Der Freude auf der Spur: Sieben Schritte, um die Seele fit zu halten
Von Elisabeth Lukas
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Buchvorschau
Der Freude auf der Spur - Elisabeth Lukas
Autorin
Die Freude und die „fetten Jahre"
In der Bibel ist von „sieben fetten und sieben mageren Jahren" die Rede, um das Auf und Ab der wechselnden Lebensbedingungen des Menschen zu symbolisieren. In der Tat scheint es so zu sein, dass uns kein über die Zeiten andauernder Friede, Wohlstand und Luxus gewährt ist, weder im Leben des Einzelnen noch in der Geschichte der Völker. Wie Flut und Ebbe wechseln, so wechseln Phasen voller Kummer und Sorgen mit Phasen der Zufriedenheit – zumindest der potenziellen Zufriedenheit, das heißt mit Phasen, in denen wir mit unserem Dasein rundum zufrieden sein könnten (wenn wir es wären). Ich weiß, dies ist eine seltsame Umschreibung der sorglosen Lebensphasen, die ich da vorgenommen habe. „Potenzielle Zufriedenheit" klingt nicht nach unbeschwertem Glücklichsein, klingt nicht nach dem perfekten Gegenstück zum Unglücklichsein in der Not. Ein psychologischer Mechanismus stört nämlich die Balance von Leid und Freud. Ich will ihn anhand des oben genannten biblischen Motivs kurz erläutern.
Fragen wir uns zunächst, was für den Menschen günstiger wäre: wenn er zuerst die sieben fette Jahre und danach die sieben mageren Jahre erleben würde – oder umgekehrt: wenn er zuerst die sieben mageren Jahre durchlitte, um danach in die sieben fetten Jahre hinüberzuwechseln?
Unsere Vernunft plädiert sofort für die erste Variante. Wenn es stimmt, dass man um gewisse Armutsjahre nicht herum kommt, dann sollten diese möglichst einer reichen Periode folgen, in der man Vorräte anhäufen kann, die einem später helfen, die Armutsjahre zu überstehen. Ja, so spricht die Vernunft, doch sie steht, wie leider oft, allein auf weiter Flur. Kaum jemand verfügt über die Genügsamkeit und die Voraussicht, mitten im Überfluss Vorräte zur Seite zu legen. Im „Überfluss" fließt es eben, und die Schätze fließen immer wieder nach, wodurch fälschlich der Eindruck entsteht, dies sei die Norm.
Dabei ist das nicht einmal das Hauptproblem einer „überfließenden" Zeit. Das Hauptproblem besteht darin, dass sich Menschen an ihre jeweils vorfindlichen Umstände gewöhnen und sie nicht mehr als außergewöhnlich einstufen. So wird in Wohlstandszeiten der Wohlstand schnell zu etwas ganz und gar Gewöhnlichem, eben Vorhandenem, das niemand mehr hinterfragt oder auch nur besonders beachtet. Herumliegende, ohne große Anstrengung erworbene Schätze schätzt man nicht. Wieso auch? Geld ist da, Arbeitsplätze sind da, Häuser schießen aus dem Boden, der Freizeitmarkt boomt voller Angebote, Weltreisen werden erschwinglich … Wer soll sich da darüber freuen, dass er an jedem Tag genug zu essen hat? Wer soll jubeln über die Fülle an Bildungsangeboten, die ihm offenstehen? Wer kann seinen Kindern noch erklären, wie herrlich es ist, bei Sturm und Schnee eine wetterfeste Kleidung zu besitzen, selbst wenn sie nicht aus der Nobelboutique stammt? Die Freude ist es, die im Wohlstand glatt auf der Strecke bleibt, und die lässt sich nirgends kaufen.
Bereits kurz nach der Jahrtausendwende fiel den Kinderpsychologen ein eklatanter Anstieg suizidaler Jugendlicher in unserer „westlich orientierten" Gesellschaft auf, der bis heute anhält. Es handelt sich dabei nicht um eine Unmenge junger Menschen, die konkret Selbstmord planen würden, sondern um eine breite Schicht junger Menschen, deren Stimmung zwischen dumpfer Abschottungstendenz und lebensskeptischer Idealelosigkeit schwankt, angeheizt von einem unterschwellig aggressiven Frust ohne benennbaren Grund, dem viele (zumeist falsche) Gründe zugeordnet werden, was die Sache nicht verbessert. Wer Schuldige für seine schlechte Stimmung sucht, wird sie stets finden und häufig anklagen, und in den überwiegenden Fällen wird er dadurch lediglich seine mitmenschlichen Beziehungen beschädigen.
Kurzum, in „fetten Jahren ist es erfahrungsgemäß um die Freude der Bevorzugten schlecht bestellt. Nähern sich dann aber plötzlich die „mageren Jahre
, ist „Heulen und Zähneknirschen" angesagt. Erst über einen langen, qualvollen Umlernprozess voller Empörung, Unverständnis und psychischer wie moralischer Dekompensation wird allmählich rückschauend begriffen, was man alles gehabt (und verloren) hat und welche Gnade der Wohlstand eigentlich gewesen ist. Die Wertschätzung kommt zu spät, und Freude kommt logischerweise überhaupt nicht auf. Man ist intensiv damit beschäftigt, unter den ungewohnten Einschränkungen den simplen Alltag ohne größere Blessuren zu meistern.
Dies allerdings ist nicht ohne Chancen. Die neuen Erkenntnisse sowie das (erzwungene) Zurückstecken-Müssen, Arbeiten-Müssen, Sich-bewegen-Müssen, Kreativ-sein-Müssen, Bescheiden-sein-Müssen etc. tun den Menschen eher gut. Allmählich passen sie sich an die kargen Ressourcen an und nützen sie nach Kräften. Langsam merken sie auch, dass widrige Umstände Solidarität erfordern, und rücken zusammen. Die Blüten „Neid und „Konkurrenz
welken im allgemeinen Notstand, wohingegen die gegenseitige unentgeltliche Unterstützung ihre Renaissance feiert. Es ist ein seltsames und dennoch nicht verwunderliches Faktum, dass laut breit angelegten Umfragen die Zufriedenheit mit dem Leben in den kargen und ausgebeuteten Entwicklungsländern durchschnittlich doppelt so hoch ist wie in den Industrieländern, in denen wiederum dank der modernen medizinischen Versorgung die Lebenserwartung doppelt so hoch ist wie in den Entwicklungsländern. Wahrlich eine verrückte Welt! Kurzum, in „mageren Jahren" arrangiert man sich, und mit der Zeit spürt man immer weniger, dass einem etwas fehlt. Nachkriegskinder wie ich haben zum Beispiel weder Puppe noch Teddybär vermisst – eine Dose mit ein paar Knöpfen und Bändern oder ein Stück Papier und ein Bleistift genügten seinerzeit vollauf als Spielzeug …
Kündigen sich dann jedoch plötzlich „fette Jahre (Stichwort „Wirtschaftswunder
) an (was den Entwicklungsländern nur zu wünschen wäre!), ist der Jubel gewaltig. Es ist kaum zu fassen, was sich da plötzlich an Möglichkeiten eröffnet, und zwar nicht bloß finanzieller Natur. Mit Freude wird der heraufdämmernde Luxus begrüßt. Man kann sich endlich das ersehnte Fahrrad kaufen, und sogar ein Auto rückt in ansparbare Nähe. Man kann sich gelegentliche Theaterbesuche leisten und auch noch hübsch dafür kleiden. Man kann eine Landkarte ausbreiten und von exotischen Urlaubszielen träumen. Man darf seine Bildung erweitern und auf einen besseren Arbeitsplatz hoffen. Viele Sehnsüchte bekommen einen Realitätsbezug, und – natürlich – neue Sehnsüchte erwachen. Letzteres dämmt freilich die Freude wieder ein, denn in dem Augenblick, da sich Menschen an permanente Wunschbefriedigungen gewöhnen, wollen sie immer mehr davon. Es sinkt die Zufriedenheit mit dem Vorhandenen, es steigt die Geringschätzung der sprudelnden Möglichkeiten, und es breitet sich neuerlich jener „Sättigungsfrust aus, der die Wohlstandskinder (und genauso die „Wohlstandserwachsenen
) in ein chronisches Unbehagen versetzt.
Durchforstet man die geschilderten Rhythmen auf ihr „Freudepotenzial", zeigt sich, dass die Übergangsphase von der Armut zum Reichtum (analog: von der Krankheit zur Gesundheit, von der Einsamkeit zur Partnerschaft usw.) am vielversprechendsten ist. Es gehört zum Wesen der Freude, dass sie ursprünglich aus einer Entbehrung stammt. Sie ist eine Tochter des (freiwilligen oder unfreiwilligen) Verzichts, der sich mit einer (klar bewussten) Wertschätzung gepaart hat. Wer 70 Paar Schuhe in seinem Schrank liegen hat, kann sich über das 71. Paar Schuhe, das er ersteht, einfach nicht unbändig freuen, beim besten Willen nicht. Wer hingegen nur ein Paar Sommerschuhe und ein Paar Winterschuhe besitzt und sich dann noch ein drittes Paar dazu aussuchen darf, dessen Herz mag laut klopfen. Ähnlich wird jemand, der alle Tage in Gourmetrestaurants diniert, einem knusprigen Wiener Schnitzel kaum Aufmerksamkeit schenken. Ein Armer hingegen, der von Brot und Kartoffeln lebt, würde es im Unterschied dazu wahrlich genießen. Die Freude stillt eine Sehnsucht – und ohne Sehnsucht, ohne zumindest eine Zeitlang unerfüllte Sehnsucht gibt es keine Freude!
Ein seelischer Kraftspender
Fragen wir uns, ob es überhaupt wichtig ist, sich zu freuen? Offenbar kann man auch ohne Freude „funktionieren", und dies ziemlich lange. Laut Statistik vollbringt ein erheblicher Prozentsatz aller Arbeitnehmer Tag für Tag ohne Freude durchaus akzeptable Leistungen. Auch in den Familien werden zahllose anfallende Aufgaben erledigt, ohne der Freude daran zu bedürfen. Der Druck von außen (Fremdkontrolle) und von innen (Pflichtbewusstsein) reicht aus, um Menschen zu den notwendigen Handlungen zu motivieren; und das Leben selbst mit seinen knallharten Konsequenzen schlägt noch dazu in dieselbe Kerbe. Je