Der Ständerat: Zweite Kammer der Schweiz
Von Sean Mueller und Adrian Vatter
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Über dieses E-Book
Der Ständerat stand bislang weit weniger im Fokus politikwissenschaftlicher Forschung als der Nationalrat, obwohl er als die einflussreichere Kammer gilt. Die Autorinnen und Autoren der verschiedenen Beiträge analysieren das Abstimmungsverhalten der Ständeräte und vergleichen den Ständerat mit nationalen Gegenspielern und internationalen Besonderheiten von zweiten Kammern. Zudem untersuchen sie die Rolle der kleinen Kammer im Spannungsfeld zwischen nationaler Gesetzgebung, Europapolitik und regionalem Einfluss. Mit der Analyse des Ständerats beleuchten die Herausgeber erstmalig in dieser Breite die einzigartige Verknüpfung von zwei Kernprinzipien des schweizerischen Politiksystems: der repräsentativen Wahldemokratie und dem Föderalismus.
Mit Beiträgen von Adrian Vatter, Andreas Ladner, Arthur Benz, Christine Benesch, Jean-René Fournier, Johanna Schnabel, Katharina Hofer, Monika Bütler, Rahel Freiburghaus, Sarah Bütikofer, Sean Mueller und Sereina Dick.
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Buchvorschau
Der Ständerat - Sean Mueller
Markus Freitag und Adrian Vatter (Hg.)
Politik und Gesellschaft in der Schweiz
Band 1:
Markus Freitag (Hg.)
Das soziale Kapital der Schweiz
Band 2:
Thomas Milic, Bianca Rousselot, Adrian Vatter
Handbuch der Abstimmungsforschung
Band 3:
Markus Freitag,
Adrian Vatter (Hg.)
Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz
Band 4:
Fritz Sager, Karin Ingold,
Andreas Balthasar
Policy-Analyse in der Schweiz
Band 5:
Fritz Sager, Thomas Widmer,
Andreas Balthasar (Hg.)
Evaluation im politischen System
der Schweiz
Band 6:
Markus Freitag
Die Psyche des Politischen
Band 7:
Adrian Vatter (Hg.)
Das Parlament in der Schweiz
Band 8:
Markus Freitag, Pirmin Bundi, Martina Flick Witzig
Milizarbeit in der Schweiz
Band 9:
Adrian Ritz, Theo Haldemann,
Fritz Sager (Hg.)
Blackbox Exekutive
Band 10:
Marc Bühlmann, Anja Heidelberger,
Hans-Peter Schaub (Hg.)
Konkordanz im Parlament
Band 11:
Sean Mueller, Adrian Vatter (Hg.)
Der Ständerat
Weitere Bände in Vorbereitung
NZZ Libro
Sean Mueller, Adrian Vatter (Hg.)
Der Ständerat
Zweite Kammer der Schweiz
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG.
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2020 (ISBN 978-3-907291-08-5)
Lektorat: Christoph Meyer, Basel
Umschlag: icona basel, Basel
Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN E-Book 978-3-907291-09-2
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
Vorwort
Jean-René Fournier, Ständeratspräsident 2019
1 Einleitung und Zusammenfassung
Sean Mueller und Adrian Vatter
1.1 Zusammenfassung der Beiträge
1.2 Erste Frage: Bremse oder Gaspedal?
1.3 Zweite Frage: Föderalismus oder Parlamentarismus?
1.4 Dritte Frage: Abschaffen, reformieren, zementieren?
Literatur
2 Vom Gesandtenkongress zur gewählten Volkskammer: Der Ständerat im Wandel der Zeit
Adrian Vatter und Andreas Ladner
2.1 Einleitung
2.2 Historische und institutionelle Grundlagen
2.3 Die Arbeitsweise des Zweikammersystems
2.4 Die parteipolitische Zusammensetzung des Ständerats
2.5 Die Koalitionen im Ständerat
2.6 Die Aufgaben und Funktionen des Ständerats
2.6.1 Die Repräsentationsfunktion
2.6.2 Die Gestaltungsfunktionen
2.7 Das schweizerische Zweikammersystem im internationalen Vergleich
2.8 Zusammenfassung und Diskussion
Literatur
3 Licht ins Dunkel: Transparenteres Abstimmungsverhalten im Ständerat
Christine Benesch, Monika Bütler und Katharina E. Hofer
3.1 Einleitung
3.2 Der Weg zur Reform
3.3 Wie kann man die Auswirkungen von Transparenz messen?
3.4 Mehr Transparenz – mehr Parteitreue
3.4.1 Erster Einflusskanal: Die Partei
3.4.2 Zweiter Einflusskanal: Die Wählerschaft
3.5 Transparenz: Fluch oder Segen? Einordnung der Resultate
3.6 Fazit
Literatur
4 Zwischen Partei und Kanton: Von den Besonderheiten des Ständerats und seiner Mitglieder
Sarah Bütikofer
4.1 Einleitung
4.2 Datenbasis
4.3 Das Repräsentationsverständnis
4.4 Das Abstimmungsverhalten in der kleinen Kammer
4.4.1 Einstimmigkeit
4.4.2 Die ungeteilte Standesstimme
4.4.3 Fazit: Wenn schon eher eine linke als eine bürgerliche Standesstimme
4.5 Das Abstimmungsverhalten der Parteien im Ständerat
4.5.1 Geschlossenheit der Parteien
4.5.2 Womit wird das individuelle Abweichen von der Mehrheitsposition der Partei erklärt?
4.6 Der Wechsel vom Nationalrat in den Ständerat
4.6.1 Die Verhaltensänderungen des Kammerwechsels
4.6.2 Die Einschätzungen der Ständeratsmitglieder zum Wechsel aus dem Nationalrat
4.7 Schlussbetrachtungen
Literatur
5 Ständerat, stärkerer Rat? Die Gesetzgebungsmacht der Zweiten Kammer im Vergleich zu National- und Bundesrat
Sean Mueller, Sereina Dick und Rahel Freiburghaus
5.1 Einleitung
5.2 Mögliche Gründe für die stärkere Rolle des Ständerats
5.3 Differenzbereinigungsverfahren
5.4 Einigungskonferenzen
5.5 Änderungen von Bundesratsvorlagen
5.6 Fazit
Literatur
6 Kuppler unter der Kuppel? Die Scharnierfunktion (ehemaliger) kantonaler Regierungsmitglieder im Ständerat
Rahel Freiburghaus
6.1 Einleitung
6.2 Institutionell gesichert vs. personengetragen: unterschiedliche Formen föderaler Interessenvertretung in Zweiten Kammern
6.2.1 Bikamerale Organisationsprinzipien und (personengetragene) föderale Interessenvertretung
6.2.2 Chancen und Grenzen personengetragener föderaler Interessenvertretung im Ständerat
6.3 Datengrundlage und empirisches Vorgehen
6.4 Deskriptive Bestandsaufnahme der personengetragenen föderalen Interessenvertretung im Ständerat
6.4.1 Über die Zeit
6.4.2 Nach Kanton
6.5 Auswirkungen der personengetragenen föderalen Interessenrepräsentation im Ständerat
6.5.1 Ständerätliche Gesetzesinitiativtätigkeit – für den Kanton Gesetze anstossen?
6.5.2 Ständerätliche Debatten – vom Kanton reden?
6.5.3 Ständerätliches Abstimmungsverhalten – für den Kanton stimmen?
6.6 Schlussbetrachtungen
Literatur
7 Die Konferenz der Kantonsregierungen als der bessere Ständerat? Territoriale Mitbestimmung im schweizerischen Föderalismus
Johanna Schnabel
7.1 Einleitung
7.2 Artikulation und Repräsentation territorialer Interessen
7.3 Die KdK als die bessere Zweite Kammer?
7.3.1 Zusammensetzung und Mitwirkungsrechte
7.3.2 Die föderale Funktion der KdK
7.4 Die KdK als internationales Erfolgsmodell?
7.4.1 Regierungskonferenzen in anderen Bundesstaaten
7.4.2 Erfolgsfaktoren
7.5 Schlussbetrachtungen
Literatur
8 Lernen vom Nachbarn? Der Schweizer Ständerat und der deutsche Bundesrat im Vergleich
Arthur Benz
8.1 Einleitung
8.2 Bundesrat und Ständerat im Kontext demokratischer Regierungssysteme
8.3 Repräsentationsfunktion
8.4 Kontrolle der Mehrheitsherrschaft
8.5 Sicherung der föderalen Machtbalance
8.6 Reflexionsfunktion
8.7 Erkenntnisse aus dem Vergleich
8.8 Schlussbetrachtungen
Literatur
9 Spezial- oder Normalfall? Der Ständerat und der Einfluss von Regionalregierungen auf die Bundespolitik im internationalen Vergleich
Sean Mueller
9.1 Einleitung
9.2 Regional Authority Index (RAI)
9.3 Die realpolitische Seite: Parteien und territoriales Lobbying
9.4 Tatsächlicher Mitbestimmungsindex
9.5 Schlussdiskussion
Literatur
10 Reformansätze unter der Lupe: Modelle für die Reform des Ständerats
Adrian Vatter
10.1 Einleitung
10.2 Die Funktions- und Wirkungsweise des Ständerats
10.2.1 Untersuchungsdesign und methodisches Vorgehen
10.2.2 Die Repräsentationsfunktion des Ständerats
10.2.3 Die Gestaltungsfunktion des Ständerats im Lichte der empirischen Forschung
10.3 Die Modelle zur Reform des Ständerats: eine Evaluation
10.3.1 Die Evaluationskriterien
10.3.2 Modelle zur Reform der Vertretungsregeln
10.3.3 Modelle zur Reform der Entscheidungsregeln
10.3.4 Ersatz durch funktional äquivalente Institutionen
10.4 Folgerung: ein kombiniertes Reformmodell als langfristige Zukunftsvision?
Literatur
Anhang: Proporzwahlen für den Ständerat
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Tabellenverzeichnis
Tabelle 2-1: Sitzverteilung im Ständerat 1959–2019, nach Parteien
Tabelle 2-2: Die Struktur der Parlamentskammern in 24 OECD-Staaten
Tabelle 3-1: Transparenz reduziert Abweichungen von der Parteilinie
Tabelle 4-1: Einstimmige Abstimmungsentscheide nach Abstimmungstyp (in Prozent)
Tabelle 4-2: Geschlossenheit im Abstimmungsverhalten der Vertretungen aus dem gleichen Kanton (in Prozent)
Tabelle 4-3: Geschlossenheit der Vertretungen aus dem gleichen Kanton in Prozent (nach Art der Abstimmung)
Tabelle 4-4: Parteigeschlossenheit im Ständerat, 2003–2019 (Rice-Index)
Tabelle 5-1: Ablehnungen von Einigungsanträgen nach Erstrat, 1992–2019
Tabelle 5-2: Die Gesetzgebungsmacht des Ständerats bei Bundesratsentwürfen, 2006–2019
Tabelle 5-3: Änderungs- und schlussendliche Ablehnungsquote im Vergleich
Tabelle 6-1: Zwei Wege personengetragener föderaler Interessenvertretung im Ständerat
Tabelle 6-2: Sprachliche Relevanz der Kantone in den von individuellen Ständeratsmitgliedern eingereichten parlamentarischen Initiativen, 2008–2019
Tabelle 9-1: Vergleich der Schweizer Kantone mit Regionen vier anderer föderaler Systeme
Tabelle 9-2: Ausmass und Kanäle tatsächlichen Regierungseinflusses in elf Ländern
Tabelle 10-1: Repräsentationsunterschiede zwischen Wohnbevölkerung, Nationalrat und Ständerat im Vergleich, Ende 2019
Tabelle 10-2: Übersicht über die Gestaltungswirkungen des Schweizer Ständerats im Lichte der empirischen Forschung
Tabelle 10-3: Wirkungsanalyse zur Reform der Vertretungsregeln
Tabelle 10-4: Wirkungsanalyse zur Reform der Entscheidungsregeln
Tabelle 10-5: Wirkungsanalyse zu funktional äquivalenten Institutionen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2-1: Über- und Untervertretung der Parteien im Ständerat, 1919–2019 (in Prozent)
Abbildung 2-2: Die Koalitionen der Parteien im Ständerat, 2003–2019 (in Prozent)
Abbildung 2-3: Parteipolitische Repräsentationsunterschiede zwischen Wählerschaft, Nationalrat und Ständerat, 2019 (in Prozent)
Abbildung 3-1: Anzahl der Artikel zur Abstimmungstransparenz im Ständerat, März 2012–Mai 2014
Abbildung 3-2: Durchschnittliche Abweichung von der Parteilinie pro Session und Rat, Winter 2011–Herbst 2015
Abbildung 3-3: Reformeffekt im Ständerat pro Partei
Abbildung 3-4: Auswirkungen der Reform auf die ungeteilte Standesstimme
Abbildung 4-1: Repräsentationsverständnis der Mitglieder von Stände- und Nationalrat (in Prozent)
Abbildung 4-2: Abstimmungsverhalten der Parteien im Ständerat bei Detailabstimmungen (Rice-Index für die Legislaturen 47, 49 und 50)
Abbildung 4-3: Politische Positionierungen der Ständeratsmitglieder, die zuvor im Nationalrat waren
Abbildung 5-1: Häufigkeit Erstrat nach Anzahl Differenzen, 2006–2019
Abbildung 5-2: Zustimmungsquoten pro Rat, nur Vorlagen mit 0–4 Differenzen, 2006–2019
Abbildung 5-3: Anzahl Einigungskonferenzen pro Legislatur, 1992–2019
Abbildung 5-4: Art der einzelnen Einigungsanträge nach Erlassform und Schicksal, 50. Legislatur
Abbildung 6-1: Anteil ehemaliger und amtierender kantonaler Regierungsmitglieder im Ständerat, 1985–2020 (in Prozent)
Abbildung 6-2: Anteil ehemaliger und amtierender kantonaler Regierungsmitglieder nach Kanton, 1985–2020 (in Prozent)
Abbildung 6-3: Absolute Anzahl parlamentarischer Initiativen der Ständeratsmitglieder nach Thema, 2008–2019
Abbildung 6-4: Erwähnung des «eigenen» Kantons in ständerätlichen Debatten im Vergleich zum Anteil ehemaliger und amtierender kantonaler Regierungsmitglieder, 2008–2019 (in Prozent)
Abbildung 9-1: Autonomie und Mitbestimmung in elf föderalen Systemen, 2010
Abbildung 9-2: Die fünf Kanäle regionalen Regierungseinflusses auf die Bundespolitik
Abbildung 10-1: Ein kombinierter Ansatz als langfristiges Reformmodell der Zweiten Kammer in der Schweiz
Danksagung
Das vorliegende Buch widmet sich als eines der wenigen exklusiv dem Schweizer Ständerat – und das mehr als 170 Jahre nach seiner Gründung. Erste Versionen der meisten hier versammelten Beiträge wurden an einer von uns in Kooperation mit dem Forum of Federations im Juni 2019 organisierten Konferenz vorgetragen – und zwar an keinem anderen Ort als im Plenarsaal des Schweizer Ständerats. Dafür danken wir als Erstes dem Büro des Ständerats, der dies mit Beschluss vom 4. Mai 2018 überhaupt erst ermöglichte – damals noch unter dem Ständeratspräsidium von Frau Karin Keller-Sutter. Speziell danken wir auch alt Ständeratspräsident Hans Altherr, Board Member für die Schweiz im Forum of Federations, und Felix Knüpling, Vize-Präsident des Forums. Das Forum ist eine in Kanada ansässige und u.a. von der Schweiz unterstützte Organisation, die sich der Verbreitung und dem Austausch von Wissen und Erfahrungen im Bereich Föderalismus widmet.
Bedanken möchten wir uns auch bei all jenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz, die durch ihre kritischen Anmerkungen und Beobachtungen zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben. Als «Praxistester» haben notabene die Herren (alt) Ständeräte Robert Cramer, Hannes Germann, Werner Luginbühl, Thomas Pfisterer, Hans Stöckli und Benedikt Würth fungiert. Ebenfalls danken wir Andreas Schilter und Carla Riniker des Ressorts Öffentlichkeitsarbeit der Parlamentsdienste und Martina Buol, stellvertretende Generalsekretärin und Sekretärin des Ständerats, sowie Madleina Ganzeboom und Laura Vogel vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern für ihre Unterstützung bei der Organisation und Durchführung des Anlasses. Rahel Freiburghaus danken wir für die Unterstützung beim Schlusslektorat des Manuskripts.
Der UniBern Forschungsstiftung sowie der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne sind wir dankbar für ihre Bereitschaft, einen Teil der Druckkosten dieses Buchs zu übernehmen. Sean Mueller dankt zudem dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, da der Grossteil seiner Arbeit zu diesem Buch während seines Ambizione-Fellowships am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern entstand.
Vorwort
Jean-René Fournier, Ständeratspräsident 2019
Als Ständeratspräsident des Parlamentsjahres 2019 stelle ich erfreut – aber nicht überrascht – fest, dass Forscherinnen und Forscher der Universität Bern und weiterer Hochschulen diesem Organ der Bundesbehörden grosse Aufmerksamkeit schenken. Ausgangspunkt dieses Buches bildete die von Sean Mueller und Adrian Vatter in Zusammenarbeit mit dem Forum of Federations organisierte Konferenz mit dem Titel «Der Ständerat: Historisches Fossil oder Zukunftsmodell?», die im Juli 2019 im geschichtsträchtigen Saal des Ständerats stattgefunden hat. Ohne Zweifel hat die Atmosphäre dieser «chambre de réflexion» die anregenden Diskussionen zwischen den Forscherinnen und Forschern sowie den anwesenden Ständerätinnen und Ständeräten inspiriert.
Der Ständeratssaal ist so etwas wie der Nabel der föderalistischen Schweiz und sein Wandfresko erinnert an den Ursprung unserer direkten Demokratie. Der Zürcher Albert Welti und der Basler Wilhelm Balmer haben die Landsgemeinde von Stans so gemalt, wie sie im 18. Jahrhundert ablief, diese aber in die Landschaft von Sarnen eingebettet, mit den Obwaldner Alpen im Hintergrund. Die Daten in den Kartuschen über den Säulen erinnern an die wichtigsten Etappen beim Aufbau der Demokratie: Bald werden diese Daten mit «1971» ergänzt – dem Jahr, als jene Hälfte der Schweizer Bevölkerung das Stimm- und Wahlrecht erhielt, der dies bis dahin verwehrt gewesen war.
Ich betrachtete dieses Fresko, als ich die Sitzungen der kleinen Kammer präsidierte. Beim Anblick dieses prächtigen Dekors erlebte ich gleichzeitig die Institution von innen als Akteur – und im Jahr 2019 als deren Dirigent. In meinem politischen Alltag sah ich, wie in unserem Zweikammersystem stets nach einer ausgewogenen Lösung gesucht wurde – und jede Session bekräftigte mich in meinem Gefühl, dass die politischen Institutionen, die 1848 geschaffen wurden, von ihrer Struktur her auch heute noch bemerkenswert sind.
Beide Räte haben genau die gleichen Kompetenzen und Rechte. Das macht unser Parlament einzigartig – oder zumindest beinahe – und ist gleichzeitig Ausdruck des föderalistischen Systems der Schweiz. Diese absolute Gleichrangigkeit ist eine Besonderheit, die man nicht genug hervorheben kann. Sie zeigt sich zum einen darin, dass die Erlassentwürfe dem einen wie dem anderen Rat zur ersten Lesung zugewiesen werden können, zum anderen darin, dass beide Kammern genau den gleichen Wortlaut eines Gesetzes verabschieden müssen, da die Entwürfe sonst hinfällig werden.
Dieses auf den ersten Blick vollständig parallele Vorgehen stellt den Ständerat allerdings regelmässig vor die Aufgabe, die Beratung von Geschäften zu beginnen, bei denen die Gefahr besteht, dass sich die Fronten verhärten und keine Mehrheiten gefunden werden. In der Differenzbereinigung zu einer Vorlage sind es sehr häufig die Anträge aus der kleinen Kammer, die letztlich obsiegen und für ein ausgewogenes Ergebnis sorgen.
Mehrere Faktoren tragen dazu bei, dass der Ständerat diese Rolle innehat. So werden in fast allen Kantonen die Vertreterinnen und Vertreter im Majorzverfahren gewählt, was – anders als bei Proporzwahlen – einen Vorteil darstellt für integrative Persönlichkeiten, die sich in der politischen Mitte positionieren. Ausserdem haben zahlreiche Ständerätinnen und Ständeräte wie ich Erfahrung in einer Kantonsregierung gesammelt und sind es daher gewohnt, sich nicht effekthascherisch zu geben, sondern lösungsorientiert zu arbeiten. Wer wie die Ständerätinnen und Ständeräte einen Kanton repräsentiert, hat diesem gegenüber mindestens so loyal zu sein wie gegenüber seiner Partei. Deshalb müssen sie sich oft von Parteipositionen entfernen – was auch eine gewisse Freiheit bedeutet. So möchte ich es hier mit Winston Churchill halten, von dem folgendes Bonmot stammt: «Es gehört mehr Mut dazu, seine Meinung zu ändern, als ihr treu zu bleiben.»
Hinzu kommt, dass die Ständerätinnen und Ständeräte in drei bis vier Kommissionen Einsitz nehmen, nicht wie die Nationalratsmitglieder in einer bis zwei. Sie haben dadurch nicht nur vertiefte Kenntnisse über die meisten Geschäfte, sondern kennen auch alle Kolleginnen und Kollegen sehr gut. Dies erleichtert den Dialog und die Kompromissfindung zwischen den Landesregionen sowie über Partei- und Sprachgrenzen hinweg. Zu guter Letzt möchte ich noch auf einen Punkt zu sprechen kommen, der nebensächlich erscheinen könnte, es aber nicht ist: die Abstimmungsdisziplin in der Einigungskonferenz. Die Ständeratsmitglieder sind nicht nur immer vollzählig anwesend und pünktlich, sondern treten als geeinte Stimme auf und geben so – wenn nötig – den Ausschlag dafür, dass der Vorschlag ihres Rats obsiegt.
All diese Aspekte führen dazu, dass der Ständerat anders ist als der Nationalrat. Damit soll nicht gesagt werden, dass ein Rat besser ist als der andere. Vielmehr soll gezeigt werden, wie wichtig dieser Unterschied ist. Ein Zweikammersystem ist nur sinnvoll, wenn sich die beiden Kammern unterscheiden – sei es durch ihre Zuständigkeiten und ihre Repräsentativität, wie in den meisten Ländern, sei es durch ihre Funktionsweise, wie in der Schweiz. Wäre dies nicht der Fall, würde man sich rasch fragen, ob es wirklich zwei Kammern braucht – eine Frage, die man sich übrigens in vielen Ländern stellt. Dadurch, dass die Erlasse von zwei Kammern ausgearbeitet werden, die sich bezüglich Repräsentativität und Funktionsweise unterscheiden, kommt letztlich ein ausgewogenes Ergebnis zustande, das den unterschiedlichen politischen Sensibilitäten bestmöglich Rechnung trägt. Dies maximiert wiederum die Chancen, dass eine Vorlage eine allfällige Volksabstimmung passiert.
Wie kann man von diesen institutionellen Besonderheiten, die die Ausübung der Macht auf so subtile Weise dosieren, nicht beeindruckt sein? Beide Räte beaufsichtigen sich gegenseitig bei der Gesetzgebungsarbeit – und als Vereinigte Bundesversammlung wählen sie gemeinsam die Mitglieder des Bundesrats sowie die Richterinnen und Richter der eidgenössischen Gerichte. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern kann die Regierung weder auf die Tagesordnung der eidgenössischen Räte noch auf die Art der Beratung der Geschäfte Einfluss nehmen. Auch kann das oberste Gericht die Beschlüsse des Parlaments nicht rückgängig machen. Sicherlich wünscht sich der eine oder die andere in Anbetracht der Schwierigkeit, gewisse Volksinitiativen ins Gesetz zu übertragen, hin und wieder, ein Verfassungsgericht möge prüfen, ob die Änderungsvorschläge verfassungskonform sind. Dies würde allerdings einer Schwächung der Legislative und der Volksrechte gleichkommen.
Mit unserem System kann nicht nur dieses Gleichgewicht der Gewalten, sondern auch die Stabilität der Behörden sichergestellt werden. Während andere institutionelle Systeme die Vertrauensfrage oder das Impeachment-Verfahren kennen, ist es in der Schweiz unmöglich, einen kompletten Regierungswechsel zu erwirken oder einzelne Mitglieder des Bundesrats während ihrer Amtszeit abzuwählen. Dieser Logik folgend kann die Schweizer Regierung aber auch nicht das Parlament auflösen. Dies trägt entscheidend zur Stabilität und Kontinuität der Schweizer Politik bei: Die Beschlüsse werden langfristig getroffen und nicht von neuen Mehrheiten gleich wieder gekippt. Und ich kann Ihnen versichern, dass die angebliche Langsamkeit des Gesetzgebungsverfahrens in der Schweiz eine Mär ist: Im Schnitt dauert es ein Jahr, bis eine Vorlage zur Schlussabstimmung gelangt. Und wenn nötig können wir eine Vorlage auch in einer Session – oder gar in ein paar Tagen – verabschieden.
Zu guter Letzt möchte ich auf ein nicht zu vernachlässigendes Detail zu sprechen kommen: Viele Mitglieder des Bundesrats sind ehemalige Ständerätinnen und Ständeräte – im derzeitigen Kollegium sind es deren drei. Aus den Statistiken geht hervor, dass zwischen 1848 und 2019 ein Drittel der gewählten Bundesrätinnen und Bundesräte – d.h. 40 von insgesamt 119 – Mitglieder des Ständerats waren. Ich glaube sagen zu können, dass die Bundesrätinnen und Bundesräte aus der kleinen Kammer unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit von ihren Kolleginnen und Kollegen sehr geschätzt werden. Dies erkläre ich mir nicht nur damit, dass angesichts der geringen Anzahl Mitglieder im Ständerat gegenseitiger Respekt und persönlicher Kontakt grossgeschrieben werden, sondern auch damit, dass ein aus dem Ständerat kommendes Regierungsmitglied dem subtilen Gleichgewicht mit Sicherheit immer besondere Aufmerksamkeit schenken wird. Auch wird ein ehemaliges Ständeratsmitglied – und das ist meine persönliche These – weniger zur Polarisierung neigen.
Während an einer Tagung der europäischen Senatspräsidentinnen und -präsidenten in Paris im Sommer 2019 alle meine Kolleginnen und Kollegen ausnahmslos über Legitimitätsprobleme, mangelnde Repräsentativität und fehlende Entscheidkompetenzen klagten, bin ich damals von dieser Tagung mit dem Gefühl heimgekehrt, dass das schweizerische Zweikammersystem das einzige ist, das nicht regelmässig infrage gestellt wird. Deshalb kann die eingangs gestellte Frage, ob der Ständerat «historisches Fossil oder Zukunftsmodell» ist, aus meiner Sicht nur rhetorisch sein. Sicherlich sollte ich als ehemaliger Ständeratspräsident hier eine gewisse Zurückhaltung üben, aber ich bin überzeugt davon, dass unsere kleine Kammer eine sehr wichtige Komponente im gut geölten Räderwerk der politischen Institutionen der Schweiz darstellt. Nicht nur heute, sondern auch in Zukunft.
1 Einleitung und Zusammenfassung
Sean Mueller und Adrian Vatter
Dieses Buch widmet sich der Zweiten Kammer des Schweizer Parlaments: dem Ständerat. Diesem fällt zwar eine ebenso wichtige verfassungsmässige Rolle zu wie dem Nationalrat, denn beide verfügen über die genau gleichen Gesetzgebungs-, Aufsichts- und Wahlkompetenzen. Dennoch stand die Kantonskammer bislang weit weniger im Fokus politikwissenschaftlicher Forschung als die Volkskammer. Die grössere politische Vielfalt in der Zusammensetzung, seine bessere demografische Repräsentation des Wahlvolks und die leichtere Zugänglichkeit von Wahl- und Abstimmungsdaten rückten den Nationalrat in ein viel grelleres Licht als die Kantonskammer, die «nur» als Konzession an die Verlierer des Sonderbundkriegs von 1847 entstand.
Das Besondere am Ständerat ist hingegen genau diese Verbindung von repräsentativer Demokratie und Föderalismus, zwei Kernprinzipien des schweizerischen politischen Systems. Repräsentative Demokratie bedingt Wahlen auf der Grundlage eines bestimmten Wahlsystems, mit klar definierten Wahlkreisen, Wählenden und Gewählten. Föderalismus wiederum bedeutet eine Mischung von regionaler Selbst- und landesweiter Mitbestimmung. Indem die in den Ständerat Gewählten prinzipiell für die Mitbestimmung der Kantone bei der schweizweiten Gesetzgebung zu sorgen haben, bringen sie die beiden Prinzipien in Einklang. Der Ständerat ist also nicht bloss irgendeine Zweite Kammer, sondern auch eine genuin föderale Institution; gleichzeitig ist er nicht bloss eine der vielen Konsequenzen der nach wie vor stark ausgeprägten kantonalen Autonomie, sondern auch integraler Bestandteil des Bundes.
Das so abgesteckte Spannungsfeld zwischen Föderalismus und repräsentativer Demokratie, in dem sich der Ständerat einordnet, soll dieses Buch erläutern, untersuchen, kritisch betrachten und in einen international vergleichenden Zusammenhang stellen. Der grösste Teil der hier vereinten Kapitel basiert auf Vorträgen, die anlässlich einer im Sommer 2019 von uns zum Ständerat – und verdankenswerterweise auch in seinem Sitzungssaal – organisierten Konferenz gehalten wurden. Diese Konferenz war Ausdruck des Versuchs, Theorie und Praxis miteinander abzugleichen. Stimmen die politologischen Befunde mit der Wahrnehmung der Direktbetroffenen überein? Welche abstrakten Erklärungen bieten sich an, um alltägliche und institutionalisierte Verhaltensweisen zu erklären?
1.1 Zusammenfassung der Beiträge
Den Auftakt und gleichsam ersten Realitätstest liefert das Vorwort von alt Ständerat Jean-René Fournier (VS, CVP), der die kleine Kammer im Parlamentsjahr 2018/19 präsidierte. Fournier liefert eine grundsätzliche Bestätigung einiger eingängig bekannter Befunde zum Schweizer Zweikammersystem (vgl. Vatter 2018, Kap. 7). Diese betreffen die prinzipielle Andersartigkeit der kleinen Kammer, erklärbar durch ihre Grösse, personelle Zusammensetzung und die verschiedenen Wahlsysteme, die zur Anwendung gelangen; die Einsicht, dass Ausgleich und gegenseitige Kontrolle zweier Parlamentskammern eine gewisse Unterschiedlichkeit in der Zusammensetzung bedingen; und die Wichtigkeit konkordanten Verhaltens sowohl zwischen den als auch innerhalb der beiden Räte, um trotzdem – gut – funktionieren zu können.
Die historische, rechtliche und politische Grundlage für alle späteren Beiträge liefern im zweiten Kapitel Adrian Vatter und Andreas Ladner, indem sie die Entwicklung – um nicht zu sagen institutionelle Emanzipation – der Kantonskammer nachzeichnen. Kurz zusammengefasst ist aus einer notwendigen Konzession an die Verlierer des Sonderbundskriegs 1847 eine innerparlamentarische Kontroll- und Korrekturinstanz geworden, wie man sie sich vor 170 Jahren nur schlecht hätte vorstellen können. Denn obwohl bis heute jeder Kanton eigenständig bestimmen kann, wie er seine Mitglieder im Ständerat bestellt, sind seit den 1970er-Jahren alle zur direkten Volkswahl übergegangen. Auch die starke Überrepräsentation der vielen kleinen auf Kosten der wenigen grossen Kantone wird nicht als Angriff auf die demokratische Legitimation des Parlaments verstanden, sondern als Mittel zum Zweck des Minderheitenschutzes, der Qualitätssteigerung der legislativen Arbeit und der föderalen Interessenwahrung akzeptiert. Vatter und Ladner kommen jedoch auch zum Schluss, dass der Ständerat mit der Übervertretung der Katholiken heute keine kulturelle Minderheit mehr schützt, da diese mittlerweile zur grössten Konfessionsgemeinschaft angewachsen und etwa nicht deutschsprachige oder konfessionslose Bürgerinnen und Bürger durch die Zweite Kammer nicht besonders geschützt sind. Überdies treten die demografischen Repräsentationsdefizite des Nationalrats im Ständerat noch akzentuierter zutage: Dieser ist noch männlicher, älter, akademischer und bürgerlicher als jener. Infrage gestellt wird schliesslich, ob es dem Ständerat neben den politischen und regionalen Interessen gelingt, in allen Fällen auch die institutionellen Interessen der kantonalen Ebene zu vertreten.
Das dritte Kapitel von Christine Benesch, Monika Bütler und Katharina E. Hofer nimmt die Einführung der elektronischen Abstimmungsanlage im Ständerat zum Anlass, die konkreten Auswirkungen erhöhter Transparenz zu untersuchen. Schon vor dem Frühling 2014 war zwar das Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Ständerats und jeder einzelnen Ständerätin öffentlich zugänglich; allerdings musste man sich dazu entweder im Saal einfinden oder nachträglich die Videoaufzeichnung auswerten. Die empirischen Resultate zeigen auf, dass sich als Folge des elektronischen Abstimmens vor allem die Parteidisziplin erhöht hat. Dies wird hauptsächlich mit den niedrigeren Kosten des Monitorings vonseiten der Partei und weniger mit höherem Druck vonseiten des Wahlvolks erklärt: Steigt das Risiko, sich für abweichendes Verhalten rechtfertigen zu müssen, nimmt die Konformität zu.
In Kapitel vier analysiert Sarah Bütikofer das Abstimmungsverhalten der Ständerätinnen und Ständeräte über drei Legislaturperioden hinweg und unter verschiedenen Gesichtspunkten. Die kleine Kammer zeichnet sich ja nicht nur dahingehend aus, dass sie kleiner, sondern auch kantonaler ist als der Nationalrat – zumindest im Selbstverständnis ihrer Mitglieder. Allerdings fällt das Urteil zum Phänomen der «ungeteilten Standesstimme» differenziert aus: Am häufigsten stimmt eine Kantonsdelegation vereint, wenn beide der Linken entstammen – häufiger noch, als wenn beide der CVP angehören. Bürgerliche Kombinationspaare stimmen zudem vor allem bei Schlussabstimmungen einheitlich ab, Linke dagegen schon in der Detailberatung. Was den Ständerat ebenfalls auszeichnet, ist der Umstand, dass immer mehr frühere Nationalrätinnen und Nationalräte in die kleine Kammer gewählt werden: