Typen und Temperamente: Die vier Persönlichkeitsstrukturen
Von Reinhold Ruthe
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Typen und Temperamente - Reinhold Ruthe
Reinhold Ruthe
Typen und
Temperamente
Die vier Persönlichkeitsstrukturen
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
10. Auflage 2016
ISBN 978-3-96140-020-1
© 1998 by Joh. Brendow & Sohn Verlag, GmbH, D-47443 Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelgrafik: Shutterstock
Satz: Hans Winkens, Wegberg
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
www.brendow-verlag.de
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
I. Wir sind alle verschieden
1. Die Theorien
1.1 Die vier Temperamente nach Hippokrates
1.2 Grundformen der Angst
1.3 Ist Vererbung alles?
1.4 Die »Trotzmacht des Geistes«
2. Erfahrungen machen
2.1 Wie gewinnen wir Erfahrungen?
2.2 Welche Erfahrungen haben wir gemacht?
2.3 Lebensentwürfe und private Logik
2.4 Sind negative Erfahrungsmuster korrigierbar?
3. Persönlichkeitsstruktur als Charisma
II. Die vier Persönlichkeitsstile
Hilfen zum Verständnis
1. Die schizoide Persönlichkeit
1.1 Die Grundstruktur
1.2 Die Kindheit
1.3 Bevorzugte Berufe
1.4 Der schizoide Patient
1.5 Der Glaube
1.6 Der schizoide Mensch in der Beziehung
1.7 Die wahren Motive
1.8 Therapeutisch-seelsorgerliche Hilfe
2. Die depressive Persönlichkeit
2.1 Die Grundstruktur
2.2 Die Kindheit
2.3 Bevorzugte Berufe
2.4 Der depressive Patient
2.5 Der Glaube
2.6 Der depressive Mensch in der Beziehung
2.7 Die wahren Motive
2.8 Therapeutisch-seelsorgerliche Hilfe
3. Die zwanghafte Persönlichkeit
3.1 Die Grundstruktur
3.2 Die Kindheit
3.3 Bevorzugte Berufe
3.4 Der zwanghafte Patient
3.5 Der Glaube
3.6 Der zwanghafte Mensch in der Beziehung
3.7 Die wahren Motive
3.8 Therapeutisch-seelsorgerliche Hilfe
4. Die hysterische Persönlichkeit
4.1 Die Grundstruktur
4.2 Die Kindheit
4.3 Bevorzugte Berufe
4.4 Der hysterische Patient
4.5 Der Glaube
4.6 Der hysterische Mensch in der Beziehung
4.7 Die wahren Motive
4.8 Therapeutisch-seelsorgerliche Hilfe
Schlussbetrachtung
III: Praxis-Teil
1. Hilfen zur Selbsterforschung und für die seelsorgerliche Praxis
2. Fragebogen für die Kurzdiagnose
3. Hinweise zum Ausfüllen des Fragebogens
4. Testfragen
5. Testauswertung
Literaturhinweise
Stichwortverzeichnis
Vorwort
Vor einigen Jahren, es war an einem Sonntagmorgen, erlebten wir die folgende Begebenheit, die sicher Sonntag für Sonntag an vielen Orten so geschieht:
Wir kamen aus dem Gottesdienst und betrachteten die Besucher, die aus der Kirche strömten. Vor dem Gebäude bildeten sich kleine Grüppchen, die lebhaft oder gedämpft miteinander redeten. Im Gottesdienst hatte ein damals bekannter Evangelist sehr wortgewandt und lebendig über den 23. Psalm gepredigt. Gestenreich hatte er eindrückliche Bilder benutzt, die teilweise zum Schmunzeln anregten. Einmal hatte die gesamte Gemeinde lauthals gelacht.
Neben uns diskutierten einige Gottesdienstbesucher mittleren Alters über die Predigt. Die unterschiedlichen Urteile waren bezeichnend. Eine temperamentvolle Frau, die auch in der Gemeinde aktiv mitarbeitete, ließ ihre Begeisterung heraus: »Fantastisch! Das ist Feuer des Glaubens! Man spürt ihm die Vollmacht ab!«
Etwas außerhalb der Gruppe stand ein großer, stattlicher Herr. Er hatte bisher nichts gesagt, seine Gesichtszüge waren unbeweglich geblieben. Er schüttelte nur ungläubig den Kopf und sagte: »Der kann sich bloß gut verkaufen! Mir ist die nüchterne Predigt unseres Pastors lieber.« Zwei andere nickten und stimmten ihm zu. Ein junger Mann und eine ältere Frau überfielen ihn mit einem Wortschwall und brachten ihn lautstark zum Schweigen. Sie fühlten sich emotional angesprochen, waren begeistert und des Lobes voll über den Prediger und seine Predigt.
Unterschiedliche Eindrücke sind Realität
in unserer Kirche,
in der Politik,
in der Ehe und Familie,
im zwischenmenschlichen Zusammenleben.
Wir Menschen sind grundverschieden im Denken, Fühlen und Handeln. Unsere Persönlichkeitsstruktur ist einmalig und hilft uns, unser Leben nach unseren Vorstellungen und Glaubensüberzeugungen zu meistern.
Aber wie sind wir eigentlich? Und warum sind wir so, wie wir sind? Wie können wir unser Verhalten begreifen, unsere Motive ergründen, aus dem Kreislauf ewig wiederkehrender Probleme ausbrechen?
Dieses Buch möchte Ihnen vier Persönlichkeitsprofile vorstellen, mit deren Hilfe Sie lernen können,
sich selbst und andere besser zu verstehen,
Ihre Arbeitshaltung, Ihre Beziehungsprobleme und Ihren Erziehungsstil deutlicher zu erkennen,
Ihr Gefühlsleben mit seinen Stärken und Schwächen zu durchschauen,
Ihren Glaubensalltag und den Ihrer Mitmenschen barmherziger zu beurteilen,
Ihre Schattenseiten herauszufinden und anzugehen und
Ihre Gaben ausfindig zu machen und einzusetzen.
Dabei verwenden wir die verschiedenen Begriffe Persönlichkeitsstil,
-struktur
,
-profil
,
-merkmale
, Typen, Temperamente, Charaktereigenarten und Veranlagungen synonym.
Wozu soll das dienen?
Wir Menschen möchten gerne Ordnung in das Chaos unseres Lebens bringen, Klarheit und Übersicht haben, auch in uns selbst. Wenn es uns gelingt, Lebenspartner, Eltern und Freunde eher zu verstehen und die Beweggründe und Motive des Gegenübers besser zu erspüren, können wir ihnen barmherziger und liebevoller begegnen.
Selbsterkenntnis und Erkenntnis des Mitmenschen spielen im menschlichen und zwischenmenschlichen Leben eine große Rolle. Erkennen ist auch ein zentrales Wort der Bibel. Erkenntnis Gottes ist immer mit An-Erkenntnis verbunden. »Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin« (Ps 46,11).
Wahre Erkenntnis wird aber erst durch Liebe gewonnen. So wurde in ältester Zeit, von der Wurzel des Wortes ausgehend, erkennen für die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau gebraucht. »Adam erkannte seine Frau Eva« (1. Mose 4,11).
Wer den anderen erkennt, liebt ihn.
Wer den anderen erkennt, versteht ihn.
Wer den anderen erkennt, erhebt sich nicht über ihn.
Wer den anderen erkennt, hilft ihm.
Wer den anderen erkennt, wird sich aus Liebe verändern und umwandeln lassen.
Erkennen hat viel mit Liebe zu tun. Für das Lesen und Erforschen der Persönlichkeitsstile in diesem Buch gilt also: Erst die Liebe gibt der Erkenntnis den richtigen Stellenwert. Erkenntnis ohne Liebe ist sinnlos und nutzlos. Die Agape, die Liebe aus Christus, adelt unsere Erkenntnis und verhindert, das Wissen über uns und den anderen zu missbrauchen.
Wir möchten an dieser Stelle den weit über tausend Ratsuchenden danken, die unsere Fragen beantworteten und mit ihren Angaben unsere Untersuchungen möglich machten.
Ihr Selbstporträt-Test
Bevor Sie im Buch weiterlesen, bitten wir Sie, folgende Dinge zunächst zu bedenken:
Wenn Sie ein relativ genaues Testprofil über Ihre Person erstellen möchten, beantworten Sie die Fragen auf den Seiten 191–199 vor dem Weiterlesen. (Sie sind dann nicht voreingenommen.) Eine Testauswertung finden Sie im Anschluss daran.
Auf den Seiten 186–188 finden Sie eine hilfreiche Kurzdiagnose, die Ihre wesentlichen Verhaltensmuster und Persönlichkeitsmerkmale hervorhebt.
Dort kreuzen Sie die Zahlen an, die nach Ihrer Überzeugung am ehesten Ihr Lebensgefühl widerspiegeln.
0 heißt: Sie können sich weder für die linke noch für die rechte Seite entscheiden.
5 heißt: Dieses Verhaltensmuster ist bei Ihnen stark ausgeprägt.
Ihr Partner, Ihr Lebensgefährte, ein Freund oder eine Freundin können ebenfalls die Verhaltensmuster ankreuzen, die für Sie zutreffend sind. Anschließend können Sie sich über Stärken, Überzeugungen und Gewohnheiten Gedanken machen, die Ihnen im Zusammenleben Freude oder Nöte bereiten.
I. Wir sind alle verschieden
KAPITEL 1
Die Theorien
Jeder Mensch ist einmalig, das wissen wir. Keine zwei Individuen sind völlig gleich. Nicht einmal zwei Fingerabdrücke stimmen weltweit überein. Bestimmte Völker verkörpern zwar ähnliche Merkmale. Sie haben eine gleiche Hautfarbe, eine bestimmte Augenstellung, eine charakteristische Nasen- und Ohrenform, wulstige oder schmale Lippen, gedrungene oder lang gezogene Körperformen. Und doch sind alle Menschen – beim näheren Hinsehen – einmalige Individuen. Im Fühlen, Denken, Handeln und im Aussehen sind sie Originale. Gott hat in seiner Weisheit Menschen, Pflanzen und Tiere in unvergleichbarer Einzigartigkeit erschaffen. Kein Blatt an Buche, Eiche oder Birnbaum gleicht dem anderen. Gott hat schöpferische Wunder vollbracht.
Seit Menschen die Erde bevölkern, hat es Versuche gegeben, den Menschen in seiner Einmaligkeit besser zu verstehen und seine Eigenarten und Verhaltensmuster einzugruppieren. Es gibt unzählige Schlüssel, das Rätsel Mensch »aufzuschließen« und sein Wesen zu erfassen.
1.1 Die vier Temperamente nach Hippokrates
Die wohl älteste schriftlich fixierte Theorie stammt von dem griechischen Arzt Hippokrates, dem Vater und Begründer westlicher Medizin. Seine Lehre von den vier Temperamenten hat mit intuitiver Sicherheit Lebensgrundstrukturen gekennzeichnet, die sich weit über 2 000 Jahre erhalten haben und heute noch Anwendung finden. Wir wollen sie im Folgenden kurz erläutern.
Der Arzt Hippokrates, der im 5. Jahrhundert vor Christus lebte, ging von einer engen Verknüpfung zwischen leiblichen, seelischen und geistigen Aspekten des Menschen aus. Für ihn waren Gesundheit bzw. Krankheit mit der Persönlichkeit eng verbunden. Diese Erkenntnis war für die damalige Zeit revolutionär.
Das Wort »Temperament« beinhaltet »richtige Mischung«. Jeder Mensch in seinem Temperament ist also eine Mischung aus
sanguinischen,
cholerischen,
melancholischen und
phlegmatischen Anteilen.
Die Formulierung der vier Temperamente ist von vier Körperflüssigkeiten abgeleitet worden, die man damals für die Persönlichkeitsstruktur verantwortlich machte:
sanguis = Blut,
cholos = gelbe Galle,
melanchos = schwarze Galle,
phlegma = Schleim.
Man war der Meinung, dass eine bestimmte Mischung dieser Körpersäfte ein hervorstechendes Temperament hervorbringen würde. Die Beobachtung der vier unterschiedlichen Temperamente hat sich als richtig erwiesen. Die Ableitung aus den Körpersäften hingegen ist längst widerlegt. Folgende Persönlichkeitsmerkmale charakterisieren das jeweilige Temperament:
Das sanguinische Temperament kennzeichnet den fröhlichen und gern genießenden Menschen. Er ist
aktiv und ruhelos,
warmherzig und charmant,
offenherzig und redselig,
unbefangen und unterhaltsam,
liebenswürdig und lebhaft.
Das melancholische Temperament kennzeichnet den bedrückten und schwermütigen Menschen. Er ist in erster Linie
gefühlvoll und selbstbezogen,
idealistisch und enttäuscht,
verletzlich und grüblerisch,
sensibel und künstlerisch veranlagt,
gründlich und treu,
zuverlässig und selbstdiszipliniert,
pessimistisch und unentschlossen.
Das cholerische Temperament kennzeichnet den heißblütigen Menschen mit einem schnellen, aktiven Handeln. Er ist in erster Linie
tatkräftig und entschlussfreudig,
willensstark und zuversichtlich,
gefühlsarm und wenig mitempfindend,
schroff und dickfellig,
eigensinnig und unnachgiebig,
herrschsüchtig und jähzornig.
Das phlegmatische Temperament kennzeichnet den schwerfälligen, friedlichen und langsamen Menschen. Er ist in erster Linie
ruhig und ausgeglichen,
gutmütig und friedliebend,
nüchtern und praktisch,
langsam und faul,
kalt, sachlich und gleichgültig,
selbstsüchtig und unmotiviert.
Jedes Temperament hat positive und negative Seiten, Stärken und Schwächen. Diese vier Temperamente finden wir überall auf der Welt. Und auch in der Bibel begegnen uns Menschen, die jeweils ein vorherrschendes Temperament widerspiegeln.
1.2 Grundformen der Angst
Weniger um Temperamente als vielmehr um Persönlichkeitsstrukturen, d. h. um vier allgemein gültige Grundeinstellungen und Verhaltensmöglichkeiten, geht es dem Psychoanalytiker Fritz Riemann ¹ . Er orientiert sich an den Begriffen der Neurosenlehre, betont aber ausdrücklich, dass wir alle diese vier Persönlichkeitsstrukturen verkörpern. Er schildert weitgehend gesunde Strukturen, macht aber am lebensgeschichtlichen Hintergrund der Typen auch neurotische Aspekte (heute: neurotische Störungen) deutlich. Er spricht von
der schizoiden,
der depressiven,
der zwanghaften und
der hysterischen Persönlichkeitsstruktur.
Diese Persönlichkeitsstrukturen, die in Psychiatrie, Medizin und Psychologie gebräuchlich sind, werden in diesem Buch eingehend behandelt.
Fritz Riemann geht davon aus, dass die Welt vier mächtigen Impulsen gehorcht. Am Beispiel der Erde werden diese vier Kräfte definiert. Gleichzeitig ist für ihn die Erde ein Bild oder Gleichnis für den Menschen, der auch von vier Strebungen im Gleichgewicht gehalten wird:
Die Erde vollzieht eine Eigendrehung (er spricht hier von Rotation).
Die Erde umkreist die Sonne (Revolution).
Die Erde wird gehalten durch Schwerkraft (zentripetales Verhalten).
Die Erde wird gehalten durch Fliehkraft (zentrifugales Verhalten).
Alle vier Kräfte sind notwendig, um die Erde im Gleichgewicht zu halten. Würde eine Bewegung ausfallen oder ernsthaft gestört werden, käme die Ordnung durcheinander und die Erde würde im Chaos enden. Diese vier Grundimpulse überträgt Riemann auf das menschliche Leben und filtert vier Lebensgrundeinstellungen heraus, die für das persönliche Leben und für das Zusammenleben maßgeblich sind.
Grundimpuls 1:
Die Rotation (die Eigendrehung)
Die Eigendrehung ist notwendig, um eine selbstständige, einmalige und unabhängige Person zu werden. Der Mensch ist ein unverwechselbares Individuum. Damit verbunden sind Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Selbstbewahrung.
Grundimpuls 2:
Revolution (das Kreisen um den anderen)
Hier geht es um den anderen Aspekt des Menschen. Gemeint sind: Hingabe, Nächstenliebe, Fürsorge. Das Kreisen um den anderen meint Abhängigkeit, Innigkeit, Nähe und Füreinander-Dasein. Die beiden Impulse sind gegensätzlich. Aber beide Verhaltensmuster sind lebensnotwendig.
Grundimpuls 3:
Schwerkraft
Hier geht es um Dauer, um Bleibendes, um Klarheit und um Geborgenheit.
Das Leben muss berechenbar sein. Alles