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Policy-Analyse in der Schweiz: Besonderheiten, Theorien, Beispiele
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eBook473 Seiten5 Stunden

Policy-Analyse in der Schweiz: Besonderheiten, Theorien, Beispiele

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Über dieses E-Book

Die öffentliche Politik wird in der Schweizer Politikwissenschaft sehr aktiv beforscht. Ihre Erforschung dient der Lösung gesellschaftlicher Probleme. So untersucht die Policy-Analyse etwa das Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung oder die sich verändernde Rolle des Staates. Der neue Band der Reihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz» nimmt einerseits den institutionellen Rahmen des politischen Systems
der Schweiz explizit als Raster, andererseits beinhaltet er einen umfassenden Überblick über die Theorie, anschaulich illustriert mit konkreten Anwendungsfällen aus der Schweizer Politik. Ein Muss für alle, die die öffentliche Politik der Schweiz wirklich verstehen wollen.
SpracheDeutsch
HerausgeberNZZ Libro
Erscheinungsdatum1. Feb. 2017
ISBN9783038102731
Policy-Analyse in der Schweiz: Besonderheiten, Theorien, Beispiele

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    Buchvorschau

    Policy-Analyse in der Schweiz - Fritz Sager

    Markus Freitag und Adrian Vatter (Hg.)

    Politik und Gesellschaft in der Schweiz

    Band 1:

    Markus Freitag (Hg.)

    Das soziale Kapital der Schweiz

    Band 2:

    Thomas Milic, Bianca Rousselot, Adrian Vatter

    Handbuch der Abstimmungsforschung

    Band 3:

    Markus Freitag und Adrian Vatter (Hg.)

    Wahlen und Wählerschaft in der Schweiz

    Weitere Bände in Vorbereitung

    NZZ Libro

    Fritz Sager, Karin Ingold und Andreas Balthasar

    Policy-Analyse

    in der Schweiz

    Besonderheiten, Theorien, Beispiele

    NZZ Libro

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich

    Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2017 (ISBN 978-3-03810-243-4)

    Lektorat: Marcel Holliger, Zürich

    Titelgestaltung: icona basel, Basel

    Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

    ISBN 978-3-03810-273-1

    www.nzz-libro.ch

    NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung

    Danksagung

    Dieses Buch wäre nicht zustande gekommen ohne die Unterstützung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen wir zu grossem Dank verpflichtet sind. Für ihren grossen Einsatz wollen wir vorab Frau Ursina Roffler vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern sowie Frau Anna Frey und Frau Lyn Pleger vom Kompetenzzentrum für Public Management der Universität Bern danken. Ebenso danken wir für ihre wertvollen Beiträge Jasmin Blatter, Marietta Bürki, Anik Glaus, Susanne Hadorn, Markus Hinterleitner, Pascal Hurni, Lorenz Kammermann, Johanna Künzler, Jennifer Luginbühl, Philipp Lutz, Céline Mavrot, Nina Meili, Ladina Moser, Eva Thomann, Kristin Thorshaug und Stefan Wittwer. Adrian Vatter und Markus Freitag danken wir für die Aufnahme unseres Werks in die von ihnen betreute Schriftenreihe «Politik und Gesellschaft in der Schweiz». NZZ Libro schliesslich danken wir für die zügige und zielführende Zusammenarbeit bei der Produktion dieses Buchs.

    Bern und Luzern, im Januar 2017

    Fritz Sager, Karin Ingold und Andreas Balthasar

    1 Einführung

    Politik ist eine sehr vielschichtige und facettenreiche Angelegenheit. Eine sehr allgemeine Definition lautet: Politik ist die Lösung von gesellschaftlichen Problemen. Mit dieser sehr breiten Sichtweise werden verschiedene Aspekte von Politik erfasst: Erstens geht es um Gesellschaft, ob sie nun mitbestimmen kann oder nicht und in welcher Form und welche Teile davon einbezogen sind und welche ausgeschlossen werden – Politik betrifft immer ein soziales Ganzes. Zweitens ist Politik kein Selbstzweck, sondern es geht um gesellschaftliche Probleme. Probleme sind keine objektiv erfassbare Grösse, sondern bedingen eine Wertung. Das heisst, die Meinungen darüber, was ein gesellschaftliches Problem ist und was nicht, können auseinandergehen und sie tun das auch in den meisten Fällen. Politik beinhaltet deshalb den Streit und die Aushandlungsprozesse zu seiner Beilegung. Entsprechend impliziert drittens der Begriff «Lösung» sowohl einen Prozess als auch einen Erlass. Lösung als Prozess umfasst den Weg von der oben beschriebenen Feststellung, was für ein Problem denn genau gelöst werden soll, über die Einigung darüber, wie das Problem, auf das sich die Gesellschaft geeinigt hat, gelöst werden soll, bis hin zur tatsächlichen Behebung des Problems oder aber deren Scheitern. Lösung als Erlass bezeichnet das Konzept, in dem der Wirkmechanismus der Problembehebung festgelegt wird. Mit dieser Art und Weise der Problemlösung, also mit dem «Wie?» von Politik, beschäftigt sich die Policy-Analyse. Gegenstand der Policy-Analyse ist die Public Policy beziehungsweise die öffentliche Politik, wie sie in Abgrenzung zu den anderen Aspekten von Politik im deutschen Sprachraum genannt wird. Allgemein lässt sich eine öffentliche Politik definieren als «Ensemble kohärenter und zielgerichteter Handlungen und Entscheidungen unterschiedlicher Rechtsqualität, die dazu berufene staatliche, verbandliche oder private Personen im Hinblick auf die Lösung eines gesellschaftlichen Problems vornehmen beziehungsweise treffen» (Bussmann et al., 1997, S. 62).

    Die Policy-Analyse umfasst nicht nur eine praktisch-analytische Tätigkeit, die meistens von der Verwaltung, aber auch von privaten und Nichtregierungsorganisationen ausgeführt wird, sondern ist vor allem eine eigenständige Forschungsdisziplin, die sich hauptsächlich in der Politikwissenschaft ansiedelt. Im englischen Sprachraum werden die beiden Zugänge unterschieden durch die begriffliche Aufteilung in Policy Analysis für die praktische und meist ökonomisch ausgerichtete Wirkungsmodellierung von politischen Interventionen und in Policy Studies für die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der öffentlichen Politik als gesellschaftlichem Phänomen, das in der oben beschriebenen Weise sowohl Prozesse als auch Wirkmechanismen und Umsetzung umfasst. Im deutschen Sprachraum hat sich der Begriff Policy-Analyse für beide Orientierungen durchgesetzt und wird deshalb auch von uns für die hier präsentierte sozialwissenschaftliche Ausrichtung verwendet. In diesem Lehrbuch fokussieren wir uns somit auf die Policy-Analyse als akademische Disziplin und explizit politikwissenschaftliche Forschungstätigkeit.

    Ziel dieses Buchs ist es, verschiedene theoretische und konzeptionelle Elemente der Policy-Analyse vorzustellen und mit empirischen Beispielen aus der Schweiz zu untermauern. Hierzu stützen wir uns sowohl auf traditionelle Literatur der Policy-Analyse wie auch auf neuere theoretische, methodische und empirische Entwicklungen im Feld, die meistens unter dem Begriff Governance zusammengefasst werden. Den nachfolgend vorgestellten Ansätzen ist eigen, dass sie Policy-Analyse als die Untersuchung der öffentlichen Politik verstehen. Die öffentliche Politik dient wie gesehen der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Die Policy-Analyse bietet also eine «Rahmenperspektive», die analytische Kategorien und Konzepte für die Untersuchung von Politikprozessen und -strukturen bietet (Döhler, 2014, S. 76). Damit bilden unter anderem auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung sowie die Rolle, Ressourcen und Einflussmöglichkeiten der öffentlichen Verwaltung als politischer Akteur wichtige Untersuchungsgegenstände sowohl der politik- als auch der verwaltungswissenschaftlichen Betrachtung öffentlicher Politiken und ihrer Entstehungsprozesse.

    Die öffentliche Politik wird in der Schweizer Politikwissenschaft sehr aktiv beforscht und ist Gegenstand sämtlicher politikwissenschaftlichen Curricula. Gleichwohl gibt es bislang kein Lehrbuch, das sich der Analyse der öffentlichen Politik in der Schweiz annimmt (für Ausnahmen im Umweltbereich siehe Ingold et al., 2016; Knoepfel, 2007). Der vorliegende Band füllt diese Lücke, indem zum einen der institutionelle Rahmen des politischen Systems der Schweiz explizit als Raster genommen wird, andererseits ein umfassender Theorieüberblick mit jeweils konkreten Anwendungsfällen aus der Schweizer Politik illustriert wird.

    Nachdem wir nachfolgend den Begriff der «öffentlichen Politik» in der Policy-Analyse genauer definieren und einführen, gehen wir auf die Policy-Analyse als Disziplin in der Schweizer Politikwissenschaft ein. Wir schliessen mit einer Einführung in das Ziel und die Struktur des Buchs.

    1.1 Policy, Polity und Politics

    Mittels der angelsächsischen Differenzierung der Begriffe Policy, Polity und Politics wird eine Konkretisierung des Begriffs einer Public Policy möglich. So liegt dem Begriff der Policy ein doppelter Sinngehalt zugrunde. Zum einen dient er der Beschreibung einer Sachpolitik beziehungsweise eines Politikfelds wie zum Beispiel die Gesundheitspolitik, die Arbeitsmarktpolitik oder die Energiepolitik. Zum anderen erfasst er auch eine analytische Politikkategorie, die aus der englischen Begrifflichkeit abgeleitet wird. Die analytische Politikkategorie Policy ist neben der Polity und Politics eine der drei Dimensionen von Politik, die in Tabelle 1 dargestellt sind. Sie bezeichnet sowohl Ziele als auch Inhalte politischer Programme. Die Dimension Policy manifestiert sich in politischen Programmen, Aufgaben und Zielen. Dabei versucht die Policy Probleme zu lösen, zu gestalten und Aufgaben zu erfüllen, wobei ihr eine Wert- und Zielorientierung innewohnt (Schubert und Bandelow, 2003, S. 4 ff.). Beispiele für Policies sind Gesetze, Verordnungen, Entscheidungen und Massnahmen: zusammenfassend also alle politischen Entscheidungen, die einen direkten oder indirekten Einfluss auf die Bürger haben. Die Polity hingegen meint die Form von Politik, die sich durch Normen, Institutionen oder die Verfassung ausdrückt und durch Organisation, Verfahrensregeln und Ordnung gekennzeichnet ist. Die dritte Dimension von Politik, die Politics, weist prozessualen Charakter auf, sodass ihre potenziellen Erscheinungsformen zum Beispiel Interessen oder Konflikte sein können. Die Erscheinungsformen sind hierbei besonders durch Macht, Konsens und Durchsetzung gekennzeichnet (Böhret et al., 1988, S. 7). Die semantische Dreiteilung hat primär theoretischen Charakter, da in der Realität die drei Dimensionen eng miteinander verwoben und mitunter nicht klar voneinander zu trennen sind. Dennoch ist es wichtig, diese Trennung vorzunehmen, um insbesondere die verschiedenen Aspekte bei der Generierung und Umsetzung einer Public Policy zu verstehen.

    Eines der Hauptziele dieses Buchs ist es, auf die Eigenheiten des schweizerischen Kontexts einzugehen, wenn es um die Bereitstellung und Umsetzung von öffentlichen Politiken geht. Gerade die schweizerischen Institutionen (Polity), wie Föderalismus oder direkte Demokratie, haben einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung von Prozessen (Politics) und schliesslich auch von Inhalten (Policy). Auf diese politischen Institutionen der Schweiz wird im Kapitel 2 eingegangen, worauf sich Kapitel 3 und 4 dann konkreter dem Policy-Begriff widmen: Sie definieren die öffentliche Politik und stellen sie als Forschungsgegenstand vor. Politics spielen dann in den Kapiteln 5 und 6 eine zentrale Rolle: Der Policy Cycle fasst das Entstehen und Sich-entwickeln einer öffentlichen Politik als Prozess in verschiedenen Etappen zusammen. Und auch wenn sich die Politikprozesstheorien, wie sie in Kapitel 6 vorgestellt werden, von der Phasenheuristik des Policy Cycles distanzieren, sprechen auch sie den Politics eine wichtige Rolle zu, wenn es darum geht, Policies (als Plural von Policy) und somit Inhalte zu verstehen und erklären. Policies können also als ein Resultat von Politics verstanden werden; sie entstehen und entwickeln sich eingebettet in Polity. Deshalb versucht die Policy-Analyse, den gegenseitigen Abhängigkeiten dieser drei Elemente Rechnung zu tragen. Als Folge davon hat sich der Governance-Begriff, wie in Kapitel 7 vorgestellt, als neue Form des Steuerns und Lenkens etabliert. Unter Governance verstehen wir die komplexen Interdependenzen zwischen Akteuren, Prozessen und Institutionen bei der Untersuchung von öffentlichen Politiken, was also einer Policy-Analyse entspricht, die Policy, Polity und Politics berücksichtigt.

    1.2 Entwicklung einer Disziplin in der Schweiz

    Die Policy-Analyse hat die Schweiz via Etablierung der Verwaltungswissenschaft erreicht (Sager, 2014; Bandelow et al., 2013; Sager und Hurni, 2013). Germann (1998, S. 7) hält in seinem Übersichtswerk Öffentliche Verwaltung in der Schweiz zur schweizerischen Verwaltungswissenschaft fest, dass in der Nachkriegszeit die juristische Sichtweise prägend war und sich erst ab den 1970er-Jahren auch «Ökonomen, Betriebswirte, Organisationssoziologen und Politikwissenschaftler» mit der öffentlichen Verwaltung zu beschäftigen begannen. Die Entwicklung wurde begleitet beziehungsweise getragen von der institutionellen Etablierung des Fachs. Als ersten wichtigen Schritt der Institutionalisierung identifiziert Germann (1998, S. 18) den Anfang der 1970er-Jahre eingerichteten Lehrgang für öffentliche Verwaltung am Département de science politique der Universität Genf. 1981 wurde das Institut des hautes études en administration publique (IDHEAP) in Lausanne in Form einer Stiftung als erstes Hochschulinstitut in der Schweiz gegründet, das sich ausschliesslich der Lehre und der Forschung im Gebiet der öffentlichen Verwaltung widmet. Das IDHEAP beschäftigte sich neben Lehre und Forschung auch stark mit Beratungsaufträgen der öffentlichen Hand und erhielt damit einen starken Praxisbezug.

    Die Policy-Analyse hat bei der Neuausrichtung der schweizerischen Verwaltungswissenschaft als Sozialwissenschaft zu Beginn eine tragende Rolle gespielt, die in der weiteren Entwicklung des Fachs jedoch alsbald wieder verloren ging. Das Bewusstsein, dass die öffentliche Verwaltung nicht als blosser «Durchlauferhitzer» beim Vollzug öffentlicher Politik fungiert, sondern vielmehr einen zentralen politischen Akteur in allen Phasen des Policy Cycle darstellt, also von der Problemdefinition über die Umsetzung und bis zur Bewertung von öffentlicher Politik, hat sich in der Politikwissenschaft seit dem Aufkommen der Policy-Analyse in den 1960er-Jahren etabliert. Dieser Befund einer dominanten Verwaltung zeigt sich beispielsweise in Urios (1972) Untersuchung der Mirage-Affäre. Eine eigentliche Blütezeit erlebte die politische Verwaltungsforschung in der Schweiz in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren mit den Werken von Klöti (1972), Geser und Höpflinger (1977), Geser (1981), Germann (1981), Urio (1984) und Linder (1987). Schon bald darauf hat sich die einschlägige Politikwissenschaft allerdings von den institutionellen Strukturen des Policy Making (Government) abgewandt und den Fokus auf den Prozess der gesellschaftlichen Steuerung (Governance) gelegt. Dieser Perspektivenwechsel weg von den administrativen Strukturen war durchaus gerechtfertigt durch den Wandel der politischen Realitäten. Tatsächlich stellten sich zunehmend hybride Formen der Politikgestaltung und -umsetzung ein, die die hierarchischen Strukturen formaler Demokratie ergänzten und teilweise substituierten (Benz und Papadopoulos, 2006). Der Wandel führte allerdings zu einer tendenziellen Übergewichtung der Rolle der gesellschaftlichen Selbststeuerung bei der Formulierung und Umsetzung öffentlicher Politik.

    Während die Anfänge der Policy-Analyse in der Schweiz eine starke Binnenorientierung aufwiesen, zeichnet sich die heutige Forschungslandschaft durch eine ausgeprägte Internationalität aus. Eine im Jahr 2013 durchgeführte Analyse der Ko-Autorenschaft in der Schweizer Politikwissenschaft hat gezeigt, dass zwei Drittel aller Artikel gemeinsam mit internationalen Forschenden publiziert wurden (Leifeld und Ingold, 2016). Vor allem die Disziplin der Policy-Analyse und der Verwaltungswissenschaften scheint besonders gut international wie auch national vernetzt zu sein: Unter den zehn aktivsten Forschenden, was Ko-Autorenschaften anbelangt, sind mehr als die Hälfte Policy-Analysten, auch wenn weniger als ein Viertel der Schweizer Politologen dieser Disziplin angehören (Leifeld und Ingold, 2016). Es zeigt sich also, dass, anders als ihre grossen Nachbarn Deutschland und Frankreich, die Schweiz zu klein ist, um sich selber zu genügen, was insbesondere bei der schweizerischen Politikwissenschaft frühzeitig zu einer Ausrichtung an internationalen Debatten geführt hat (Bandelow et al., 2013, S. 83). Die aktuelle sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der öffentlichen Politik in der Schweiz ist viel eher theoriegeleitet denn nur an schweizspezifischen Problemen interessiert, da sich internationale Visibilität nur mit Beiträgen zur disziplinären Theorieentwicklung herstellen lässt (Sager und Pleger, 2015). Idealerweise gelingt die Verbindung von praktischem Interesse und wissenschaftlicher Relevanz über den Fall hinaus.

    Für die Policy-Analyse stellt die Schweiz aus mehreren Gründen einen äusserst spannenden Fall dar. Aufgrund der direktdemokratischen Kontrolle ist die politische Debatte über öffentliche Politik in der Schweiz besser sichtbar, indem sie sich nicht auf Parlamentsdebatten und die Medienöffentlichkeit reduziert, sondern im Abstimmungskampf eine ausgeprägte Pluralität der öffentlichen Deliberation zeigt, die sich direkt in den Politikentscheid übersetzt. Diese Vielzahl der involvierten Akteure ist nicht einzigartig, sehr wohl aber die politische Bedeutung dieser Akteure. Aufgrund der Referendumsfähigkeit auch kleiner politischer Gruppen gilt es in der Schweiz, Interessen sehr breit aufzunehmen. Zweitens haben die direkte Demokratie und der Föderalismus zu einem begrenzten Zentralstaat geführt und auch die Kantone und Gemeinden weisen – nicht zuletzt aufgrund des nach wie vor verbreiteten Milizprinzips – eine vergleichsweise schwache Staatsmacht aus. Die Schweiz ist damit auf allen föderalen Ebenen ein spannender Testfall für hybride Formen der Politikgestaltung und -umsetzung, wie sie beispielsweise die New-Modes-of-Governance-Literatur beschreibt. Drittens bietet der Föderalismus ein ideales Forschungsfeld für den Vergleich von politischen Einheiten, indem sich die Kantone in einer Vielzahl von Eigenschaften unterscheiden, aber die wesentlichen Systemeigenschaften der schweizerischen Demokratie teilen und somit die Gegenüberstellung von 26 vergleichbaren staatlichen Systemen und ihres Umgangs mit Policy-Entscheidungen und deren Umsetzung ermöglichen (Sager und Mavrot, 2015). Die Bedeutung und Autonomie der untergeordneten föderalen Einheiten bietet schliesslich auch ein hervorragendes Forschungsfeld für die Analyse der vertikalen Mehrebenensteuerung einerseits, der horizontalen Koordination von formalen territorialen Einheiten in Gebieten, die nicht den tatsächlichen funktionalen Problemräumen entsprechen, in denen eine öffentliche Politik wirken soll, andererseits.

    Die folgenden Ausführungen zur Policy-Analyse alimentieren sich aus der internationalen Literatur und den theoretischen Debatten, die das Fach prägen. Der Fall, an dem diese Ansätze gespiegelt werden, ist jedoch die Schweiz. Und gemäss dem Anspruch des Buchs werden die Theorien und Konzepte auch auf ihre Anwendbarkeit auf den spezifischen Fall des politischen Systems der Schweiz hin diskutiert und bewertet.

    1.3 Ziel, Publikum und Aufbau dieses Buchs

    Das übergeordnete Ziel dieses Buchs ist es, die Besonderheiten des politischen Systems der Schweiz in den Zusammenhang mit der öffentlichen Politik und der Policy-Analyse zu stellen. Wir folgen also der Annahme, dass die Schweizer Institutionen einen speziellen Kontext für die Entstehung, Umsetzung und Evaluation öffentlicher Politiken schaffen. Das zweite Ziel, das wir mit diesem Buch verfolgen, ist es, eine Einführung in die wichtigsten Elemente, theoretischen Ansätze und konzeptionellen Entwicklungen der Policy-Analyse des 21. Jahrhunderts zu geben. In erster Linie handelt es sich hier um ein Lehrbuch, weshalb die Vermittlung von Grundlagen sowie das Darlegen aktueller wissenschaftlicher und empirischer Diskussionen zentral scheinen. In diesem Sinne kombinieren wir traditionelle Literatur und Standardwerke mit neusten Erscheinungen und Erkenntnissen der Forschung. Illustriert werden diese Heuristiken, Konzepte, Theorien und Ansätze anhand von Beispielen der Schweizer Policy-Forschung.

    Das Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie dient sowohl der Veranschaulichung der Forschungstätigkeit als auch der Bestätigung des Eingangsvotums, dass die Policy-Analyse sowohl Wissenschaft wie auch Praxis sein kann. Dieses Buch wendet sich in erster Linie an Studierende der Politik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im weiteren Sinne, der Verwaltungswissenschaften und der Policy-Analyse im engeren Sinne. Doch auch Forschenden und Praktikern aus Universitäten, Fachhochschulen, im öffentlichen und privaten Sektor Tätige, die sich für die Policy-Analyse im Schweizer Kontext sowie für aktuelle Forschung in verschiedenen Schweizer Politikfeldern interessieren, bietet dieses Buch ein geeignetes Grundlagen- und Nachschlagewerk.

    Dieses Buch gliedert sich in acht Kapitel und umfasst nach dieser Einleitung folgende Inhalte. In Kapitel 2 werden das politische System und die zentralen Institutionen der Schweiz beschrieben. Dieser Einstieg durch die Darlegung der Polity verfolgt oben erwähntes Ziel, den Fokus auf die Gestaltung öffentlicher Politiken im speziellen Rahmen des Schweizer Kontexts zu legen. Anschliessend wird eine Abgrenzung des Begriffs der öffentlichen Politik anhand ihrer zentralen Elemente vorgenommen. Ein solches Element stellen sogenannte Policy-Instrumente dar: Sie sind einzelne Eingriffe des Staats in die Gesellschaft oder Wirtschaft und Teil einer Policy oder eines politischen Programmes. Typische solche Policy-Instrumente sind zum Beispiel Verbote, aber auch Steuern oder andere marktwirtschaftliche Anreizsysteme. Zudem wird in Kapitel 3 auch auf Akteure und spezifische Akteursgruppen eingegangen, die direkt mit diesen Policy-Instrumenten in Berührung kommen. Dazu gehören die Verwaltung und die politischen Behörden, die Policy-Instrumente gestalten, über ihre Einführung entscheiden und diese umsetzen oder die Umsetzung delegieren; aber auch Begünstigte oder Adressaten einer öffentlichen Politik. Letztere werden auch Zielgruppe einer staatlichen Intervention genannt, da durch ihre Verhaltensänderung das politisch definierte Ziel erreicht werden soll. Kapitel 4 legt anschliessend den Anspruch der Policy-Analyse zum Verständnis öffentlicher Politiken dar. Wir diskutieren sowohl die Definition von Policy-Erfolg, seine verschiedenen Ausprägungen wie auch die Wichtigkeit von erfolgreichen Politiken. Darauf aufbauend werden die zentralen theoretischen Grundlagen zur Analyse öffentlicher Politiken in den Kapiteln 5 und 6 detailliert erläutert. Dazu stellen wir zuerst den Policy Cycle vor (Kapitel 5): Vom Agenda Setting über Formulierung, Entscheid und Umsetzung bis hin zur Evaluation einer öffentlichen Politik wird jede einzelne Phase des Zyklus vorgestellt und anhand von Schweizer Beispielen illustriert. Der Wert des Policy Cycle als analytische Heuristik, die auf der Abfolge von Phasen basiert, liegt vorab in der Darstellung und Systematisierung von öffentlicher Politik. Für die theoriegeleitete empirische Erklärung von Entstehung und Wandel öffentlicher Politiken müssen aber weitere Ansätze herbeigezogen werden. Dies geschieht in Kapitel 6, in dem wir fünf verschiedene Theorien und Frameworks (Multiple Streams, Neoinstitutionalismus, lerntheoretischer Ansatz, Advocacy Coalition Framework, Punctuated Equilibrium, Policy Diffusion, Blame Avoidance) vorstellen und erneut mit neuen Forschungsergebnissen der Schweizer Policy-Analyse illustrieren. Dieses Kapitel zeigt auf, dass die Policy-Analyse als Disziplin der Politikwissenschaft fähig ist, Elemente der Politics sowie der Policy zu kombinieren, aber auch einzeln zu identifizieren, und somit Faktoren, die einen Politikwandel herbeiführen können, herauszuschälen. In Kapitel 7 wird mit der Darstellung neuer Governance-Ansätze auch die veränderte Rolle des Staates, und damit der öffentlichen Verwaltung, im Rahmen neuer politisch-gesellschaftlicher Steuerungsformen dargelegt. Dabei fokussieren wir uns auf neue Policy-Formen im Sinne von veränderten Steuerungsinstrumenten, die entstehen, um komplexe gesellschaftliche, durch Nachhaltigkeit und Globalisierung geprägte Themen anzugehen. Governance umfasst aber auch weiter die Dimensionen der Politics und der Polity und legt die Rolle neuer Akteure und von Netzwerken dar, wenn öffentliche Politiken liberalisiert, staatliche Betriebe (teil-)privatisiert werden. In unserem Fazit (Kapitel 8) gehen wir explizit nochmals darauf ein, welchen speziellen Rahmen die Schweiz für die Gestaltung öffentlicher Politiken bietet. Wir hinterfragen das Gelernte aus dem Wechselspiel zwischen aus der internationalen Literatur angewandten Theorien mit einem Allgemeingültigkeitsanspruch und Schweizer Anwendungen und beantworten so die Frage, welchen Beitrag die Schweiz und die hiesige Policy-Analyse zur theoretischen Weiterentwicklung der Disziplin leisten kann.

    2 Das politische System der Schweiz als spezieller Kontext

    2.1 Einleitung

    Die Schweiz verfügt über ein spezifisches politisches System und gilt bisweilen als Sonderfall unter den liberalen Demokratien. Die ausgeprägte Pluralität unterschiedlicher Sprachen, Religionen und gesellschaftlicher Strukturen hat politische Institutionen mit aussergewöhnlicher demokratischer Machtteilung geformt. Das schweizerische System zeichnet sich durch die partikuläre Kombination von «direkter Demokratie», «Föderalismus» und «Konkordanz» aus. Dieses institutionelle Setting gestaltet den politischen Prozess in der Schweiz auf spezifische Weise. Dabei stellt die Schweiz in zweierlei Hinsicht ein Labor politischer Prozesse dar. Einerseits ermöglicht ein ausgeprägter Föderalismus, dass die Kantone ein experimentelles Versuchslabor für die nationale Politik bilden, und andererseits erlaubt der föderale Staatsaufbau Forschenden, die Wirkungen der direkten Demokratie empirisch-vergleichend zu analysieren (Vatter, 2002). In diesem Kapitel stellen wir die drei institutionellen Grundpfeiler des schweizerischen politischen Systems dar und diskutieren deren spezifischen Folgen für den politischen Prozess.

    2.2 Institutionen

    Die zentralen Institutionen des politischen Systems der Schweiz sind die direkte Demokratie, der ausgeprägte Föderalismus und die Konkordanz, die im Folgenden in dieser Reihenfolge präsentiert werden.

    2.2.1 Direkte Demokratie

    In keinem anderen Land sind die unmittelbare Volkssouveränität und die direktdemokratische Bürgerpartizipation so stark ausgebaut wie in der Schweiz. Im internationalen Vergleich werden die Schweizerinnen und Schweizer mit Abstand am häufigsten an die Urne gerufen, um über wichtige sachpolitische Fragen die abschliessende Entscheidung zu treffen (Trechsel, 2007, S. 436). Beeinflusst von den politischen Ideen der Französischen Revolution, entwickelte sich die direkte Demokratie im 19. Jahrhundert zuerst auf der Ebene der Kantone. Erst später erfolgte die Entwicklung auf Bundesebene (Vatter, 2014a, S. 344 ff.). Die Bundesverfassung von 1848 kannte einzig das obligatorische Verfassungsreferendum als Element direkter Demokratie. Infolge von Verfassungsrevisionen kamen das Gesetzesreferendum (1874), die Volksinititiave (1891) und das Staatsvertragsreferendum (1921) als neue direktdemokratische Instrumente hinzu.¹ Diese vier Instrumente bilden bis heute den Kernbestand direktdemokratischer Mitwirkungsrechte und geben der Stimmbevölkerung die Funktion einer institutionalisierten Opposition. Die direkte Demokratie dient so als Ergänzung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Das schweizerische Entscheidungssystem wird daher in seiner Gesamtheit als «halbdirekte Demokratie» beschrieben (Linder, 2012, S. 242).

    Die verschiedenen direktdemokratischen Instrumente können nach deren Anwendungsbereich und der Art ihres Zustandekommens unterschieden werden (Linder, 2012, S. 270). Das «Verfassungsreferendum» ist die obligatorische Volksabstimmung über alle Verfassungsänderungen sowie Beschlüsse über einen Beitritt zu supranationalen Organisationen. Das «Gesetzesreferendum» kann gegen alle verabschiedeten Gesetze sowie referendumspflichtigen Bundesbeschlüsse ergriffen werden und kommt dann zustande, wenn 50 000 gültige Unterschriften gesammelt wurden oder acht Kantone eine Abstimmung verlangen. Die «Volksinitiative» verlangt eine Teil- oder Gesamterneuerung der Bundesverfassung und kommt bei einer Anzahl von 100 000 gültigen Unterschriften zustande. Das «Staatsvertragsreferendum» kann gegen wichtige Staatsverträge ergriffen werden und benötigt für das Zustandekommen die gleichen Erfordernisse wie das Gesetzesreferendum. Auf kantonaler Ebene existieren zudem eine Reihe weiterer direktdemokratischer Mitwirkungsrechte, wobei zwischen den einzelnen Kantonen grosse regionale Unterschiede festzustellen sind (Fischer, 2005).

    Auch wenn nur gegen wenige Gesetzesbeschlüsse ein Referendum ergriffen wird, wirkt das Gesetzesreferendum als wichtiges Kontrollinstrument gegenüber Regierung und Parlament. Die Referendumsdrohung wie auch die mögliche Ergreifung einer Volksinitiative dienen als Verhandlungspfand im politischen Prozess und führen dadurch zur Integration aller wichtigen politischen Kräfte und zum Erarbeiten einer Kompromisslösung, die sich in einer allfälligen Volksabstimmung als mehrheitsfähig erweisen würde (Neidhart, 1970). Während dem Referendum gerne die Wirkung als Bremspedal zugeschrieben wird, kommt der Volksinitiative die Wirkung eines Gaspedals zu, die es der ausserparlamentarischen Opposition ermöglicht, neue Themen und Ideen ins politische System einzubringen (Linder, 2012, S. 265). Der Volksinitiative werden die Funktionen eines Ventils (Lösungsvorschläge bei hohem Problemdruck), eines Schwungrades (Verstärkung eines politischen Anliegens), eines Katalysators (Forderungen auf die politische Agenda setzen) und der politischen Mobilisierung zugeschrieben (Linder, 2012, S. 287 ff.).

    In der politischen Praxis erzeugen direktdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten als zusätzlicher Vetospieler einen Status-quo-Bias (Brunetti und Straubhaar, 1996), einen Bremseffekt auf staatliche Interventionen sowie eine moderate Fiskalpolitik (Freitag et al., 2003). Des Weiteren konnten eine Reihe von gesellschaftlichen Auswirkungen der direkten Demokratie festgestellt werden. So weist Freitag (2006) einen positiven Effekt der direkten Demokratie auf zivilgesellschaftliches Engagement und Sozialkapital nach. Stadelmann-Steffen und Vatter (2012) zeigen zudem, dass direktdemokratische Partizipation die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie erhöht.

    Die demokratischen Mitspracherechte werden rege genutzt: Zwischen 1848 und 2012 kam es insgesamt zu 582 direktdemokratischen Urnengängen (Vatter, 2014a, S. 353). Während obligatorische Referenden mit 75 Prozent meist angenommen wurden, haben Volksinitiativen mit 10 Prozent eine deutlich geringere Erfolgschance. In den letzten Jahrzehnten zeichnet sich nicht nur ein Trend zu einer stärkeren Nutzung direktdemokratischer Rechte ab (Altman, 2011), sondern auch zu einer deutlich gestiegenen Erfolgschance von Volksinitiativen (Vatter, 2014a, S. 351).

    Die direkte Demokratie ist ein bestimmendes Wesensmerkmal des politischen Systems der Schweiz und erfreut sich wachsender Beliebtheit bei den politischen Akteuren. Trotzdem steht das Verfahren vor neuen Herausforderungen. So droht die direkte Demokratie die Rechte von religiösen Minderheiten zu beschneiden (Vatter, 2011) und die Schweiz in Konflikt mit dem internationalen Recht zu bringen, was zu einer aussenpolitischen Isolation führen könnte. Mit der verstärkten Polarisierung im Schweizer Parteiensystem könnte sich ein Funktionswandel der direktdemokratischen Rechte abzeichnen, bei dem Volksinitiativen verstärkt durch politische Parteien zur Wählermobilisierung verwendet werden und weniger als Instrument zur Förderung von Minderheitenanliegen (Lutz, 2011, S. 374). Empirische Belege für diese These sind hingegen rar (Vatter und Caroni, 2016). Das Verhältnis von Volkssouveränität zu Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus gewinnt durch diese Entwicklungen neue Aktualität und verstärkt die Spannungen im politischen System der Schweiz.

    2.2.2 Föderalismus

    Die schweizerischen Kantone geniessen verglichen mit dem internationalen Umfeld eine einmalig starke Stellung innerhalb des Bundesstaates: Aufgrund von Elementen wie einer eigenen Verfassung, ausgebauten Institutionen der Gewaltentrennung sowie verschiedenen Einflusskanälen auf die bundesstaatliche Ebene stellen die Gliedstaaten gewissermassen «Nationen im Kleinen» dar (Vatter, 2014a, S. 427, 466). Die Schweiz wird daher in der Forschungsliteratur als Paradebeispiel eines föderalistischen Staats bezeichnet (Watts, 2008; Rentsch, 2002).

    Die zentrale Position der Kantone lässt sich auf die Zeit vor der Staatsgründung 1848 zurückführen. Jahrhundertelang waren die Kantone – auch «Stände» genannt – tatsächlich eigenständige Gebilde gewesen, die nur durch einzelne Verträge lose miteinander verbunden waren (Linder, 2010, S. 43). Nachdem Napoleon Bonaparte ihnen zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfolglos den Stempel

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