zeit seines Lebens zu schaffen machten. Im Verlauf der nächsten Jahre erhielt er bei der Deutschen Reichsbahn die Chance, in die Beamtenlaufbahn für das Fahrpersonal einzusteigen, wo er als Oberzugführer kurz nach seinem 40. Jubiläum als Eisenbahner von der späteren Bundesbahn 1960 in den Ruhestand verabschiedet wurde. Auf diese Laufbahn, bei der die Angehörigen der damaligen Deutschen Reichsbahn noch militärisch uniformiert Achselstücke als Rangabzeichen trugen, war er besonders stolz – insbesondere wohl auch im Bewusstsein, was aus der kleinen Vollwaise doch noch geworden war. Diese Uniformierung hätte ihm aber beim Einmarsch der sowjetischen Truppen in Oberschlesien fast das Leben gekostet. Wie es dazu gekommen war, habe ich in meinen nachfolgenden Erinnerungen beschrieben.
Einige Anmerkungen zum Lebensverlauf meiner Mutter
Meinen Großvater mütterlicherseits habe ich noch aus meiner Kleinkindzeit ganz dunkel in Erinnerung: Ein großer, alter, weißhaariger Mann, der mich das eine oder andere Mal als sein in der Familie erstgeborenes Enkelkind in die Arme nahm. Als jüngerer Sohn einer bäuerlichen Familie ohne Erbanspruch auf den Hof hatte er das Maurerhandwerk erlernt und war in den umliegenden Dörfern den Bauern beim Neubau eines Wohnhauses oder von Scheunen und Stallungen zur Hand gegangen. Wenn man so will, war er aus heutiger Sicht freiberuflich in einem Einmannbetrieb tätig. Vielleicht hat er auch bei Bedarf einen jungen Burschen als Gehilfen angestellt. Inwieweit sein Einkommen ausreichte, um eine Familie zu gründen, habe ich nicht in Erfahrung bringen können. Ich weiß nur, dass seine Heirat mit meiner Großmutter ihm allerhand Schwierigkeiten einbrachte. Meine Großmutter war nämlich die Tochter eines angesehenen Großbauern aus dem Nachbardorf, der einen staatlichen Hof mit Pferden und Kutsche besaß, jahrelang das Bürgermeisteramt ausgeübt hatte und als allseits bekannter Abgeordneter im Kreistag in der Kaiserzeit vor dem Ersten Weltkrieg saß. Er gehörte quasi zu den Honoratioren des Landkreises. Die Heirat seiner – wie es hieß – Lieblingstochter unter dem gesellschaftlichen Stand bedeutete für ihn einen Schock, den er lange Zeit nicht verwinden konnte.
Mein Vater als Eisenbahner kurz nach seinem 40. Dienstjubiläum auf dem Vegesacker Bahnhof.
In der Familie meiner Mutter mit ihren vier Geschwistern – drei Brüdern und einer älteren Schwester; eine jüngere Schwester war im frühen Alter verstorben – wurde eines sehr offensichtlich: Das ganze Leben und Streben wurde durch ihren Vater daraufhin ausgerichtet, als Bauer eine eigene Scholle zu besitzen, was er mit harter Hand zu erreichen suchte. Morgen um Morgen Land kaufte er mit der Zeit auf. Außerdem baute er sich ein neues Bauernhaus mit Stallungen für das Vieh, einer geräumigen Scheune sowie einem geräumigen Geräteschuppen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, besaß er über fünfzig Morgen Acker-, Weide- und Wiesenland mit etlichen Kühen und Kälbern, einigen Schweinen und