Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz
Von Silja Häusermann, Tarik Abou-Chadi, Reto Bürgisser und
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Über dieses E-Book
Die Autorinnen und Autoren leisten einen empirisch fundierten, reich und anschaulich illustrierten Beitrag zu Stand und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz. Sie kontextualisieren den «Schweizer Fall» im westeuropäischen Umfeld, beleuchten die Entwicklungen der SP Schweiz in den letzten Jahrzehnten und diskutieren Perspektiven für die zukünftige Formation und Ausrichtung der Partei.
Ähnlich wie Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz
Titel in dieser Serie (12)
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Rezensionen für Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz
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Buchvorschau
Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz - Silja Häusermann
Markus Freitag und Adrian Vatter (Hg.)
Politik und Gesellschaft in der Schweiz
Band 1:
Markus Freitag (Hg.)
Das soziale Kapital der Schweiz
Band 2:
Thomas Milic, Bianca Rousselot, Adrian Vatter
Handbuch der Abstimmungsforschung
Band 3:
Markus Freitag, Adrian Vatter (Hg.)
Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz
Band 4:
Fritz Sager, Karin Ingold, Andreas Balthasar
Policy-Analyse in der Schweiz
Band 5:
Fritz Sager, Thomas Widmer, Andreas Balthasar (Hg.)
Evaluation im politischen System der Schweiz
Band 6:
Markus Freitag
Die Psyche des Politischen
Band 7:
Adrian Vatter (Hg.)
Das Parlament in der Schweiz
Band 8:
Markus Freitag, Pirmin Bundi, Martina Flick Witzig
Milizarbeit in der Schweiz
Band 9:
Adrian Ritz, Theo Haldemann, Fritz Sager (Hg.)
Blackbox Exekutive
Band 10:
Marc Bühlmann, Anja Heidelberger, Hans-Peter Schaub (Hg.)
Konkordanz im Parlament
Band 11:
Sean Mueller, Adrian Vatter (Hg.)
Der Ständerat
Band 12:
Adrian Vatter
Der Bundesrat
Band 13
Silja Häusermann, Tarik Abou-Chadi, Reto Bürgisser u. a.
Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz
Band 14: Elia Heer, Anja Heidelberger, Marc Bühlmann (Hg.)
Schweiz – EU: Sonderwege, Holzwege, Königswege
Weitere Bände in Vorbereitung
NZZ Libro
Silja Häusermann, Tarik Abou-Chadi, Reto Bürgisser, Matthias Enggist, Reto Mitteregger, Nadja Mosimann und Delia Zollinger
Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2022 (ISBN 978-3-907291-79-5)
© 2022 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG
Lektorat: Ulrike Ebenritter, Giessen
Umschlag: icona basel, Basel
Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
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ISBN Druckausgabe 978-3-907291-79-5
ISBN E-Book 978-3-907291-96-2
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung und Überblick
1.1 Einleitung
1.2 Zentrale Argumente und Befunde
1.3 Zielsetzung des Buchs
1.4 Die Kapitel in der Übersicht
2 Die SP Schweiz im europäischen Kontext
2.1 Einleitung
2.2 Wähleranteile komparativ über die Zeit
2.3 Struktureller Wandel der Wirtschafts- und Beschäftigungsstruktur
2.4 Transformierte programmatische Struktur des Parteienwettbewerbs
2.5 Fazit
3 Wählerstruktur der SP Schweiz
3.1 Einleitung
3.2 Wer wählt die SP Schweiz?
3.2.1 Bildung
3.2.2 Berufsklassen
3.2.3 Alter
3.2.4 Geschlecht
3.2.5 Wohnort
3.3 Wählerstruktur der SP im Schweizer Parteienvergleich
3.3.1 Bildung
3.3.2 Berufsklassen
3.3.3 Alter
3.3.4 Geschlecht
3.3.5 Wohnort
3.4 Wen hat die SP Schweiz als Wähler:innen verloren und gewonnen?
3.4.1 Wählerwanderungen weg von der SP
3.4.2 Sozialstruktur der Abwander:innen
3.4.3 Wählerwanderungen hin zur SP
3.5 Fazit
4 Politische Identitäten und Sozialdemokratie in der Schweiz
4.1 Einleitung
4.2 Kollektive Identitäten als Bindeglied zwischen Sozialstruktur und Politik
4.3 Gruppenidentitäten und Selbstverortung der Schweizer Parteiwählerschaften
4.4 Selbstbeschreibungen an den Polen des Schweizer Parteiensystems: linke und rechtsnationale Wähler:innen im Vergleich
4.5 Fazit
5 Programmatische Gründe für die Parteiwahl
5.1 Einleitung
5.2 Verortung von Bildungsgruppen, Berufsklassen und räumlich definierten Gruppen im zweidimensionalen Raum – Vergleich der Schweiz mit West- und Nordeuropa
5.3 Programmatischer Wettbewerb in der Schweiz: Wie positionieren sich die Parteiwählerschaften und welche Themen sind für die Parteiwahl besonders wichtig?
5.4 Welche Themen sind für die Wahl der SP und anderer Parteien besonders entscheidend?
5.5 Themenherrschaft und Kompetenz
5.6 Fazit
6 Programmatische Modelle für die Sozialdemokratie und potenzielle elektorale Erträge der verschiedenen Strategien
6.1 Welche Positionen und Themen finden Anklang in der Wählerschaft?
6.1.1 Umfrage und methodisches Vorgehen
6.1.2 Resonanz der politischen Positionen im gesamten potenziellen SP-Elektorat
6.1.3 Resonanz der politischen Positionen in verschiedenen Bildungsgruppen
6.1.4 Resonanz der politischen Positionen in verschiedenen Altersgruppen
6.2 Programmatische Strategien für sozialdemokratische Parteien
6.2.1 Vier programmatische Modelle für die Sozialdemokratie
6.2.2 Verortung der SP im zweidimensionalen Raum
6.2.3 Welche strategischen Ausrichtungen stossen auf Zuspruch?
6.2.4 Erkenntnisse aus bestehenden Beobachtungsstudien in Westeuropa
6.3 Fazit
7 Das Wählerpotenzial der Sozialdemokratie in der Schweiz
7.1 Die Schweiz im Vergleich
7.1.1 Wählerpotenzial und Ausschöpfung
7.1.2 Politische Einstellungen des sozialdemokratischen Wählerpotenzials
7.1.3 Wo sind die potenziell gewinnbaren Wähler:innen und an wen drohen Verluste?
7.2 Fokus Schweiz
7.2.1 Wählerpotenzial und Ausschöpfungsquote über die Zeit
7.2.2 Profil der für die SP potenziell gewinnbaren Wähler:innen
8 Diskussion und Ausblick
8.1 Zentrale Befunde
8.2 Zentrale Herausforderungen für die Schweizer Sozialdemokratie
8.2.1 Rolle und Bedeutung im linken Lager
8.2.2 Ausrichtung, Konsistenz und Glaubwürdigkeit der programmatischen Strategie
8.2.3 Gestaltungsanspruch und Profilierung als Polpartei
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Literatur
Autor:innen
1Einleitung und Überblick
1.1Einleitung
Die Sozialdemokratie war in den letzten Jahrzehnten wie keine andere Parteifamilie den Stürmen der politischen Umwälzungen in Europa ausgesetzt. Bedrängt von wirtschaftlichem und sozialem Strukturwandel und neuen parteipolitischen Rivalen ringen die traditionsreichen sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa um ein neues, zukunftsträchtiges Profil. Befeuert werden diese Veränderungsprozesse von grosser medialer Aufmerksamkeit sowie von öffentlichen und parteiinternen Debatten. Insbesondere über Fehler und mögliche Strategien der Sozialdemokratie wird berichtet, spekuliert und gestritten; etwa über die Frage, ob sozialdemokratische Parteien zu weit nach rechts oder zu weit nach links gerückt seien in ihren wirtschaftspolitischen Forderungen und Entscheidungen; ob sie gesellschaftspolitisch konservativer auftreten müssten, um ihre traditionelle Wählerschaft zu halten oder zurückzugewinnen; ob sie zu wenig auf gesellschaftspolitisch progressive «Identitätspolitik» fokussierten, um auch eine jüngere Wählerschaft anzusprechen; und schliesslich, ob die Sozialdemokratie ihre Vormachtstellung im linken Spektrum neben den grünen und linksalternativen Parteien langfristig werde halten können.
Trotz vereinzelter Wahlerfolge sozialdemokratischer Parteien in den letzten Jahren liegt der überwiegende Fokus in all diesen Debatten auf den massiven mittel- und langfristigen Verlusten, die die sozialdemokratischen Parteien in den letzten Jahrzehnten in allen westeuropäischen Ländern verbuchen mussten. In der Tat haben sozialdemokratische Parteien seit den 1960er- und 1970er-Jahren im Durchschnitt etwa 15 Prozentpunkte an Wähleranteil verloren, von etwa 35 auf durchschnittlich 20 Prozent der Stimmen in nationalen Wahlen (was einem Verlust von etwa 40 Prozent des Ausgangsniveaus entspricht, siehe Abbildung 1.1). In einigen Ländern waren die Verluste sogar noch deutlich stärker, so etwa in Frankreich oder den Niederlanden, wo der Wähleranteil der sozialdemokratischen Parteien in dem Zeitraum sogar unter 10 Prozent fiel. Es ist daher kein Wunder, dass die Debatten über Zustand und Perspektiven sozialdemokratischer Parteien auf mögliche Gründe dieser Verluste fokussieren. Gerade in der medialen Auseinandersetzung und in essayistischen Diagnosen wird dabei in der Regel oft – und etwas vorschnell – auf eine Entfremdung der sozialdemokratischen Parteien von den Lebenswelten und Anliegen der «Arbeiterklasse» als ihrer traditionellen Kernwählerschaft geschlossen (z. B. Eribon 2016; Evans und Tilley 2017; Goodhart 2017). Auch für die Schweiz wurden solche Stimmen laut, die beispielsweise forderten, sozialdemokratische Parteien müssten «klare und relevante Botschaften statt Gender-Parolen» aussenden, um elektoral erfolgreich zu sein (Tages-Anzeiger 2021). Im gleichen Sinn wurden elektorale Verluste der SP immer wieder als Folge einer Entwicklung zu einer «Lifestyle-Linken» diagnostiziert (Tagblatt 2021; NZZ 2021).
Solche Beiträge haben nicht zuletzt die Selbstwahrnehmung und die internen Auseinandersetzungen der sozialdemokratischen Parteien stark geprägt und zu heftigen Richtungsdebatten geführt. Im Kontext erstarkender rechtsnationaler Bewegungen und Parteien, die in tieferen Einkommens- und Bildungsschichten besonders erfolgreich zu mobilisieren vermögen, nahm deshalb die Frage einen grossen Raum ein, ob sozialdemokratische Parteien ihre Wähler:innen «selbstverschuldet» nach rechts verloren hätten. Impliziert wird dabei, dass eine konsequentere programmatische Ausrichtung auf ausschliesslich wirtschafts- und sozialpolitisch linke und/oder gar auf linksnationale und linksautoritäre Positionen die Verankerung in der Arbeiterschaft und den Wähleranteil hätten stabil halten können.
Die vergleichende politikwissenschaftliche Forschung zum Wandel der Sozialdemokratie hat diese Fragen seit mehr als einem Jahrzehnt ausführlich und auf der Basis einer mittlerweile sehr guten und robusten empirischen Datenlage untersucht und ist zum Schluss gekommen, dass der Verlust von Wähleranteilen zum grössten Teil strukturellen Gründen geschuldet ist, also tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verschiebungen (d. h. nicht strategischen Fehlern), dass sozialdemokratische Parteien nur in ganz geringem Ausmass Wählerstimmen an rechtsnationale Parteien verloren haben und dass die strategischen Herausforderungen der sozialdemokratischen Parteien heute in erster Linie im Bereich des Wettbewerbs mit grünen und linksalternativen Parteien und in zweiter Linie mit zentristischen Parteien liegen (vgl. Rydgren 2013; Rennwald 2020; Häusermann et al. 2021a; 2021b; Abou-Chadi und Wagner 2022; Bischof und Kurer 2022).
Deshalb liegt der Fokus dieser politikwissenschaftlichen Beiträge heute weniger auf den Themen von Niedergang oder «Verrat» klassenspezifischer Interessen als auf der Transformation der sozialdemokratischen Wählerschaft und des Parteienwettbewerbs insgesamt. In politischeren Worten: Die Frage ist nicht, ob die Sozialdemokratie zu ihren elektoralen Blütezeiten von vor 50 Jahren zurückkehren kann, sondern ob und wie sie in der Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts ihren historisch konsistenten Forderungen nach sozialem Ausgleich und gesellschaftlicher Inklusion politisches Gewicht verleihen kann.
Zwei Abbildungen sollen diese alternative Perspektive verdeutlichen und ihre Bedeutung und Relevanz begründen. Abbildung 1.1 zeigt die Fragmentierung der Parteiensysteme Westeuropas seit den 1960er-Jahren. Sie zeigt, wie stark das Gefüge der parteipolitischen Machtverhältnisse sich über die letzten vier Jahrzehnte verändert hat. Der relative Niedergang der sozialdemokratischen Parteien lässt sich fast parallel für die Familie der rechten Parteien beobachten (christdemokratische, liberale und konservative Parteien). Beide Parteifamilien waren im 20. Jahrhundert ausserordentlich prägend in der Mobilisierung von Wähleranteilen und in der Gestaltung eines moderaten «Klassenkompromisses» in Form der sozialen Marktwirtschaft (Hall 2021). Seit den 1980er-Jahren jedoch werden diese vormals dominanten Parteien zunehmend bedrängt von alternativen linken, grünen und linkslibertären sowie nationalkonservativen Parteien am äusseren rechten Rand des Parteienspektrums.
Was wir in Westeuropa beobachten, ist demnach nicht in erster Linie eine Krise der Sozialdemokratie, sondern eine Fragmentierung und Pluralisierung der Parteienlandschaft und eine Neukonfigurierung sowohl des linken als auch des rechten Lagers. Diese Verschiebungen wurzeln sowohl in einer grundlegend transformierten Sozialstruktur (vgl. Kapitel 2 dieses Buchs) als auch in der gewachsenen Bedeutung von gesellschaftspolitischen Fragen (wie Umweltschutz, Immigration, internationale Zusammenarbeit, Inklusion, Gleichstellung usw.), die von den ehemaligen Volksparteien nicht in allen Ländern früh und gewichtig genug adressiert wurden (vgl. Kitschelt 1994; Kriesi et al. 2008). Die Tatsache, dass die sozialdemokratischen Parteien in allen Ländern Westeuropas Wähleranteile verloren haben und dass wir heute auch in allen Ländern Herausforderer am linken und am rechten Rand beobachten, deutet darauf hin, dass die Krise der Sozialdemokratie nicht einfach strategischen Fehlern geschuldet ist, sondern tiefergreifende strukturelle Wurzeln hat.
AbbAber auch auf der strategisch-programmatischen Ebene stellen sich wichtige Fragen für die Sozialdemokratie. Sie ist strukturellen Transformationsprozessen natürlich nicht hilflos ausgeliefert. In der Tat stehen die sozialdemokratischen Parteien vor der grossen Herausforderung zu definieren, was eine linke und soziale Politik im 21. Jahrhundert bedeutet und welche Formen des sozialen Ausgleichs und der gesellschaftlichen Integration sie berücksichtigen und priorisieren soll. Der Anteil der Wähler:innen, die eine ausgleichende, soziale und staatsinterventionistische Agenda unterstützen, hat nämlich im beobachteten Zeitraum keineswegs abgenommen. Abbildung 1.2 zeigt, dass der kumulierte Wähleranteil aller linken Parteien in Westeuropa (die oberste Linie in der Grafik) über die Zeit weitgehend stabil um die 40 Prozent geblieben ist. Diese Wählerstimmen teilen sich jedoch auf ein zunehmend ausdifferenziertes Parteienangebot auf, weil verschiedene linke Parteien die Fragen nach Ausmass, Formen und Prioritäten des sozialen Ausgleichs unterschiedlich beantworten. Für die sozialdemokratischen Parteien wird es daher zur zentralen Frage, ob und mit welchem programmatischem Angebot sie die wichtigste gestaltende Kraft im linken Spektrum bleiben können.
AbbIn der Schweiz verläuft die mediale und politische Debatte ähnlich wie die internationalen Auseinandersetzungen, was angesichts der Wählerverluste der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) und der Wähleranteilgewinne der Grünen Partei (GPS), der Grünliberalen Partei (GLP) und der Schweizerischen Volkspartei (SVP) wenig erstaunlich ist. Die Verschiebungen, die wir in ganz Westeuropa beobachten können, zeigen sich in der Schweiz sogar besonders ausgeprägt, sowohl was die steigende Fragmentierung des Parteiensystems (vgl. Vatter 2014: 120 ff.) und die zunehmende Bedeutung von grünen Parteien betrifft als auch hinsichtlich des spektakulären Aufstiegs der rechtsnationalen SVP (vgl. z. B. Lachat 2008). Abbildung 1.3 zeigt die Wähleranteile der wichtigsten Schweizer Parteien seit 1971. Auch die SP hat Wähleranteile verloren: Während sie zwischen 1920 und 1970 zwischen 25 und 30 Prozent der Wähleranteile in Nationalratswahlen gewinnen konnte, liegt dieser Anteil seit den Wahlen 2007 unter 20 Prozent. Und auch in der Schweiz hat der parallele Aufstieg der SVP die Frage auf den Tisch gebracht, ob und in welchem Umfang Wähler:innen aus dem klassisch sozialdemokratischen Wählermilieu ihre Stimme heute dem rechtsnationalen Lager geben.
AbbIm Einklang mit der internationalen Literatur hat die Schweizerische politikwissenschaftliche Forschung schon früh den Blick auf die Transformation des sozialdemokratischen Elektorats gelegt statt auf den blossen Verlauf des Gesamtstimmenanteils. Viele Beiträge haben die starke Verankerung der sozialdemokratischen Wählerschaft in der neuen Mittelschicht dargelegt sowie ihre Überlappung mit der Wählerschaft der Grünen und damit insbesondere die These in Zweifel gezogen, wonach Wählerabwanderungen in einfachen Links-rechts-Kategorien verstanden werden können (vgl. Nicolet und Sciarini 2010; Oesch und Rennwald 2010; Bühlmann und Gerber 2015; Rennwald 2020).
Die grundlegenden Fragen zu Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie sind für die Schweiz also die gleichen wie für die anderen westeuropäischen Länder. Deshalb lohnt sich die Kontextualisierung und die vergleichende Einordnung, auf die wir in diesem Buch Gewicht legen. Allerdings gilt es auch, Eigenheiten der Schweizer Sozialdemokratie in Erinnerung zu behalten, wenn wir aus den Befunden Schlüsse hinsichtlich Stärke und Aussichten der Sozialdemokratie in der Schweiz ziehen. Drei historische und institutionelle Spezifika stehen dabei im Vordergrund: Zum einen liegt der Wähleranteil der SP Schweiz im Vergleich zu dem ihrer europäischen sozialdemokratischen Schwesterparteien vergleichsweise tief. Aufgrund der frühen Demokratisierung der Schweiz 1848, der anfänglichen liberalen Hegemonie, der geografisch dezentralen Industrialisierung und des in vielen Kantonen virulenten Kulturkampfs zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die sozialdemokratische und sozialistische Arbeiterbewegung in der Schweiz auf einem deutlich härteren Pflaster Wähler:innen mobilisiert als in anderen Ländern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Sozialdemokratie im Umfeld von Industrialisierung und Modernisierung an elektoraler Stärke gewann, waren die politischen Identitäten vieler Wähler:innen – auch in der Arbeiterklasse – bereits anderweitig geformt und gefestigt, insbesondere konfessionell und territorial. Die Konsequenz ist, dass «elektoraler Erfolg» für die SP Schweiz im Unterschied zu sozialdemokratischen Erfolgen in den meisten Nachbarländern nicht Wähleranteile von 30 bis 40 Prozent bedeuten kann und muss.
Auch in einer zweiten Hinsicht definiert sich parteipolitische Stärke in der Schweiz etwas anders als in den meisten anderen europäischen Ländern: Durch die konstante Einbindung von zwei Bundesräten oder Bundesrätinnen der SP in die Regierung seit 1959 misst sich der Erfolg der Partei nicht unmittelbar in der Währung der Regierungsbeteiligung. In anderen Worten: Wählerschaft und Wähleranteile – auf die wir in diesem Buch fokussieren – sind nicht primär relevant aus instrumentellen Gründen der Regierungsbeteiligung. Das bedeutet jedoch nicht, dass Wähleranteile in der Schweiz eine geringere Bedeutung haben für Parteien, eher im Gegenteil: Sie wirken viel unmittelbarer als Zeichen des politischen Gewichts in politischen Aushandlungsprozessen in Parlamenten und Regierungen, als Demonstration der stetigen Mobilisierungsfähigkeit der Partei (insbesondere für direktdemokratische Urnengänge) sowie als Legitimitäts- und Machtbasis in Prozessen der Allianzbildung und Politikformulierung.
Eine dritte Besonderheit, vor allem institutioneller Natur, bezieht sich auf die Instrumente der direkten Demokratie – insbesondere Volksinitiative und fakultatives Referendum –, die die Parteipolitik in der Schweiz prägten und prägen. Die direkte Demokratie hat sich dabei als ambivalente Kontextbedingung herausgestellt: Auf der einen Seite erlaubt sie Parteien die stete Mobilisierung in der Stimmbevölkerung, auch über die Grenzen der eigenen Wählerschaft hinaus, und stärkt so ihren Einfluss auch ausserhalb von Regierung und Parlament. Andererseits erlaubt die direkte Demokratie aber auch Herausforderern, die etablierten Parteien zu klarer Stellungnahme zu neuen Themen zu zwingen: Für die SP Schweiz war in dem Kontext vor allem die frühe und sichtbare Mobilisierung der neuen linken sozialen Bewegungen seit den späten 1970er-Jahren von Bedeutung, die der Partei sowohl erlaubten als sie auch zwangen, sich früh neuen Themen zu öffnen.
1.2Zentrale Argumente und Befunde
Die Schweiz ist ein paradigmatischer Fall der Transformation der Sozialdemokratie und des Parteiensystems insgesamt. Drei Entwicklungen, die die gegenwärtigen Verschiebungen in den europäischen Parteiensystemen prägen, sind in der Schweiz ganz besonders früh und besonders ausgeprägt zu beobachten.
Erstens ist hier die massive Veränderung der Bevölkerungs- und Beschäftigungsstruktur im Zug des strukturellen wirtschaftlichen Wandels von der Industrieproduktion zu einer Dienstleistungs- und Wissensökonomie zu nennen. In wenigen Jahrzehnten hat sich der Schweizer Arbeitsmarkt grundlegend verändert: Weit mehr als die Hälfte der Beschäftigung in der Schweiz ist heute hoch qualifiziert und kognitiver Art. Während die Industrie immer noch eine hohe Wertschöpfungskraft hat, beschäftigt sie zunehmend weniger Personen. Insbesondere liegt der Anteil von Produktionsarbeit in der Industrie heute auf deutlich unter 20 Prozent der Beschäftigung. Konsistent mit diesem Wandel einher geht eine massive Bildungsexpansion. Bei den 15- bis 64-Jährigen verfügen etwa ein Drittel, bei den unter 40-Jährigen fast die Hälfte über