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Mama, erzähl mir vom Krieg: Traumabildung in der Nachkriegsgeneration
Mama, erzähl mir vom Krieg: Traumabildung in der Nachkriegsgeneration
Mama, erzähl mir vom Krieg: Traumabildung in der Nachkriegsgeneration
eBook219 Seiten3 Stunden

Mama, erzähl mir vom Krieg: Traumabildung in der Nachkriegsgeneration

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Über dieses E-Book

Die einzigen Momente, in denen Arie Ben Schick seiner Mutter emotional ganz nahe ist, entstehen, wenn er bittet: "Mama, erzähl mir vom Krieg!" Dann streicht sie ihm übers Haar und berichtet dem Jungen ungefiltert. Er hört die Bombeneinschläge, sieht Trümmerlandschaften vor seinem inneren Auge und riecht die verwesenden Leichen, ohne selbst dabei gewesen zu sein.
Lange nach dem Tod seiner Mutter erleidet Arie Ben Schick mit 46 Jahren einen psychischen Zusammenbruch. Im Verlauf seiner Psychoanalyse erkennt er, wie sehr die Kriegsberichte seiner schwer depressiven Mutter ihn selbst traumatisiert haben. In diesem Buch zeigt er seinen Weg zur Genesung auf, ohne Patentrezepte liefern zu wollen, und bringt seine Erfahrungen nicht nur in den geschichtlichen und psychologischen Kontext, sondern auch in die Gegenwart seines Familienlebens.
SpracheDeutsch
HerausgeberMabuse-Verlag
Erscheinungsdatum26. März 2018
ISBN9783863214586
Mama, erzähl mir vom Krieg: Traumabildung in der Nachkriegsgeneration

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    Für mich als Kriegsenkel war das Buch sehr hilfreich, auch die vielen wissenschaftlichen Erläuterungen dazu.
    Ebenso der Verweis auf die Homepage von Kriegsenkel.de. vielen Dank.

Buchvorschau

Mama, erzähl mir vom Krieg - Arie Ben Schick

Literaturverzeichnis

Die Fakten: kurz und knackig

1966 wurde ich als zweites Kind einer Flüchtlingsfamilie aus Hinterpommern in Bremen geboren. Während mein Vater (Jahrgang 1916) Soldat im Zweiten Weltkrieg war, flüchtete meine Mutter (Jahrgang 1922) mit meiner Schwester (Jahrgang 1944) im Februar 1945 vor der heranrollenden russischen Armee.

Meine Eltern fanden sich im Westen durch Verwandte wieder.

Bei meiner Geburt 1966 war meine Schwester bereits selbst Mutter (1964 Geburt meines Neffen).

Mein Vater starb 1967 an einem Herzinfarkt.

Meine Mutter und ich lebten von 1967 bis 1980 zu zweit in Bremen, dann starb auch sie. Sie hat mir sehr früh sehr viel von ihren Flucht- und Kriegserlebnissen berichtet. Das hat sich in meiner Erinnerung sehr manifestiert.

Ich verbrachte die folgenden dreieinhalb Jahre in der Familie meiner Schwester. Sie hatte in dieser Zeit die Vormundschaft über mich.

Inzwischen bin ich seit fast 25 Jahren verheiratet und Vater von drei Kindern. Ich lebe mit meiner Familie im Rheinland.

Warum dieses Buch?

Diesem Buch geht eine sehr lange Zeit der Vorbereitung voraus. Tatsächlich handelt es sich dabei um mehrere Jahre, die ich brauchte, um dahinzukommen, wo ich jetzt bin. Undenkbar wäre es gewesen, damit zu beginnen, als es mir noch psychisch schlecht ging. Die Auseinandersetzung mit meiner Geschichte hätte meine Symptome verstärkt. Ich hätte mit diesem Buch nicht beginnen können und wäre vermutlich schon aufgrund der nicht vorhandenen und so notwendigen Konzentrationsleistung gescheitert. Und vor Angst.

Spätestens seit 2012, inzwischen also seit über sechs Jahren, muss ich mich mit dem befassen, was weit länger zurückliegt, als die bloße Anzahl an Jahren, die ich jetzt alt bin, um die Dinge zu erkennen, zu akzeptieren und zu überwinden, damit ich sagen kann: Es geht mir gut.

Dabei geht es um die psychologische Auseinandersetzung mit den Kriegsfolgen. Es geht um die Übertragung der Traumata, die Krisen, die Abgründe, die Dämonen und die Depressionen, die sich ereignet haben, ohne dass ich eine Wahl gehabt hätte. Ebenso werden die Auseinandersetzungen, die Furcht, die Selbstzweifel, die emotionalen Zerwürfnisse und oftmals eine Menge Traurigkeit eine Rolle in diesem Buch spielen. Auch meine psychische Erkrankung wird Platz brauchen und das Aufzeigen der Möglichkeiten, wieder gesund zu werden, das Erlebte zu betrauern und zu verarbeiten. Ich gehe davon aus, dass meine Geschichte sehr deutlich davon erzählt, was der Krieg an sich mit Menschen macht und welchen Preis er selbst noch von den nachfolgenden Generationen fordert. Letztlich reihe ich mich ein in eine inzwischen zur Verfügung stehende ganze Folge verwandter Publikationen zu diesem Thema, dessen bin ich mir bewusst. Teilhaben lassen möchte ich dennoch die Leserinnen und Leser an meiner Geschichte und daran, wie ich mit ihr umgegangen bin und umgehen musste, um noch am Leben zu sein. Vielleicht wird es den einen oder anderen bestärken oder zumindest ermutigen, sich auf seinen eigenen Weg zu machen.

Dass dies notwendig ist für jeden Einzelnen, der es in sich spürt, hat nicht zuletzt Matthias Lohre, Autor des Buches Das Erbe der Kriegskinder: Was das Schweigen der Eltern mit uns macht, in seinem Artikel in der Zeit vom Oktober 2014 sehr genau auf den Punkt gebracht, wenn er darin schreibt: „Millionen Traumatisierte (Kinder, die den Krieg erlebt hatten) sahen im Gründen einer Familie die Chance, die Liebe zu erfahren, die ihnen früh versagt geblieben war. Beängstigende Gefühle hielten die zu Eltern gewordenen Kriegskinder mit aller Kraft fern. Häufig zum Preis schwerer Depressionen oder scheinbar grundloser Wutausbrüche. Die Folge war eine trügerische Ruhe, von Kriegsenkeln in der Erinnerung häufig als Nebel oder bleierne Schwere beschrieben."

Doch wer nicht fühlt, kann nicht mitfühlen – etwa mit den eigenen Kindern. Die Unfähigkeit zu trauern, pflanzte sich im Nachwuchs fort – als Unfähigkeit zu vertrauen. Der geburtenstärkste Jahrgang der Nachkriegszeit ist gerade mal über 50 Jahre alt.

Und: Wer Not und Hunger litt, kann die Ursache seiner Leiden leicht benennen: den Krieg. Wer in wachsendem materiellem Wohlstand aufwuchs, dem fällt die Erklärung schwerer. Die Eltern als Verursacher der eigenen Seelennot zu identifizieren, kommt vielen Kriegsenkeln nicht in den Sinn. Wir meinten es doch nur gut. Sei nicht so undankbar: Wer mit solchen Botschaften aufgewachsen ist, den plagen als Erwachsener Schuldgefühle. Wer glücklich werden will, fühlt sich als Verräter an den unglücklichen Eltern. Oder er bleibt, wie sie, sich selbst emotional fremd. Denn wer als Kind nicht gesehen wurde, entwickelt keinen Blick für sich selbst.

Das Sammeln notwendiger Fakten, was die Familie, die Geschichte und den Stand der psychologischen Forschung betrifft, brauchte deutlich weniger Zeit und Aufwand.

Ich möchte davon berichten, wie es einem Menschen, der 1966 in der Generation der Babyboomer geboren wurde, ergehen kann, wenn er in eine Familie hineingeboren wird, in der der Krieg, die Flucht, die Vertreibung, die Verluste, die Toten, der Dienst des Vaters in der Wehrmacht und somit das Mitläufertum, die Verfolgung von Teilen der Familie und die Entwurzelung in der Erinnerung eine viel größere Rolle gespielt haben als das Dasein in der Wirklichkeit.

Berichten muss ich von dem Missbrauch, der an mir begangen wurde, davon, dass ich schon als Vorschulkind genau wusste, was Krieg ist, wie er sich anfühlt, wie er sich anhört und wie er riecht. Gerne würde ich von meiner Mutter als einem Menschen erzählen, den ich geliebt habe und der alles für mich getan hat. Die vielleicht schmerzhafteste Erkenntnis ist für mich, dass dies nicht der Fall gewesen ist.

Erzählen will ich von Dingen, die Mut machen: von meinem ersten Kontakt zu einem Trauerberater, von meiner inzwischen abgeschlossenen Analyse, von meiner Heilung und vom Gesundwerden. Es geht nicht alleine um die Überwindung und das Zurücklassen der Erfahrungen und Gefühle. Vielmehr wird es um die Integration, das Ganzwerden und die Lebensfähigkeit gehen.

Zudem will ich davon berichten, wie einfach aus Abwertung in der Folge Selbstabwertung werden kann, die als Bürde für das ganze Leben seine Wirksamkeit zeigt.

Jetzt bin ich so weit. Bisher dachte ich immer, den Boden unter den Füßen zu verlieren, mich selbst zu verlieren, wenn ich von meiner Vergangenheit berichte. Oder dem Wahnsinn verfalle. Scheinbar haben mich die Analysestunden so stabilisiert, dass ich es mich traue. Ich kann beginnen zu schreiben. Etwas mehr Mut zu haben, ist eine der wichtigen Lektionen, die ich gelernt habe. Heute kann ich sagen, dass ich das Leben so nehme, wie es mir gegeben wurde. Gerade dies ist ein Satz, mit dem ich sehr lange gerungen habe.

Ich bin niemand, der sich hinsetzt und mit dem Schreiben beginnen kann. Einige Autoren können das. Tatsächlich brauchte ich einige Jahre für das Konzept und vor allem dafür, dass mich die hier beabsichtigte Reflexion meiner Geschichte in einem erträglichen Selbstempfinden hält und ich mich nicht wie sonst in einem Dauerzustand der Regression aufhalte. Leiden habe ich gelernt. Leiden will ich mit diesem Buch nicht.

Hineingeboren in die Geschichte

Geboren wurde ich am 16. April 1966 im Krankenhaus St.-Jürgen-Straße in Bremen. Meine Mutter war zum Zeitpunkt meiner Geburt 44 Jahre, mein Vater 50 Jahre alt. Niemand konnte ahnen, dass mir mit meiner Mutter nur knappe 14 Jahre und mit meinem Vater nur noch ein Jahr Zeit blieb. Dann waren sie fort, gestorben, und ich noch einsamer als in der Zeit zuvor mit ihnen.

Wir waren eine Flüchtlingsfamilie, ein Zustand, der bis zum heutigen Tag Auswirkungen und sich ganz tief in mein emotionales Gedächtnis eingebrannt hat. Genau genommen waren meine Eltern die Flüchtlinge, nicht ich.

Sie hatten durch den Zweiten Weltkrieg ihre Heimat in Labes im Kreis Regenwalde in Hinterpommern verloren und zumindest von meiner Mutter kann ich mit klarem Bewusstsein sagen, dass dies zum intensivsten und alles bestimmenden Teil ihrer Identität wurde. Durch den Umstand, dass ich nur im Zusammenhang mit ihren Kriegserfahrungen eine zärtliche Nähe zu ihr aufbauen konnte, niemals sonst, ist dieses Schicksal auch zu einem wesentlichen Teil meiner eigenen Identität geworden.

Ursprünglich stammte meine Mutter aus Labes, das heute Lobez heißt und polnisch ist. Dort war sie, wie sie mir erzählte, als viel zu früh geborenes Kind am 26. Januar 1922 zur Welt gekommen und nur Dank vorhandener Ziegenmilch am Leben geblieben. Ihre Eltern, Minna und Otto Holländer, und ihr Halbbruder Walter aus der ersten Ehe meiner Großmutter hätten einige Wochen lang um das Leben des kleinen Mädchens gebangt. Meine Großeltern kenne ich nur von Fotos und von ihren ehemaligen und längst eingeebneten Gräbern auf dem Achimer Friedhof. Otto Holländer, so zeigen es die Aufnahmen aus der damaligen Zeit, war ein kleiner schlanker Mann mit einem Gesicht, das auf den Fotos wie wettergegerbt aussieht, und arbeitete zunächst in der Landwirtschaft und später als Rangierer bei der Eisenbahn. Minna Holländer, die auf den Bildern aussieht wie so viele vergrämte hinterpommersche Landfrauen aus dieser Zeit, hatte immerhin ihren ersten Mann, Walters Vater, verlassen, weil der nach seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg zu trinken angefangen hatte und auch seine Wut nicht mehr zu kontrollieren gewusst haben soll.

Mein Vater stammt aus Gollnow in Westpommern, einer Stadt unweit von Stettin, die von Labes lediglich 70 Kilometer entfernt liegt. Er wurde dort am 19. April 1916 geboren. Von seinen Eltern und von seinem Aufwachsen weiß ich verhältnismäßig wenig. Es soll sich um eine kinderreiche Familie gehandelt haben, in der gerne musiziert und gefeiert wurde. Erinnerlich sind mir die Erzählungen meiner Mutter, wonach mein Vater einige Schwestern gehabt haben soll, doch bis auf eine Schwester, die es auch in den Westen geschafft hatte, sollen alle anderen Familienangehörigen im Verlauf des Krieges ums Leben gekommen sein. Die genauen Gründe sind mir dafür nicht bekannt. Auch scheint meine Mutter kein sehr ausgeprägtes Verhältnis zu ihren Schwiegereltern gehabt zu haben. Sie kamen gar nicht in ihren Erinnerungen, von denen sie mir seit Beginn meines Lebens viel erzählt hat, vor. Im Zusammenhang mit den Schwestern meines Vaters kann ich mich sehr gut daran erinnern, dass bei den Erzählungen meiner Mutter über das Verhältnis zu ihnen immer eine Spur Eifersucht im Spiel war. Eine deutlich gespannte eifersüchtige sprachliche Atmosphäre breitete sich bei uns aus, wenn sie über sie sprach.

Kennengelernt haben sich meine Eltern um 1940 herum, als meine Mutter als 18-Jährige zum sogenannten Reichsarbeitsdienst nach Gollnow, das heute den Namen Goleniów trägt, eingezogen wurde. Diese Fahrt mit der Eisenbahn nach Gollnow scheint meiner Mutter, die aufgewachsen war in einer Ortschaft namens Labes im Kreis Regenwalde, heute Łobez in Polen, die 1925 aus 6.088 vorwiegend protestantischen Einwohnern bestand, einigermaßen schwergefallen zu sein. Sie wird zum ersten Mal ihre Eltern und ihre beiden Brüder für einen längeren Zeitraum verlassen haben. Bemerkenswert finde ich heute, dass bei der Bevölkerungszahl angegeben werden kann, dass es genau 42 Katholiken und 43 Juden gewesen sein sollen, die einberechnet wurden.

Der Reichsarbeitsdienst (abgekürzt RAD) war eine Organisation im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Das Gesetz für den Reichsarbeitsdienst wurde am 26. Juni 1935 erlassen. § 1 (2) lautete: „Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts sind verpflichtet, ihrem Volk im Reichsarbeitsdienst zu dienen. § 3 (1) lautete: Der Führer und Reichskanzler bestimmt die Zahl der jährlich einzuberufenden Dienstpflichtigen und setzt die Dauer der Dienstzeit fest." Zunächst wurden junge Männer (vor ihrem Wehrdienst) für sechs Monate zum Arbeitsdienst einberufen. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Reichsarbeitsdienst auf die weibliche Jugend ausgedehnt.

Vielleicht ist es nur eine romantisierte Geschichte, vielleicht stimmt es auch, dass meine Eltern sich auf dem Bahnhof Gollnow kennengelernt haben. Ob Romantik oder nicht schenke ich ihr gerne Glauben. Der junge 24-jährige Hermann Schick soll meine Mutter Lilith angesprochen und gefragt haben, ob er ihren scheinbar schweren Koffer für sie zu der für sie vorgesehenen Unterkunft tragen dürfte. Am Ziel angekommen, habe er den Mut gefunden, sie um ein Wiedersehen zu bitten.

Meine Eltern entschieden sich, in Labes zu leben. Welche Gründe dazu führten, ist mir nicht bekannt. Erklärbar scheint es mir dadurch, dass meine Mutter eine ausgesprochen starke Verbindung zu ihren eigenen Eltern gehabt haben will. Vielleicht waren die Lebens- und Arbeitsumstände für meinen Vater, der Zimmermann gelernt hatte, in Labes deutlich günstiger als in Gollnow. Dort heirateten sie am 9. November 1940 in der St.-Marien-Kirche. Gerade dieses Datum ist es, das mich zutiefst verstört.

Vom 9. auf den 10. November 1938 brannten die Synagogen. Sie brannten in Deutschland. Sie brannten in Österreich. Sie brannten in der Tschechoslowakei. Der 9. November ist der Tag, an dem organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte und Gotteshäuser in Brand setzten. Es ist der Tag, an dem Tausende Juden misshandelt, verhaftet oder getötet wurden. Spätestens an diesem Tag konnte jeder in Deutschland sehen, dass Antisemitismus und Rassismus bis hin zum Mord staatsoffiziell geworden waren. Diese Nacht war das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit.

Lebten im 18. Jahrhundert nur zwei jüdische Familien in der Kleinstadt Labes, so erhöhte sich ihre Zahl in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich und erreichte gegen Mitte des Jahrhunderts mit ca. 170 Gemeindeangehörigen ihren personellen Zenit.

Die jüdische Gemeinde verfügte seit 1840 über eine Synagoge auf einem Hinterhofgelände an der Tempelstraße, der späteren Wrangelstraße; auch ein eigenes Friedhofsgelände – auf einem Hügel östlich des Ortes – stand den Juden aus Labes zur Verfügung, nachdem bis Anfang des 19. Jahrhunderts Verstorbene auf dem jüdischen Friedhof in Plathe beerdigt worden waren.

Durch Abwanderung jüdischer Familien in die Großstädte verringerte sich die Zahl der Gemeindeangehörigen seit Ende des 19. Jahrhunderts deutlich. Gegen Ende der Weimarer Zeit lebten nur noch wenige Familien in Labes. Aufgrund dieser Tatsache schlossen sich Mitte der Zwanzigerjahre die Juden aus Labes mit denen aus Wangerin zur „Vereinigten Synagogengemeinde Labes und Wangerin" – mit Sitz in Labes – zusammen.

Ausgerechnet an diesem Jahrestag haben meine Eltern geheiratet. Aus meiner heutigen Sicht irritierend, verwerflich, scheinbar dumm, entblößend und irgendwie belastend. Ich kann es nicht beurteilen, wie sehr sie verstrickt waren in die Ausuferungen des Nationalsozialismus. Anzeichen für eine tiefere Verantwortlichkeit als die des belastenden Mitläufertums sind mir nicht bekannt. Kenntnisse über eine potenzielle Mitgliedschaft in der NSDAP habe ich nicht.

Unpolitisch waren meine Eltern nicht und die Lebensumstände im November 1940 waren beileibe nicht dafür geeignet zu behaupten, man habe doch von allem nichts gewusst. Allerdings hat meine Mutter diese Generationenlüge vor mir auch niemals ausgesprochen. Gefragt habe ich nicht danach.

Im August 1940 hatte Hitler längst zum Luftangriff auf London und andere britische Städte starten lassen, hatte sich mit Mussolini getroffen, um eine unheilige Allianz gegen Frankreich und England zu beginnen, und einen Luftangriff auf Rotterdam in den Niederlanden befehligt. Dänemark und Norwegen waren bereits im April besetzt worden. Die belgische Armee leistete etwas länger Widerstand. Bis zum 16. Mai wurden die Festungen Lüttich, Namur und die Dyle-Stellung eingenommen, am 17. Mai Brüssel und tags darauf Antwerpen. Der sogenannte Westfeldzug hatte gestartet.

Das Konzentrationslager Sonnenburg, nur etwa 170 Kilometer von Labes entfernt, entstand am 3. April 1933 als frühes Konzentrationslager auf Initiative des preußischen Ministeriums des Inneren und der Justiz in Sonnenburg bei Küstrin (an der Oder) in einem ehemaligen Zuchthaus. Zunächst kamen die ersten 200 Gefangenen zusammen mit 60 SA-Hilfspolizisten aus dem Berliner Polizeipräsidium. Später erfolgte auf Anordnung des preußischen Gestapochefs die Deportation von Häftlingen aus der Strafanstalt Gollnow in Pommern nach Sonnenburg, wodurch die Zahl der Inhaftierten auf 1.000 Menschen anstieg. Das Konzentrationslager Sonnenburg wurde am 23. April 1934 geschlossen; das Zuchthaus bestand weiter.

Als der Zweite Weltkrieg sich dem Ende näherte und sowjetische Truppen heranrückten, ereignete sich im Zuchthaus Sonnenburg das größte Massaker an Inhaftierten in der Endphase des Zweiten Weltkriegs. Ebenso unterhielt das KZ Stutthoff in Pölitz, heute Police, und ebenfalls nicht weit entfernt von Stettin, ein Außenlager.

Zudem befand sich damals in Labes an der Bismarckstraße 9 die NSFK-Sturm 12/10, eine Unterabteilung des Nationalsozialistischen Fliegerkorps (NSFK), eine paramilitärische nationalsozialistische Organisation, die von 1933 bis 1937 die Aufgaben der paramilitärischen Ausbildung zunächst im Verborgenen (1933 bis 1935) und nach der Erlangung der Wehrhoheit im Rahmen der militärischen Luftgaureserve durchführte.

Diese ganzen äußeren Umstände müssen meine Eltern mitbekommen haben, auch wenn die Synagoge in Labes nicht zerstört wurde. Da geht kein Weg dran vorbei. Vor allem dadurch nicht, dass 1933 noch 38 Personen jüdischen Glaubens in Labes lebten, 1939, als meine Mutter selbst 17 Jahre alt war, nur noch elf.

Weiterhin erschien auch in Labes die antisemitische Wochenzeitung Der Stürmer und die Pommersche Zeitung, die über die Geschehnisse berichtet haben werden.

Ebenso informierten diese beiden Zeitungen die pommersche Bevölkerung recht sicher über die Nürnberger Gesetze, die auch als Rassengesetze oder Ariergesetze bekannt sind.

So institutionalisierten die Nationalsozialisten ihre antisemitische Ideologie auf juristischer Grundlage. Sie wurden anlässlich des 7. Reichsparteitags der NSDAP, des sogenannten Reichsparteitags der Freiheit", am Abend des 15. Septembers 1935 einstimmig vom Reichstag angenommen.

Als Kind vom Jahrgang 1922 wurde meine Mutter etwa 1928 eingeschult. Labes besaß eine eigene Volksschule. Selbst wenn Adolf Hitler erst 1933 offiziell die Macht in Deutschland errang, muss sie doch sehr viel alleine in der Schule vom nationalsozialistischen Menschenbild und vom Verschwinden jüdischer Mitschüler mitbekommen haben.

Einer Mitgliedschaft im BDM wird sich meine Mutter nicht entzogen haben können, gehörte es doch zur Pflicht. Der am 17. Juni 1933 zum Reichsjugendführer ernannte Baldur von Schirach erließ sogleich Verordnungen, die die bis dahin bestehenden, konkurrierenden Jugendverbände auflösten oder verboten. Durch die Zwangseingliederung

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