Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe: Eine Nachkriegsbetrachtung
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Buchvorschau
Susanne Kerckhoff - Susanne Kerckhoff
Vorbemerkung des Herausgebers
Die ersten fünf Jahre nach dem Ende des Naziregimes erscheinen aus heutiger Sicht wie eine black box. Es war auf deutscher Seite eine Zeit der Scham, des sich Unsichtbarmachens, der kollektiven Verdrängung – was zur Folge hatte, dass es damals kaum literarische oder journalistische Zeitschau gab. Jeder war schließlich damit beschäftigt, zunächst seine eigenen Scherben aufzukehren. Im Gegensatz dazu sind die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus durch Reportagen und Dokumentationen ausgeleuchtet, wie keine anderen Abschnitte der deutschen Geschichte. – Susanne Kerckhoff schickt nun mit ihren Berliner Briefen, die erstmals 1948 publiziert wurden, aber für Jahrzehnte vergessen waren, ein krasses Lichtbündel in diese unmittelbare Nachkriegszeit, wirft Licht in die Düsternis des Vergessens, öffnet Augen und hilft verstehen. Das dürfte der Grund sein, warum das Büchlein von Rezensenten als ›Wunder‹ (Thea Dorn) und ›Literarische Sensation‹ (Dennis Scheck) gefeiert wurde.
Eine junge Berlinerin, Kerkhoff nennt sie Helene, schickt eine Reihe von Briefen an einen befreundeten jungen jüdischen Mann, der in den 30er Jahren aus Deutschland flüchten musste. Als sich Hans 1947, zwei Jahre nach Kriegsende, aus Paris bei Helene meldet, beginnt dieser Briefwechsel.
Der Zugang mittels der literarischen Form des Briefromans – bei dem man nur Helenes Briefe zu lesen bekommt, nicht die von Hans – macht es Kerckhoff möglich, ihren inneren Monolog, ihre Selbstbefragung über Schuld und Mitläufertum, über den prekären moralischen Zustand des Landes nach dem Krieg auf einzigartige Weise mit feinen Beobachtungen und konkreten Erlebnissen aus ihrem Alltag im Nachkriegsdeutschland zu verknüpfen. Es gelingt ihr so, Einblicke in diese verdrängte Zeit zu geben, die viel erhellender sind, als geschichtswissenschaftliche Abhandlungen.
Zugleich mit der Rückschau und kathartischen Aufarbeitung blickt Helene nach vorne. Es ist die Zeit, als sich die Teilung Deutschlands manifestiert, als aus einem ungewissen Status quo sich zwei getrennte deutsche Staatsgebilde herausformen, die ihren Bürgern völlig konträre Lebensentwürfe anbieten. So stürzt man aus einer Zeit des Terrors in eine Phase des geistigen Chaos.
Susanne Kerckhoff (1918–1950, bei Kriegsende 27 Jahre alt) kennt diese beiden Lebensentwürfe. Aus einer gutsituierten, humanistisch gebildeten Westberliner Akademikerfamilie stammend, geht sie nach ihrem Philosophiestudium und der Scheidung vom Buchhändler Hermann Kerckhoff 1947 nach Ostberlin, steht den Sozialisten nahe, tritt in die SED ein, arbeitet für die satirische Wochenzeitung Ulenspiegel und später als Kulturredakteurin für die linientreue Berliner Zeitung, wo sie als gerade 30-jährige zur Feuilletonchefin aufsteigt.
Doch Freidenkerin die sie war, ordnete sie sich keiner Parteilinie unter. Wichtig waren ihr das freie Wort und der unabhängige Gedanke. Nach aufreibenden politischen Auseinandersetzungen mit dogmatischen Kollegen und Politikern, die ihr eine »schwankende ideologische Haltung« vorwarfen, schied sie, die eigentlich am Aufbau eines neues, besseren Deutschland tatkräftig mitwirken wollte, am 15. März 1950 freiwillig aus dem Leben. Obwohl Jahrzehnte lang von der Literaturwissenschaft in Ost und West übersehen, ist Susanne Kerckhoff nun zu Recht wiederentdeckt. Ihre markante Stimme bleibt, und prägende Worte wie diese hallen nach: »Wer im Frühling 1945 nicht aus dem Gefängnis oder dem Konzentrationslager kam, ist mitverantwortlich«.
© Pallas Publishing, 2022
BERLINER BRIEFE
image.pngVorbemerkung
Berlin, Dezember 1947
Irgendeine Berlinerin, deren Schicksal weniger bedeutend ist als das Schicksal Tausender, schreibt Briefe an irgendeinen Emigranten. In diesen Briefen spiegeln sich Ratlosigkeit und Hoffnung. Ein Mensch bemüht sich, innerhalb der gegebenen Situation über das politische Woher und Wohin Rechenschaft abzulegen.
Die belletristische Form wurde gewählt, weil dieses Büchlein kein endgültiges, ausgereiftes Credo sein kann. Im Zeitgeschehen verdunkeln und erhellen sich die Erkenntnisse. Jeder Tag bringt neue Entscheidungen. Beständig bleiben nur die Wachheit des Gewissens und der Wille, die Wahrheit unermüdlich zu suchen und ihr zu dienen. Daher ist der vorliegende Versuch fehlerhaft – aber er ist ehrlich. Womit nicht gesagt sein soll, dass andere Versuche unehrlich wären. Ebenso sicher ist es, dass diese Form der politischen Auseinandersetzung mit dem Nachkriegsgeschehen kein privates Spiel einer ›Ich-sitze-gern-zwischen-den-Stühlen‹-Koketterie ist. Noch um die endgültige Erkenntnis ringen, heißt nicht, der Aktion ausweichen, sondern sich im Gegenteil auf sie vorbereiten.
Susanne Kerckhoff
Erster Brief
Lieber Hans!
Nach zwei Jahren Waffenstillstand erreicht mich Dein Brief aus Paris. Du fragst nach mir. Aber damit nach uns. Ich soll schildern, wie es mir ergangen ist. Warum hast Du damals, schon ein Jahr vor Ausbruch des Krieges, die Korrespondenz abgebrochen? Weil ich Dir schrieb, Du möchtest Deine politischen Ansichten nicht mehr äußern, wir kennten uns doch? Ich dachte, Du würdest diesen Satz ohne Weiteres begreifen. Aber in all den Jahren danach hat es mich verfolgt, Du identifiziertest mich vielleicht, dieser vorsichtigen Mahnung wegen, mit Stukas und Konzentrationslagern.
Ich glaube, ich weiß wenig von mir zu berichten. Als wir uns kannten, stand ich noch in dem Lebensalter, wo man sich nicht real in die Geschehnisse einbezieht, sondern für eine Besonderheit mit gesondertem Schicksal hält. Jetzt ist das ganz anders geworden. Mein Lebensgefühl verdeutlicht sich vielleicht in dem Bild, als sei ich ein Teil des Trümmeratems von Berlin – Staub, Ruinen, Tote – aber auch Hoffnung, Zuversicht, Neubau, manchmal gleißend bunt und lügnerisch; es gibt Augenblicke, wo ich Zuversicht und Neubau für gesund halte.
Ich möchte Dir von den anderen Dingen erzählen, in denen ich bin. Ob Du zurückkehrst? Credo, quia absurdum est.¹
Meine Weise der Schilderung erhebt nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, es ist ›mit meinen Augen‹ gesehen. Ich darf nicht für alle sprechen, für keine Gruppe, keine Partei, keine Kirche, keine Klasse, nicht einmal für meine Generation – denn noch niemals habe ich mich als Repräsentanten gefühlt. Überhaupt haben mich Verallgemeinerungen mit der Tarantel gestochen.
Gestern sprach ich mit einem Achtzehnjährigen über Russland. Er hatte Ansichten. Genau so ausgeprägte, rundliche Ansichten hatte er wie einst Du und ich. Er wusste, was Demokratie, was Freiheit meint. Er verstand unter Freiheit Amerika. Es war alles ganz einfach, was er sagte. Plastisch. Ich redete, wie er mir vorwarf, ›drum herum‹. Erwartest Du anderes von mir? Ich kann nur noch an die Dinge heran, wenn ich um sie herum gehe. Ich schleiche wie eine Katze um den heißen Brei, mit einem verbrannten Geschmack auf der Zunge. Aber niemand hat mich gebrannt oder auf den Mund geschlagen, außer meine eigene Einsicht.
In ein bestimmtes Lager gehöre ich – in das Lager derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben – über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne, kann ich mich nicht beruhigen. Auch nicht über unsere Spiegelbilder und unsere Verzerrungen, nicht über Papierverordnungen, an denen Blut und Hunger haften. Ich weiß kein Heilmittel gegen diese Unruhe, und wüsste ich eines, ich würde es nicht anwenden. Es ist mir weder möglich mit einer Phraseologie und Heilpraktiker-Lehre Strohfeuer zu zünden, die niemanden, außer den Brandstifter persönlich, erwärmen. Soll ich mich an dem Beispiel weiden, dass der Karren nach 1918 ähnlich schief gefahren wurde? Ich sähe keine Zier darin, zur vielgeschmähten, ›deutschen Innerlichkeit‹ abzusinken, nur deshalb, weil sie geschmäht wurde.
Ich habe Descartes stets um den großen Augenblick bewundert und beneidet, da es ihm gelang, sich aller Vorurteile, allen Wissens, aller ausgetretenen Pfade zu entschlagen, um zu finden: cogito ergo sum!² Warum soll ich es Dich erst herausfinden lassen, dass vorurteilsloses Denken nicht meine Stärke ist? Ich bin voll Unruhe – ich bin nicht objektiv – es gibt Äußerungen und Geschehnisse, zu denen ich rot sehe. Ich male schwarz-weiß, sicher tue ich das. Zu vielen