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Logotherapie und Existenzanalyse: Viktor E. Frankl, Elisabeth Lukas und Alfried Längle. Eine Einführung
Logotherapie und Existenzanalyse: Viktor E. Frankl, Elisabeth Lukas und Alfried Längle. Eine Einführung
Logotherapie und Existenzanalyse: Viktor E. Frankl, Elisabeth Lukas und Alfried Längle. Eine Einführung
eBook209 Seiten2 Stunden

Logotherapie und Existenzanalyse: Viktor E. Frankl, Elisabeth Lukas und Alfried Längle. Eine Einführung

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Über dieses E-Book

Seit ihrer Publikation Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre sind die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor E. Frankls zumal unter kirchlich engagierten Beratern und Therapeuten auf großes Interesse gestoßen. Denn sie werden nicht nur weithin als mit dem christlichen Glauben vereinbar gesehen, sie lassen sich auch vom christlichen Glauben her verstehen und erlauben von daher die Hereinnahme seelsorglicher Elemente in das therapeutische Geschehen (und umgekehrt). Frankls Schülerin Elisabeth Lukas kann geradezu als Kronzeugin dafür gelten; andere - wie zum Beispiel Christa Meves - sind ihr darin gefolgt. Mit entscheidend dafür ist, dass es sich dabei um ein außenorientiertes Verfahren handelt, das die Heilung nicht von der Beschäftigung des Patienten mit sich selbst erhofft, sondern von seiner Ausrichtung auf den Sinn und die Werte, die ihm in seiner Lebenssituation entgegentreten, und von der Übernahme der Aufgaben, die sein Leben ihm stellt. Demgegenüber bedeutet die in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren von Alfried Längle vorgenommene Neuausrichtung von Logotherapie und Existenzanalyse eine entschiedene Abkehr von jedem Transzendenzbezug und eine ebenso entschiedene Hinwendung zur Innenorientierung. Dadurch wird aber das Original nicht weniger wertvoll. Es erneut ins Bewusstsein zu rufen und auf die vielfältigen Möglichkeiten hinzuweisen, die es nach wie vor bietet, ist das Anliegen dieser Publikation.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum30. Dez. 2014
ISBN9783738668186
Logotherapie und Existenzanalyse: Viktor E. Frankl, Elisabeth Lukas und Alfried Längle. Eine Einführung
Autor

Reinhard Scheerer

Dr. Reinhard Scheerer war lange Jahre als theologischer Lehrer tätig, zunächst als Dozent für neuere Kirchengeschichte an der Freien Universität Norddeutschland mit Sitz in Seevetal bei Hamburg, dann als Professor für Theologie und Philosophie am Nile Theological College in Khartum (Sudan).

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    Buchvorschau

    Logotherapie und Existenzanalyse - Reinhard Scheerer

    Lehrbücher aus dem Institut für Seelsorgeausbildung Band 5

    Für Esther

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Der lexikalische Befund

    Eine erste Annäherung - Viktor E. Frankl

    Von der Psychoanalyse zur Logotherapie

    Die Sinnfrage in der Logotherapie

    Das Menschenbild der Logotherapie

    Exkurs: Frankl als Philosoph (I)

    Logotherapie und Religion

    Exkurs. Frankl als Philosoph (II)

    Die Logotherapie in der Praxis

    Die Arbeitslosigkeitsneurose

    Die noogene Neurose

    Die psychogene Neurose

    Paradoxe Intention und Dereflexion

    Ein zweiter Anlauf - Elisabeth Lukas

    Methoden und Techniken der Logotherapie

    Wider die herkömmliche Psychotherapie

    Der Sinnglaube in der Logotherapie

    Eine Zwischenbemerkung - Christa Meves

    Ein letzter Schritt - Alfried Längle

    Logotherapie

    Existenzanalyse

    Rückblick und Ausblick

    Literaturverzeichnis

    Vorwort

    Seit Auschwitz wissen wir, wessen der Mensch fähig ist. Und seit Hiroshima wissen wir, was auf dem Spiel steht. Das ist der erste Satz Viktor E. Frankls, den ich erinnere - und der mir auch sein Lebenswerk, die Logotherapie, sympathisch gemacht hat, lange bevor ich sie wirklich kennen lernte. Denn was mich seinerzeit beeindruckte, das war der Ernst, mit dem Frankl in seinem Vortrag an der Weltkonferenz Die Rolle der Universität im Kampf um den Frieden vom 25.-29. August 1969 in Wien dazu aufrief, aus dem Glauben an den einen Gott nun auch die Konsequenz des Wissens um die eine Menschheit zu ziehen: Anders sei ein Sinn, der für alle gilt, nicht darstellbar. Dabei blieb sich Frankl in seinem Engagement für den Frieden auch als Neurologe und Psychiater treu - ganz einfach deshalb, weil sich für ihn dieser Einsatz aus seinem Menschenbild ergab - weil sich der Mensch für ihn nicht in einem Interesse an seinen eigenen inneren Befindlichkeiten erschöpft, sondern auf die Welt hingeordnet ist und allenfalls so tun kann, als wäre er es nicht.

    Von daher wurde Frankl nicht müde, immer wieder aufzurufen: Die Welt liegt im Argen; aber es wird alles nur noch viel ärger werden, wenn nicht jeder einzelne sein Möglichstes tut. Und das ist nicht eben wenig - wenn man sich nur darauf einlässt, dass der Mensch mehr ist als ein Mutationsergebnis, mehr als das bloße Produkt von Erbe und Umwelt, mehr als das Produkt sozioökonomischer Bedingungen. Und auch darauf wies Frankl immer wieder hin. Dabei schreckte er, zumal in der Auseinandersetzung mit einer vermeintlichen Tiefenpsychologie, die ihre Patienten mehr oder weniger regelmäßig auf ihr Ego einschränkt, auch vor deutlicher Kritik nicht zurück. Und auch das sprach mich an: Hier meldete sich eine Stimme zu Wort, die Selbstverwirklichung und Sinnverwirklichung nicht nur zusammenschaute, sondern in eins setzte - eine für mich zu Beginn meines Studiums in der weltflüchtigen Atmosphäre des Psychobooms der 70er Jahre nachgerade befreiende Entdeckung.

    Von daher griff ich dann natürlich auch zu den Schriften der Frankl-Schülerin Elisabeth Lukas. Sie stellte mir mit einer ihrer Formulierungen so etwas wie die nicht-religiöse Interpretation meines Lebens in der Nachfolge zur Verfügung. So betonte Lukas nicht nur: Das Glück ist nicht, dass jemand sagen kann: 'Mir geht es gut'. Das Glück ist, wenn jemand sagen kann: 'Ich bin für etwas gut'. Sondern sie versicherte jedem, der es hören wollte, mit gleichem Ernst: Du bist hier und jetzt zu etwas gerufen, du wirst gebraucht, dein Beitrag verändert die Welt, und sei er noch so winzig! Auf dich richtet sich eine Hoffnung der Welt, die sich, wenn du es willst, erfüllen könnte. Kümmern wir uns nicht um Lohn und Anerkennung seitens unserer Mitmenschen. Ihr Dank ist zwar eine sehr angenehme 'Draufgabe', aber das Wesentliche ist er nicht. Das Wesentliche ist diese uns ständig begleitende Hoffnung, die sich auf uns richtet, die Hoffnung, dass wir das Unsrige erbringen, die Welt in der wir leben, ein wenig heller und heiler zu gestalten....

    Dennoch dauerte es noch einmal gut drei Jahrzehnte, bis ich mich Frankl ernsthaft zuwandte und - von April 2009 bis Dezember 2011 - eine zweieinhalbjährige Ausbildung in Logotherapie und existenzanalytischer Beratung machte. Sie machte mich freilich nur noch neugieriger auf diesen Mann und auf seine Ideen, konnte ich im Verlauf dieser Ausbildung doch feststellen, dass ich vieles von dem, was mir da nahe gebracht wurde, bereits kannte und als Heilpraktiker für Psychotherapie längst erfolgreich genug praktizierte. Dieser Neugier verdanken sich auch die nachstehenden Ausführungen. Ich habe sie eine Einführung genannt; tatsächlich handelt es sich dabei jedoch um den Versuch einer Aneignung. Von daher trägt sie streckenweise den Charakter einer Zusammenstellung der für mich treffendsten Formulierungen Frankls; dabei werden sich Wiederholungen nicht immer vermeiden lassen¹. Denn Frankl hat zwar viel publiziert, im Kern aber immer wieder dieselben Gedanken variiert und sich dabei - wiederum: für mich - einmal mehr, einmal weniger überzeugend ausgedrückt. Andererseits konnte und wollte ich aber auch auf die eine oder andere kritische Anmerkung nicht verzichten: Anders als Frankl bin ich kein Arzt, sondern Heilpraktiker. Und anders als Frankl bin ich auch kein Philosoph - nach seiner Promotion zum Dr. med. im Jahre 1930 promovierte Frankl 1948/49 auch noch zum Dr. phil. mit einer Arbeit unter dem Titel Der unbewusste Gott -, sondern Theologe. Von daher gehen diese Ausführungen aber auch über Frankl hinaus; seinen Erben, Elisabeth Lukas und Alfried Längle, ist je ein eigener Abschnitt gewidmet.


    1 An dieser Stelle sei wenigstens anmerkungsweise auf eine weitere Schwierigkeit hingewiesen: In den verbreiteten Sammelbänden - die auch die Grundlage dieser Arbeit darstellen; eine kritische Gesamtausgabe der Werke Frankls war für mich nicht erreichbar - werden dieselben Vorträge Frankls teils unter verschiedenen Titeln, teils in unterschiedlichen Fassungen angeboten und Auszüge aus andernorts bereits erschienenen Publikationen nicht immer als solche gekennzeichnet.

    Der lexikalische Befund

    Sucht man in den einschlägigen Lexika nach einer ersten Orientierung zum Thema, dann erfährt man beispielsweise, dass die Logotherapie die psychotherapeutische Technik in der Existenzanalyse sei, oder - anders herum - dass aus der existenzanalytischen Theorie eine eigene Behandlungsmethode, eben die Logotherapie, abgeleitet werde. Diese Theorie sei stark am philosophischen Daseinsbegriff Heideggers und an der Phänomenologie Husserls orientiert. Damit bewegten wir uns in der Begrifflichkeit der anthropologischen Medizin, im Rahmen einer daseinsanalytischen psychotherapeutischen Konzeption, der es darauf ankomme, das Gesamt der Bezüge des erkrankten Individuums zur Welt, den Daseinsvollzug, in den Blick zu bekommen und nicht einseitig auf die Krankheitssymptome oder den Krankheitsverlauf zu schauen. In dem Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, medizinische Psychologie heißt es denn auch: Die Daseinsanalyse geht somit von einem philosophischen Konzept aus. In der Anwendung auf die Psychiatrie ist das Ziel, den schizophrenen Kranken aus den Begriffssystemen der traditionellen Psychiatrie herauszulösen und ihm eine Menschlichkeit im Sinne der Existenzphilosophie zurückzugeben. Die traditionelle Unterscheidung zwischen endogenen, exogenen und psychogenen psychischen Erkrankungen verliert damit an Bedeutung.² Der in diesen Zeilen mitschwingende Vorbehalt ist deutlich genug - und beruht doch nur auf der (Selbst-)Täuschung, als gäbe es psychotherapeutische Konzeptionen, die nicht von einem philosophischen Konzept ausgingen - und sei dies die deterministische Weltsicht der Newtonschen Physik, auf der bekanntlich die Begriffssysteme der klassischen Psychiatrie und mit ihr die Reduktion des kranken Menschen auf seine Krankheit beruhen.

    Ein ganz anderer - und dann doch wieder nur derselbe - Vorbehalt spricht aus dem Wörterbuch der Psychoanalyse, wenn es die Daseinsanalyse einerseits als Sammelbezeichnung aller phänomenologischen Strömungen in der Psychotherapie definiert, andererseits aber auf die auf Ludwig Binswanger zurückgehende therapeutische Methode reduziert, welche die freudianische Psychoanalyse mit der Phänomenologie Heideggers verbindet. Dabei wird das Subjekt in einer dreifachen Dimension gesehen: in seiner Beziehung zur Zeit, zum Raum und zur Welt.³ Denn damit erscheint auch hier wieder die Logotherapie - den Begriff Existenzanalyse kennt das Wörterbuch der Psychoanalyse nicht - als unwissenschaftlich, da sie das freudianische Triebkonzept und Freunds Vorstellung vom Es ablehne und statt dessen die Vorstellung eines spirituellen bzw. existentiellen Unbewussten als eines vornehmen Teils des Seelenlebens bevorzuge.

    Hier wie dort scheint Abgrenzung, wenn nicht Abwertung die Devise. Das gilt auf seine Weise wohl auch für das Wörterbuch der Analytischen Psychologie, insofern es keines der bislang genannten Stichworte - Logotherapie, Existenzanalyse, Daseinsanalyse - kennt⁴. Dieses Bemühen um Abgrenzung bzw. Abwertung prägt interessanterweise aber auch das Handwörterbuch der angewandten Psychologie. Denn hier ist es eine Vertreterin der Logotherapie selbst, die nicht nur die Unterschiede zwischen dem logotherapeutischen und dem psychoanalytischen, individualpsychologischen oder verhaltenstherapeutischen Vorgehen deutlich macht, sondern in ihrer Kommentierung einer gesprächspsychotherapeutischen Krisenintervention das relative Ungenügen der Gesprächspsychotherapie herausstellt: Gelte in der Gesprächspsychotherapie ein Gesprächsverlauf schon dann als erfolgreich, wenn sich der Klient von seinem Therapeuten verstanden fühle, sei dies in der Logotherapie erst dann der Fall, wenn der Klient selber verstanden hat, was auf seinem Wege Wert ist, auf Rückzüge zu verzichten und tapfer voranzuschreiten, und was nicht.⁵ Denn: Der Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl (1905 - 1997) stelle neben den Willen zur Lust (Freud) und den Willen zur Macht (Adler) den Willen zum Sinn. Dieser Sinn lasse sich nach Frankl nicht nur im ungestörten Schaffen, Erleben und Lieben finden, sondern auch in der Art und Weise, wie sich Menschen zu einer Leidenssituation stellen, deren Ursache sich nicht beseitigen lasse. Werde dieser Sinn nicht erfüllt, entstehe ein existentielles Vakuum. Das führe zu einem mit einem Sinnlosigkeitsgefühl einhergehenden Leere-Gefühl, charakterisiert durch Langeweile, Gleichgültigkeit, Interesselosigkeit und Mangel an Initiative. Diese existentielle Frustration sei jedoch nichts Krankhaftes, sondern zunächst einmal Ausdruck des Bestrebens, einen solchen Sinn nicht von anderen zu übernehmen, sondern eigenverantwortlich danach zu suchen. Sobald sich dieses existentielle Vakuum jedoch in Form neurotischer Symptome zeige, spreche Frankl von noogener Neurose. Diese Neurose breche dann aus, wenn sich - beispielsweise durch besondere Lebensumstände oder körperliche Krankheiten - aus dem Verlust der für einen Menschen spezifischen Sinn- und Wertmöglichkeiten eine geistige Not ergebe. Dann sei Logotherapie angezeigt, weil sie dem Leidenden dabei helfe, den Sinn seiner Existenz analytisch zu erhellen und in seinem Leben konkrete Sinnmöglichkeiten aufzuspüren.


    2 Uwe Henrik Peters, Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, medizinische Psychologie. Mit einem englischdeutschen Wörterbuch als Anhang. München: Urban & Fischer 2000, S. 109

    3 Elisabeth Roudinesco / Michel Plon, Wörterbuch der Psychoanalyse. Namen, Länder, Werke, Begriffe. Aus dem Französischen übersetzt von Christoph Eissing-Christophersen, Michael Ramaharomanana, Franziska Roelcke und Michael Wiesmüller. Wien: Springer 2004, S. 169

    4 Lutz Müller / Anette Müller (Hg.), Wörterbuch der Analytischen Psychologie. Düsseldorf: Walter 2003

    5 Elisabeth Lukas, Art. Logotherapie, in: Angela Schorr (Hg.), Handwörterbuch der angewandten Psychologie. Die angewandte Psychologie in Schlüsselbegriffen. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag 1993, S. 452

    Eine erste Annäherung - Viktor E. Frankl

    Diese kurz gefasste Darstellung von Logotherapie und Existenzanalyse wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Um so lohnender ist die Beschäftigung mit den Schriften des Begründers der Logotherapie, Viktor E. Frankl⁶, selbst. Als Einstieg bietet sich dazu seine bekannteste Schrift an, ...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, ist sie doch zugleich - neben seiner Autobiographie⁷ - seine wohl persönlichste Veröffentlichung: Frankl wurde 1940 nach Theresienstadt deportiert, von dort nach Auschwitz, dann nach Kaufering III und schließlich nach Türkheim in Bayern verschleppt. Dort war er nicht mehr als ein gewöhnlicher Häftling, eben nichts als die bloße Nummer 119 104⁸, lebte von 650 Kalorien am Tag, wog zuletzt gerade noch 40 kg, und war dabei die meiste Zeit als Erdarbeiter und als Streckenarbeiter beim Bahnbau tätig. Nicht ohne Stolz bezeichnete sich Frankl von daher gelegentlich als Überlebenden von vier Konzentrationslagern. Dennoch war die Veröffentlichung dieses Bandes zunächst anonym geplant. Maßgeblich war mir hierfür meine Abneigung gegen ein Exhibitionieren von Erlebtem. Tatsächlich war die Niederschrift schon beendet, als ich mich davon überzeugen ließ, dass eine anonyme Veröffentlichung insofern entwertet würde, als der Mut zum Bekenntnis den Wert einer Erkenntnis erhöht. Daraufhin habe ich um der Sache willen auch auf nachträgliche Streichungen verzichtet...

    Was Frankl hier vorlegt, ist demnach eine Erlebnisschilderung, kein Tatsachenbericht, mit dem Ziel einer Passion des unbekannten Lagerinsassen; dazu beschreibt er in einem ersten Teil, durch welche Phasen der Entmenschlichung die KZ-Häftlinge gehen mussten. Vor allem aber interessiert ihn, wie es einigen von ihnen möglich war, trotzdem Ja zum Leben zu sagen¹⁰. So erzählt Frankl zunächst vom Aufnahmeschock in Auschwitz, von dem Schrecken, der ihn von daher überkam - so glaubte er, ein paar Galgen und an ihnen Aufgehängte zu sehen -, und davon, dass unter dem Eindruck der Ausweglosigkeit der Situation, der ständig lauernden Todesgefahr und des Todes der Mehrheit der nach Auschwitz Deportierten, nahezu jedem Häftling der Gedanke an Selbstmord kam. Gleichzeitig klammerten sie sich an die Hoffnung, es könne einfach nicht so schlimm sein. Noch konnte sich keiner vorstellen, dass ihnen buchstäblich alles weggenommen wurde, auch Frankl nicht. So versuchte er, sein erst 1941 fertiggestelltes Manuskript der Ärztlichen Seelsorge zu retten und wandte sich dazu an einen alten Häftling. Der beginnt zu verstehen, jawohl: zu Grinsen beginnt er übers ganze Gesicht, erst mehr mitleidig, dann mehr belustigt, spöttisch, höhnisch, bis er mit einer Grimasse mich anbrüllt und meine Frage mit einem einzigen Wort... quittiert... Er brüllt: Scheiße! Da weiß ich, wie die Dinge stehen. Ich mache das, was den Höhepunkt dieser ganzen ersten Phase psychologischer Reaktionen darstellt: ich mache einen Strich unter mein ganzes bisheriges Leben.¹¹ Was ihm, was allen in dieser Situation blieb, war die - im wahrsten Sinne des Wortes - nackte Existenz und mit ihr der Galgenhumor und eine die Welt objektivierende und den Menschen distanzierende Stimmung des Zusehens und Abwartens.

    Dann kam es allmählich zu einem inneren Absterben: Leidende, Kranke, Sterbende, Tote - all dies ist ein so geläufiger Anblick nach einigen Wochen Lagerleben, dass es nicht mehr rühren kann.¹² Dieses Gleichgültigwerden machte den Häftling bald auch unempfindlich für die Schläge, die ihn selbst trafen; schmerzlich an ihnen war nur noch der Hohn, der sie begleitete. Der Hunger rückte die bloße Lebenserhaltung in den Mittelpunkt des Interesses und führte zu einer radikalen Entwertung all dessen, was dem nicht diente. Diese Entwertung machte noch nicht einmal vor der eigenen Person halt: Unter der Suggestion einer Umwelt, die vom Wert menschlichen Lebens und der Würde menschlicher Personen schon längst nichts mehr weiß, die vielmehr den Menschen ausschließlich zum willenlosen Objekt einer Ausrottungspolitik gemacht hat, vor deren Endziel sie nur noch eine Ausnützungspolitik der letzten Reste physischer Arbeitsfähigkeit gesetzt hat -, unter dieser allgemeinen Suggestion muss schließlich auch das eigene Ich eine Entwertung erfahren.¹³ Der Mensch im Konzentrationslager verlor das Gefühl, überhaupt noch Subjekt zu sein. Das ihn beherrschende Gefühl, bloßer Spielball zu sein, ließ ihn jeder Initiative

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