Bürger, Medien und Politik im Ruhrgebiet: Einstellungen – Erwartungen – Erklärungsmuster
Von Karl-Rudolf Korte und Jan Dinter
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Buchvorschau
Bürger, Medien und Politik im Ruhrgebiet - Karl-Rudolf Korte
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
K.-R. Korte, J. DinterBürger, Medien und Politik im Ruhrgebietessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-28069-7_1
1. Einleitung
Karl-Rudolf Korte¹ und Jan Dinter¹
(1)
NRW School of Governance, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Deutschland
Karl-Rudolf Korte (Korrespondenzautor)
Email: krkorte@uni-due.de
Jan Dinter
Email: jan.dinter@uni-due.de
Wird die liberale Idee der repräsentativen Demokratie zum Reparaturfall? Entfremden sich Gesellschaft und Politik immer stärker voneinander? Die letzten Wahlerfolge von Populisten in Deutschland und Europa haben diesen Eindruck gestärkt, denn ihre wichtigste Erfolgsquellen sind Unmut und Enttäuschung. Es ist in der Demokratie zweifelsohne etwas in Bewegung geraten, das viele an der Stabilität des politischen Systems zweifeln lässt. Politikverdrossenheit im Sinne einer fehlenden Zuversicht, dass Politiker im Interesse der Bürger handeln, wird seit Jahrzehnten diskutiert und diagnostiziert (vgl. zur Übersicht Arzheimer 2002). Sie ist als eine Enttäuschung über die gebrochenen Versprechen der Demokratie zu verstehen (Bobbio 1988; zuletzt Jörke und Selk 2017; Rosanvallon 2010). Wenngleich eine gesunde Skepsis konstitutiv für die Demokratie als Herrschaftsform der kritischen und mündigen Bürger ist und Unzufriedenheit mit dem Status quo im Idealfall ein Treiber für Innovationen wird (Kuhn 2013, S. 60), stellt sich dennoch die Frage, an welchem Punkt Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie auch dessen Stabilität gefährdet. Seit Jahren lässt sich feststellen, dass das „demokratische Defitzit" im Sinne einer Kluft zwischen Unterstützung demokratischer Werte und daraus resultierendem Anspruch auf der einen Seite und wahrgenommener Realität des politischen Alltags auf der anderen Seite größer wird (Norris 2011).
Als im Jahr 2015 der Begriff „Lügenpresse zum Unwort des Jahres gekürt wurde, sahen viele Beobachter dies als Zeichen für eine neue Qualität einer gesellschaftlichen Gesprächsstörung. Zwar kann von einer Erosion des Vertrauens in Medien aus heutiger Sicht nicht die Rede sein (vgl. dazu Reinemann et al. 2017; van Eimeren et al. 2017; Ziegele et al. 2018; Simon 2018). Allerdings zeigt sich auch, dass ein pauschales Negativbild bis hin zur Medienfeindlichkeit bei gut 15 bis 37 % der Bevölkerung in Deutschland verbreitet ist (Schultz et al. 2017) und sich Misstrauen gegenüber Medien bei einer Minderheit verfestigt (Jackob et al. 2019). Wenn sich Bürger nicht mehr nur von „der Politik
, sondern auch zunehmend von Medien unangemessen vertreten fühlen, beschädigt das das Fundament der demokratischen Gesellschaftsordnung.
Der lokalen Demokratie wird das Potenzial zugesprochen, gerade diese Beschädigungen reparieren zu können (vgl. Etzioni 1995; Dahl 1967; Putnam 2000). Kommunen gelten als Schulen und Rettungsanker der Demokratie, weil die geringere Distanz der lokalen Politik zum Bürger Halt und Orientierung in einer immer komplexer werdenden politischen Umwelt geben kann und durch die vielfältigen Beteiligungsmöglichkeiten das Lokale als demokratisches Erprobungsfeld fungiert (Vetter 2011, 2002). Insbesondere das Ruhrgebiet charakterisierte man lange als Region, in der die lokalen politischen Eliten von der Bevölkerung als zentrale Vermittler im Sinne einer „basisnahen Stellvertretung angesehen wurden (Goch 2001). Sie waren Teil des Selbstbildes einer regionalen Gesellschaft der „kleinen Leute
. Die ökonomischen und sozialen Grundlagen dieses Modells politischer Kultur verschwanden aber mit dem Niedergang der Montanindustrie. Inzwischen sehen einige Beobachter die lange von einer starken Unterstützung der Bevölkerung für die SPD geprägte politische Landschaft an Ruhr und Emscher als populistische „Hochburg im Westen (Sieben und Sobolewski 2017; vgl. Dinter 2019). Das starke Abschneiden der AfD, die sich selbst als Gegenpol zu einer so verstandenen politischen und medialen Elite darstellt, lässt vermuten, dass sich größere Bevölkerungsteile im „Revier
von klassischen Vermittlungs- und Entscheidungsinstanzen entfremdet fühlen.
Wie aber gestaltet sich die Gesprächsgrundlage politischer Öffentlichkeit im Ruhrgebiet im Sinne von Einstellungen gegenüber Politik und Medien sowie die diesen Einstellungen zugrunde liegenden Motive und Vorstellungen? Dieser Frage hat sich das von der Brost-Stiftung geförderte und von der NRW School of Governance durchgeführte Projekt „Kommunikationsstress im Ruhrgebiet: Die Gesprächsstörung zwischen Politikern, Bürgern und Journalisten" gewidmet. Dazu führte infratest dimap in unserem Auftrag im Dezember 2017 und August 2018 insgesamt vier Fokusgruppendiskussionen mit Bürgern aus dem Ruhrgebiet durch. Im April 2018 befragte infratest dimap zudem 1008 deutschsprachige Bewohner der Städte im Regionalverband Ruhr (RVR) zu ihren Einstellungen zu Politik und Medien.¹ Dabei untersuchten wir vordringlich vier verschiedene Komponenten der politischen Unterstützung (vgl. Easton 1975; Norris 2011). Zum ersten waren dies stark generalisierte Zustimmungen zu Werten der liberalen Demokratie. Eine zweite Stufe politischer Unterstützung ist die Bewertung der demokratischen Performanz. Vertrauen in Institutionen ist eine weitere Komponente politischer Unterstützung. Sie ist als generalisierte Zuversicht in das Wohlwollen sowie die Kapazität und Effektivität von Institutionen zu verstehen (Norris 2011, S. 19 f.).