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Zwischen Hakenkreuz und Sichel: Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946). Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung
Zwischen Hakenkreuz und Sichel: Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946). Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung
Zwischen Hakenkreuz und Sichel: Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946). Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung
eBook488 Seiten6 Stunden

Zwischen Hakenkreuz und Sichel: Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946). Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung

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Über dieses E-Book

Als genialer und produktiver Neutestamentler veränderte Ernst Lohmeyer den herrschenden Konsens in der neutestamentlichen Wissenschaft. Seine akademische Laufbahn wurde von fast zehn Jahren Wehrdienst sowohl im Ersten und wie auch im Zweiten Weltkriegen unterbrochen. Als Rektor der Universität Breslau wurde Lohmeyer wegen seines Widerstands gegen die Herrschaft der Nationalsozialisten in der Universität abgesetzt und an der Ostfront eingesetzt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – wieder als Rektor der Universität Greifswald – wurde Lohmeyer wegen seines Versuchs, eine intellektuelle freie Universität wiederherzustellen, von der Sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und ermordet. Ein fünfzig Jahre dauerndes Verschweigen seines Schicksals folgte in der ehemaligen DDR. Diese Biographie erzählt Lohmeyers Lebensgeschichte, sie erforscht die Gründe für sein Verschwinden und seine Hinrichtung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum12. Dez. 2022
ISBN9783647993980
Zwischen Hakenkreuz und Sichel: Das bewegte Leben Ernst Lohmeyers (1890–1946). Sein Leben, sein Verschwinden und seine Hinrichtung

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    Buchvorschau

    Zwischen Hakenkreuz und Sichel - James R. Edwards

    Kapitel 1. Eine posthume Inauguration

    „Niemand weiß, wo Lohmeyer seine letzte Ruhe gefunden hat. Wir alle aber wissen, wer er war und für uns noch immer ist: ein

    hervorragender Theologe, ein großer Mensch, voller Lauterkeit und

    Arglosigkeit, ein Märtyrer für die Freiheit der Universität, in der

    Sprache Israels: ein ‚Gerechter unter den Völkern‘."¹

    Günter Haufe, 1996

    Ein unbeholfener Auftritt

    Ich schob mich seitlich vor den Menschen vorbei, die in der zweiten Reihe saßen. In der Mitte der Reihe befand sich ein freier Stuhl, der mit einer Karte für „Herr Edwards" reserviert war. Rasch nahm ich Platz und richtete alle Aufmerksamkeit auf das Abendprogramm, das sich vorne abspielte, in der Hoffnung, meine Störung wiedergutmachen zu können. Aber zumindest in diesem Moment nahm ich alles wahr wie durch einen Schleier. Ich hatte gerade eine Reise von knapp zehntausend Kilometern hinter mich gebracht, um an einer wichtigen Inaugurationsfeier teilzunehmen, sicherlich der ungewöhnlichsten, die ich je erlebt hatte. Und ich war spät dran. Von North Dakota, wo ich eine Professur für Religion an der University of Jamestown innehatte, war ich nach Chicago geflogen, von Chicago per Nachtflug nach München und von dort mit einem Inlandsflug nach Hamburg. In Hamburg war ich in den Zug gestiegen – nicht in den ICE, sondern in die langsamere Regionalbahn, die mir Zeit verschaffen sollte, mich auf meine ganz besondere Pilgerfahrt einzustimmen. Fünfeinhalb Stunden später kam ich in Greifswald an, einer malerischen, mittelgroßen Universitätsstadt, die im Norden an die Ostsee grenzt und im Osten an Polen.

    In den vorangegangenen vier Jahren hatte ich Nachforschungen über den Mann angestellt, der in das Amt eingeführt werden sollte. Ich hatte einen wissenschaftlichen Artikel über ihn verfasst, der ins Deutsche übersetzt wurde und nur einen Monat vor der Inauguration in einer führenden deutschen Fachzeitschrift erschienen war. Dieser Artikel hatte mir eine förmliche Einladung zur Amtseinführung an der Universität Greifswald eingebracht, das hieß: bei der Feierlichkeit neben den Honoratioren und der Familie zu sitzen, neben Universitätsvertretern und politischen Repräsentanten des nordöstlichen Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern. Die ersten beiden Reihen waren für die Honoratioren reserviert. Zeit und Ort waren auf der Einladung deutlich angekündigt: Aula der Universität, 19. September 1996, 19 Uhr.

    Ich bat den Dekan der University of Jamestown, mich für eine Woche von meinen Lehrverpflichtungen beurlauben, damit ich dabei sein konnte. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn das Lehrdeputat in Jamestown war hoch, es gab kaum Assistenten. Vier meiner Religionsstudenten im Hauptstudium erklärten sich freundlicherweise bereit, mich eine Woche lang zu vertreten. Nach Abschluss der Vorbereitungen trödelte ich herum. Manchmal geht einfach alles schief … Ich hatte im Kopf, dass die Veranstaltung um 19.30 Uhr beginnen sollte, und keinen Blick mehr auf die Einladung geworfen. Zügig eilte ich zur Universität und rechnete damit, deutlich zu früh einzutreffen. Ich rannte die Treppe zur stattlichen Aula im zweiten Stock hinauf und war um 19.10 Uhr dort. Als ich Musik hinter den geschlossenen Türen hörte, nahm ich an, dass das Orchester sich einspielt. Vorsichtig öffnete ich die Tür … und musste feststellen, dass der Saal voll besetzt war und die Feierlichkeiten längst angefangen hatten. Unmöglich, jetzt noch ruhig oder unauffällig einzutreten.

    Die Musik – Bachs Contrapunctus IV aus Die Kunst der Fuge, gespielt von einem Pianisten auf einem polierten schwarzen August-Förster-Flügel, zwei Geigern, einem Cellisten und einem Bratschisten –, war gerade zu Ende, als ich meinen Platz einnahm. Professor Jürgen Kohler eröffnete die Zeremonie mit einer förmlichen Begrüßung. Regine Marquardt, Kultusministerin von Mecklenburg-Vorpommern, sprach im Namen der Bundesregierung ein paar feierliche Worte. Eine zweite Bach-Fuge, Contrapunctus I, wurde nun als Zwischenspiel aufgeführt. Aufmerksam ließ ich den Blick durch den Barocksaal schweifen, dessen Ambiente Bachs Musik optisch zu spiegeln schien. Die Wände in tiefem Zinnoberrot wurden durch zwei Reihen hochglänzender elfenbeinfarbener Säulen scharf abgegrenzt, die den Saal in ein Mittelschiff und zwei schmalere Seitenschiffe unterteilen.

    Die ionischen Voluten, die die Säulen krönten, stützten einen umlaufenden Balkon, ebenfalls aus hochglänzendem Elfenbein. Vergoldete Endstücke, Urnen und Ornamente zierten den oberen Teil der Balkonbrüstung. Die hohe Decke wurde von einem großen, dekorativen Medaillon in der Mitte dominiert, mit Kronleuchtern an beiden Enden. Der polierte Kastanienboden darunter reflektierte den ästhetischen Tanz von Farbe und Licht.

    Der besänftigende Schwung des Contrapunctus I lenkte meinen Blick auf den vorderen Teil des Saals. Dort befand sich das Podium für die Reden der Würdenträger. Dort befand sich auch der Stuhl des Rektors; er hatte eine Patina, die aussah wie Runen einer Sprache, die nur der Universität selbst vertraut war. Die Rückenlehne des Stuhls war mit der Amtskette des Rektors geschmückt. Der Stuhl allerdings war leer. Daneben stand das Foto eines Mannes – sein schönes Gesicht etwas gemeißelt und abgemagert, mit wissenden Augen, die leicht nach rechts blicken. Über dem Foto prangte eine schwarze Marmortafel mit der Inschrift in goldenen Lettern:

    In memoriam

    ERNST LOHMEYER

    geboren am 8.7.1890

    Professor für Neues Testament

    Greifswald 1935–1946

    Rektor der Universität ab 15.5.1945

    verhaftet vom NKWD am 15.2.1946

    zu Unrecht hingerichtet am 19.9.1946

    rehabilitiert am 15.8.1996

    Beim Lesen der vorletzten Zeile ersetzte ich die Jahreszahl 1946 in Gedanken durch 1996. Auf den Tag genau fünfzig Jahre zuvor war Ernst Lohmeyer vom berüchtigten NKWD, dem Vorläufer des ebenso berüchtigten KGB der Sowjetunion, hingerichtet worden. Dies war eine posthume Inauguration.

    Die Fuge als Metapher des Lebens

    Die Fuge ist die europäische Musikform mit den höchsten formalen und theoretischen Anforderungen. Eine Fuge beginnt mit dem Ton der Tonika, einem Leitthema oder einer „Stimme des Trostes und der Besänftigung. Dieses Thema wird anschließend von bis zu drei oder vier nachfolgenden „Stimmen in neuen Variationen aufgegriffen. Die Folgestimmen unterscheiden sich vom Ausgangsthema in zweierlei Hinsicht. Es sind Stimmen der Dominante, stärker als das anfängliche Thema der Tonika. Und sie fordern das Hauptthema heraus und verfolgen es weiter, wodurch die Spannung in der Fuge entsteht. Das Gelingen der Fuge ist abhängig von der Auflösung der Spannung zwischen dem Ausgangsthema auf der Tonika und den nachfolgenden Stimmen der Dominante.

    Das Selbstgespräch der Bach-Fuge klingt, als wäre es eigens für Lohmeyer komponiert worden. Sein Leben war so komplex und metronomisch so präzise wie eine Fuge. Das Anfangsthema seines Lebens war tonal – verheißungsvoll, besänftigend, tröstend. Mit seinen zwei Doktortiteln, jeweils einem in Theologie und Philosophie, konnte er sich in der intellektuellen und akademischen Welt früh und überzeugend durchsetzen. Zu seinen Interessengebieten gehörten das griechisch-römische Altertum, Altgriechisch sowie Latein und semitische Sprachen; dazu die Auslegung des Neuen Testaments, Philosophie, Musik und Poesie. Als er in seinen Dreißigern war, trug sein Genie Früchte – in renommierten Verlagen und Fachzeitschriften veröffentlichte er eine beeindruckenden Anzahl von Artikeln und Büchern. Er wurde auf angesehene Professorenstellen in Heidelberg und Breslau berufen, in Heidelberg erhielt er die Ehrendoktorwürde, in Breslau wurde er zum Rektor der Universität ernannt. Seine Schaffenskraft und sein Bekanntheitsgrad sprechen dafür, dass die Musen ihm gnädig gestimmt waren.

    Doch Anfang der 1930er-Jahre mischten sich neue, aufdringlichere und störendere Stimmen in die Fuge von Lohmeyers Leben. Wie viele aus seiner Generation sah er sich von Kräften beherrscht, die sich seiner Kontrolle entzogen. Die autoritäre NS-Ideologie lehnte er ab, insbesondere deren fanatischen Antisemitismus. Er schloss sich der Bekennenden Kirche an, einem Zweig der deutschen protestantischen Kirche, der sich dem Anschluss der Kirche durch den Staat widersetzte. Die ganze Zeit hielt er unerschütterlich am ursprünglichen Thema seines Lebens fest: biblischer Theologe zu sein. Er schrieb sehr viel – nicht nur Geisteswerke, sondern bei fast jeder Gelegenheit auch Werke, die seiner Seele näher waren, in Predigten, in der Korrespondenz mit intellektuellen Koryphäen der Zeit sowie Briefe an seine Frau während der neuneinhalb Jahre im Militärdienst beider Weltkriege. Sein Charakter und seine Brillanz führten dazu, dass er zum Rektor nicht nur einer, sondern von zwei deutscher Universitäten ernannt wurde. Die dissonanten Stimmen, die ihn angriffen, setzten ihn mit seiner Rektoratsverantwortung unter äußersten Zugzwang. An beiden Universitäten, die erste in nazibraunes Gewand gekleidet und die zweite in kommunistisches Rot, wurde ihm abverlangt, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, ohne Gott zu gewähren, was Gottes ist. Im gefährlichen Zirkus des öffentlichen Lebens im Deutschland der 1930er- und 1940er-Jahre war dies wie ein Hochseilakt ohne Sicherheitsnetz. Die erste Prüfung bestand er noch, ebenso die zweite – aber sein Erfolg bei der zweiten Prüfung kostete ihn das Leben.

    Die Veranstaltung, an der ich teilnahm, war eine Replika der Zeremonie, mit der Ernst Lohmeyer am 15. Februar 1946 in sein Amt eingeführt werden sollte. An diesem Tag stürmte der NKWD um 2 Uhr nachts in sein Haus und holte ihn ab. Am selben Tag fand vormittags um 11.00 Uhr die feierliche Amtseinführung statt, doch Lohmeyer war nicht anwesend, der Stuhl des Rektors blieb leer, und sämtliche Verweise auf ihn wurden eilig aus den Reden gestrichen. In der DDR wurden sein Name und sein Schicksal in den Jahrzehnten danach aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt. Alle Angaben über ihn und seinen Verbleib lagerten verschlossen in Archiven, und niemand wusste, wo. Fragen durften nicht gestellt, Informationen nicht preisgegeben werden. Erst nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989, dem Zusammenbruch des Kommunismus in den Ostblockländern und schließlich in Russland selbst konnte das Schicksal von Ernst Lohmeyer geklärt werden. Das wichtigste Symbol für die lang ersehnte Aufklärung war die Feier, an der ich teilnahm – zu Ehren seiner, wenn auch posthumen, Amtseinführung, die ihm fünfzig Jahre zuvor zu Unrecht versagt worden war.

    Die Inaugurationszeremonie, die Schönheit des Barocksaals und der Frohsinn des Contrapunctus I heiterten meine Seele wieder auf und regten meine Lebensgeister an. Die wilde Leidenschaftlichkeit in Lohmeyers Gesichtszügen hatte mich in den Bann geschlagen, wie eine Ikone einen Verehrer in den Bann schlägt. Die Worte, mit denen er rehabilitiert wurde – „zu Unrecht hingerichtet … entlastet" – waren befreiend, eine Ehrenrettung und trotz der Traurigkeit voller Freude. Der Gedenkgottesdienst war wie das reinigende Wasser der Absolution, die Vollendung von fast zwei Jahrzehnten der Bemühungen meinerseits und noch mehr seitens seiner Familie und der Universität Greifswald, um dem Nebel der kommunistischen ostdeutschen und russischen Bürokratie Fakten über sein mysteriöses Verschwinden mitten der Nacht und seinen Tod zu entreißen.

    Zudem spiegelte die Bach-Fuge, obwohl eher schwach, meine eigene Suche nach Lohmeyers Schicksal wider. In mir war eine Stimme gewesen, die nach einem Doktortitel in Theologie strebte, doch dieses Streben war durch Stimmen von Lohmeyers ungelöstem Schicksal aufgestört worden. Im Lauf der Jahre wurden die Stimmen immer zahlreicher und eindringlicher. Sie zogen mich, einen merkwürdigen Amerikaner, hinein in die Lebensgeschichte dieses sehr preußischen Mannes, dessen Mut und Glaube erst in Nazi-Deutschland und später im kommunistischen Ostdeutschland bis ans Limit geprüft werden sollten. Als sowjetische Militärangehörige ihn als „Staatsfeind" bezeichneten und 1946 ermordeten, hatten sie nicht nur vor, ihm das Leben zu nehmen, sondern darüber hinaus jegliche Erinnerung an ihn zu tilgen, als ob er nie existierte² – „as though he never existed". Fast wäre es ihnen gelungen.

    Aber nur fast. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Ernst Lohmeyer. Und es erzählt, wie mein Bestreben, sein Schicksal ans Licht zu bringen, mein eigenes Leben verändert hat.

    1Haufe: Ein Gerechter unter den Völkern. Gedenken an Ernst Lohmeyer. Rede an der Universität Greifswald anlässlich des fünfzigsten Jahrestages der Hinrichtung Lohmeyers, 19. September 1996.

    2Deutsch und kursiv im Original.

    Kapitel 2. Eine unpassende Frage

    „bis ihn höhere Gewalt einem bis heute ungeklärten Schicksal entgegenführte."¹

    Gerhard Saß, 1967

    Zufallsfund in einer Bibliothek

    Als ich das erste Mal von Ernst Lohmeyer hörte, war ich Ende zwanzig. Ich stieß auf seinen Namen, wie ich damals auf viele Namen stieß – ein Wissenschaftler mehr, den ich bei Recherchen für meine Doktorarbeit zu berücksichtigen hatte. Mitte der 1970er-Jahre schrieb ich meine Dissertation über das Markusevangelium in der McAlister Library am Fuller Theological Seminary in Pasadena, Kalifornien. Ernst Lohmeyers Evangelium des Markus galt als führender Kommentar zu Markus, publiziert im renommierten Meyerschen Kommentar in Deutschland. Lohmeyer veröffentlichte seine Schrift erstmals 1936, als Professor für Neues Testament an der Universität Greifswald. Die von mir verwendete Ausgabe war aber 1967 erschienen und wurde von einem Ergänzungsheft begleitet. In der deutschen Fachliteratur sind solche Hefte nicht ungewöhnlich; sie enthalten weitere Belege, Korrekturen, Änderungen, Streichungen usw., die sich aus späteren Erkenntnissen ergeben, und werden von Autor und Verlag angeboten, um eine frühere Publikation zu aktualisieren und länger lebendig zu halten. Zusammen mit der 1967 erschienenen Ausgabe von Lohmeyers Kommentar war das fünfzigseitige Ergänzungsheft also durchaus üblich, nur dass es nicht von Lohmeyer geschrieben war. Es trug den Namen Gerhard Saß, war auf 1950 datiert und begann mit folgenden Worten: „So erfreulich die Tatsache ist, dass der Markuskommentar Prof. Lohmeyers nunmehr in 2. Auflage erscheint, so schmerzlich ist es zugleich für Wissenschaft und Kirche, daß der Verfasser nicht mehr selbst die Herausgabe der Neuauflage übernehmen kann. Sein mir vorliegendes Handexemplar zeigt [,] wie er ständig an der Verbesserung und Ergänzung gearbeitet hat, bis ihn höhere Gewalt einem bis heute ungeklärten Schicksal entgegenführte."²

    Ich bin, wie viele andere auch, interessiert an dem Autor, den ich gerade lese, und möchte etwas über sein Leben erfahren, besonders wenn der Autor mir gefällt. Das Bedrückende im Vorwort von Saß wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen; das Schicksal dieses Autors war ein ungelöstes Rätsel. Ich zeigte die Passage meinem „Doktorvater Professor Ralph Martin und fragte ihn, was es damit auf sich habe. Niemand kannte sich mit solchen Dingen besser aus als Martin, der mir aber irgendwie entmutigt und in knappem britischen Tonfall erwiderte: „Es ist und bleibt ein Mysterium. Das machte es noch schlimmer für mich. Was war denn diese „höhere Gewalt", auf die Saß sich bezog – ein Regime, eine Regierung, vielleicht eine Streitkraft? Was hatte diese Gewalt ihm, Lohmeyer, angetan? Warum war das Mysterium nach all den Jahren immer noch nicht gelüftet? In der abgeschiedenen und eigentlich sicheren Welt der Wissenschaft sind solche Machenschaften nicht die Regel. Genauso aufschlussreich war, was Saß nicht sagte, was zu sagen er nicht über sich bringen konnte. Lohmeyers Schicksal war endgültig und unumkehrbar. Sein Verschwinden wurde nicht gemeldet, als ob er aufgefunden, das Rätsel gelöst und alles wiedergutgemacht werden könnte. Er war weg … für immer, und niemand wusste, warum.

    Es war die pure Anziehungskraft um Lohmeyers rätselhafte Unauffindbarkeit, die dafür sorgte, dass ich den Zettel behielt. Trotzdem kümmerte ich mich nicht weiter um die Angelegenheit. Damals war ich verheiratet, meine Frau und ich hatten zwei kleine Kinder, und ich war mit einer Vollzeitstelle plus Rufbereitschaft als Jugendseelsorger an der First Presbyterian Church in Colorado Springs beschäftigt. Aber junge Paare und junge Familien handeln gerne mal unvernünftig, sei es aus Notwendigkeit oder aus freiem Entschluss. Meine Frau Jane und ich machten da keine Ausnahme. Wir kauften ein älteres Haus, das wir in unserer Freizeit mit spärlichen Mitteln renovierten. Außerdem schrieb ich mich für ein Doktoranden-Programm ein, was bedeutete, drei Mal pro Jahr nach Pasadena zu fliegen, um mich dort in der Bibliothek jeweils zwei Wochen lang in Recherchen zu vertiefen, während Jane mit dem Alltag in Colorado Springs zurückblieb und sich allein um Kinder, Haus, Hund, Garten und Unvorhergesehenes kümmerte. Nach den zwei Wochen in Pasadena flog ich wieder nach Colorado Springs und schrieb zu Hause die Kapitel meiner Dissertation, die meine Recherchen erbracht hatten. In den 1970er-Jahren war meine To-do-Liste länger als je zuvor oder jemals danach. Und während eines Fuller-Kurzsemesters stolperte ich über den irritierenden Hinweis von Gerhard Saß. Dieser Hinweis führte dazu, dass ich den Namen Lohmeyer nicht mehr vergessen konnte; aber mir fehlten Zeit und Muße, mich näher darauf einzulassen.

    Entschluss an einer Stadtmauer

    1978 erhielt ich meinen Doktorgrad in Neuem Testament und wurde als Professor für Religion an die Universität Jamestown in North Dakota berufen. Im folgenden Sommer kehrte ich mit einer Organisation namens Berlin Fellowship nach Ostdeutschland zurück, wo ich Beziehungen auffrischte, die ich bei einem Besuch 1971 geknüpft hatte. Berlin Fellowship war aus dem Flüchtlingsdienst der Hollywood Presbyterian Church nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 hatte die halbe Stadt vom Westen abgeschnitten, und was dann als Eiserner Vorhang in die Geschichte einging, trennte die östlichsten Länder Deutschlands von den westlichen ab. Durch jährliche Besuche der amerikanischen Kirche bei Pastoren, Kirchen und Christen im Osten Deutschlands wurde Berlin Fellowship ein stiller, aber mächtiger Zeuge der Einheit der Kirche in einer politisch geteilten und militärisch instabilen Welt.

    Der Name verrät, worum es Berlin Fellowship hauptsächlich ging: um „Berlin, die geteilte Stadt und Brennpunkt des Kalten Krieges zwischen Ost und West, und um „Fellowship, den Aufbau von Freundschaften und wechselseitig förderlichen Beziehungen. Das wurde erreicht, indem amerikanische Christen in Vierer-Teams für einige Tage bestimmte Gemeinden in Ostdeutschland besuchten, sich dort zu Ausflügen, Picknicks, Spielen, Gesprächen trafen und zu Bibelarbeit, Gottesdienst und Gebet zusammenfanden. Berlin Fellowship drehte sich zuallererst um Menschen – nicht um Politik oder Wirtschaft, nicht um Ideologie oder Militärstrategie. Berlin Fellowship vermied alles, was verboten war oder provokativ sein konnte, um das Leben der Menschen in Ostdeutschland nicht zu gefährden. Die Organisation hat sich nicht an subversiven politischen Aktivitäten beteiligt und keine Konterbande nach Ostdeutschland geschmuggelt. Die Einreise erfolgte mit legalen Touristenvisa. Auch wenn es der breiteren Öffentlichkeit nicht bekannt war, hat die ostdeutsche Seite zu solchen Reisen sogar ermutigt, waren sie doch eine Möglichkeit, sich harte Westwährung zu beschaffen.

    Im Juni 1979 übersetzte ich für ein Berlin Fellowship Team in Greifswald. Wir saßen in unserem Abschlusstreffen, gönnten uns Kaffee und Kuchen in der Dicken Marie, wie die Kirche, deren Turm ziemlich gestaucht aussieht, liebevoll genannt wurde. Das Untergeschoss des Gebäudes war bis auf den letzten Platz besetzt mit Leuten, die den amerikanischen Besuchern zuhören und mit ihnen sprechen wollten. Solcher Besuch war im abgelegenen Greifswald eine Seltenheit. Wer an dem Treffen teilnahm, ging damit auch ein gewisses Risiko ein, denn die Stasi missbilligte öffentliche Veranstaltungen, die nicht unter staatlicher Kontrolle standen. Unter die Anwesenden hatten sich garantiert Stasi-Agenten und Informanten gemischt, aber wer es war, konnte man nur vermuten. Trotzdem sprachen wir offen miteinander, und in dem Treffen, das mittlerweile in die zweite Stunde ging, schien noch viel Leben zu stecken. Während einer Diskussionspause fiel mir plötzlich ein, das Greifswald der Ort war, wo sich Ernst Lohmeyers „mysteriöses Verschwinden abgespielt hatte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich den Zusammenhang komplett ausgeblendet. Sein Schicksal und die Stadt Greifswald schienen zwei stromführende Leitungen zu sein; ich sollte versuchen, sie zu verbinden. „Hat Ernst Lohmeyer nicht in Greifswald gelehrt?, warf ich rasch ein. „Weiß jemand, was ihm zugestoßen ist?"

    Sofort wich alle Wärme und Geselligkeit aus der Zusammenkunft. Ich hatte keine Ahnung, woran es lag, aber Dr. Reinhard Glöckner, der Pastor der Dicken Marie, konnte den Vorfall natürlich einordnen. Er erhob sich hastig, beendete das Treffen ungelenk und schlug mir vor, einen Spaziergang zu machen. In einer Gesellschaft, in der Abhörgeräte in Radios und Fernsehern installiert waren, in Lampenfassungen und unter Empfangstresen, wo in Veranstaltungen wie diesen ausnahmslos immer die Ohren aufgesperrt und gelauscht wurde, garantierte ein Spaziergang normalerweise Ungestörtheit. Wir gingen die Brüggstraße entlang bis zu der Stelle, wo sie die alten Wallanlagen verließ. Dort bogen wir nach rechts ab und liefen auf einem Kiesweg weiter. Rechts von uns befand sich die alte Stadtmauer aus rotem Backstein, links eine großzügige, einladende Baumgruppe. Ich war innerlich angespannt; irgendwie nervte mich der Kies, der unter unseren Schritten knirschte, als ich darauf wartete, dass Glöckner zu reden anfing. Schließlich beendete er das Schweigen. „Jim, in dieser Stadt darf der Name Ernst Lohmeyer nicht ausgesprochen werden!"

    „Und warum nicht?, hakte ich nach. Ich war in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der allzu forsches Nachfragen vielleicht als Verstoß gegen die gesellschaftlichen Umgangsformen gewertet wurde, aber eine lebhafte Veranstaltung würde sich damit nicht sprengen lassen. Mein „Warum nicht? drängte sich also förmlich auf, doch für Glöckner, der sein Leben lang Kirchen durch die Skylla des Nationalsozialismus und die Charybdis des Kommunismus gelotst hatte, klang meine Bemerkung fast unverzeihlich naiv. „Die Kommunisten haben bei Lohmeyers Verschwinden ihre Finger im Spiel, erwiderte er mit leiser Verzweiflung. „Höchstwahrscheinlich haben sie ihn ermordet, auch wenn uns keine Einzelheiten bekannt sind. Wer vom Staat verhaftet und liquidiert wird, gilt als Staatsfeind, und wer auch immer sich nach ihrem Verbleib erkundigt, gilt als Mittäter. Mittäter sind Staatsfeinde! Deine Frage heute Nachmittag hat jeden, der sich dort aufhielt, in Gefahr gebracht!

    Ich blieb erschrocken zurück. Glöckners Erklärung ergab Sinn, obwohl ich zugeben muss, dass ihre Wucht mich nicht erreichte, abgesehen von seiner scharfen Zurechtweisung. Wichtiger als der Verweis war das ungeheure Unrecht, das in der Vertuschung an sich lag – dreiunddreißig Jahre lang war die Ermordung eines unschuldigen Mannes in Schweigen gehüllt geworden. Ich war aufgebracht. „Sicherlich kann sein Tod geklärt werden, ich wollte nicht nachgeben, „Lohmeyer war ein bedeutender Theologe. Wie kann es sein, dass man ihn in der Stadt, in der sich alles abgespielt hat, in Vergessenheit geraten lässt?

    Den Kalten Krieg hatte ich immer als Machtkampf begriffen. Genau jetzt befanden wir, Glöckner und ich, uns im Sog dieses Machtkampfes. Aber uns ging es nicht um Macht. Uns ging es um etwas viel Grundlegenderes – um Wahrheit. Glöckner war genauso mit Lohmeyers Schicksal beschäftigt wie ich. Wahrscheinlich noch mehr, nur dass er nicht frei aus Ostdeutschland ausreisen konnte, anders als es mir, dem Amerikaner, möglich war. Und als ostdeutscher Pastor musste er, wenn er dem Schicksal Ernst Lohmeyers nachforschte, immer auch das für seine Gemeinde existenziell Notwendige im Blick behalten - einer Gemeinde, die, und dies galt für alle Kirchen in Ostdeutschland, innerhalb eines überall sich einmischenden Staates, der sie unterdrücken und letztlich auslöschen wollte, ihren Weg finden musste. Es ist richtig, dass die ostdeutsche Kirche Freiräume genoss, die anderen Institutionen nicht zugebilligt wurden. Doch selbst der größtmögliche Freiheitsgrad überschritt nie die Grenzen widerwilliger Duldung seitens der Regierung.

    Rechts von uns hinter der Mauer befanden sich mehrere heruntergekommene Gebäude. Zu den auffälligeren zählte ein vierstöckiges Bauwerk in Orwellscher Überwachungsarchitektur, errichtet aus rotem Backstein mit schmalen Fenstern hoch im Gemäuer. In früheren Zeiten war es als Gefängnis genutzt worden. Damals hatte ich nichts davon gewusst, aber in diesem Gefängnis hatte Lohmeyer seine letzten Lebensmonate zugebracht und im Hof möglicherweise den Tod gefunden.

    Wieder zerrte der Kies, der unter unseren Schritten knirschte, an meinen Nerven. Ich fasste einen stummen Entschluss, so undeutlich, dass ich ihn nicht klar hätte formulieren können. Aber eines stand fest: Sollte sich jemals die Gelegenheit bieten, würde ich versuchen, Lohmeyers Geschichte auf den Grund zu gehen.

    Ausrichtung von Sternbildern

    Es ist ein Kennzeichen von Totalitarismus, dass er sich anmaßt, die Koordinaten der Wirklichkeit zu verändern. Man versucht, den Begriff der „unveräußerlichen Rechte" umzudefinieren und sogar abzuschaffen; man versucht, Werte wie Wahrheit, Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit auszulöschen – Werte, die nicht in Form von Argument und Beweis existieren, sondern als angeborene Haltung. Sowohl Nazi-Deutschland als auch das kommunistische Ostdeutschland nahmen solche chthonischen Umbildungen der Realität in Angriff. Der ostdeutsche Blackout zum Schicksal Lohmeyers war geradezu mustergültig dafür. Mit dem Verbot eines Namens wie Lohmeyer sollte nicht einfach nur verhindert werden, dass er in Zukunft genannt wird; letztlich ging es darum, ihn aus der Vergangenheit auszuradieren. Sofern es gelingt, einen Namen sowohl aus dem öffentlichen Gespräch als auch aus den Geschichtsbüchern zu tilgen, werden Unwissende diesen Namen nie zu hören bekommen und Wissende ihn mit der Zeit vergessen. Mit dem Ziel, die Wirklichkeit trügerisch zu entstellen, kann die Vergangenheit selbst gesäubert, zeitlich verändert und manipuliert werden.

    Gegen diese arglistige Umbildung gibt es nur eine einzige Verteidigung. Es ist das Gedächtnis. Das Gedächtnis ist die stärkste Waffe im Widerstand gegen Gewaltherrschaft. Die Informationsüberwachung in Ostdeutschland schuf so etwas wie ein Diorama, einen Schaukasten der gegebenen Gesellschaft. Innerhalb dieser blutleeren Zurschaustellung arbeiteten einzelne Menschen still, manchmal im Geheimen, immer furchtlos und unerschrocken daran, die Erinnerung an Lohmeyer lebendig zu halten, und sie gaben sich größte Mühe, seine Geschichte aufzudecken. Dazu gehörten seine Frau, sein Sohn, ganz besonders seine Tochter und deren Ehemann, ein paar Professoren an der Universität und in geringerem Maße auch Menschen wie ich. Als 1989 der Kommunismus in Deutschland zusammenbrach, konnten Schicksale wie das von Ernst Lohmeyer und Hunderttausenden anderen Deutschen nicht nur wieder aufgegriffen, sondern möglicherweise sogar geklärt werden.

    Mehrere Gestirne in meinem Leben traten zu einer Konstellation zusammen und versetzten mich in die Lage, Lohmeyers Geschichte nachzuverfolgen. Das wichtigste Band zwischen uns bildete die Pilgerfahrt, die wir als Gelehrte wie Lernende des Neuen Testaments teilten. Zwei Menschen, die einzeln und je für sich zur gleichen Pilgerfahrt aufbrechen, wissen viel übereinander, noch bevor sie den Namen des jeweils anderen hören. Lohmeyer kannte mich natürlich nicht, aber die beiderseitige Verbundenheit mit dem Neuen Testament öffnete mir das Tor für Einblicke in seine Persönlichkeit. Es gab weitere entscheidende, wenn auch weniger integrale Berührungspunkte. Einer dieser Punkte war Deutsch. Nachdem ich 1970 am Princeton Seminary graduiert worden war, hatte ich das große Glück, an der Universität Zürich in der deutschsprachigen Schweiz Neues Testament studieren zu dürfen. Dort führte Professor Eduard Schweizer mich in die Lebendigkeit der deutschen Sprache und der deutschen Theologie ein und machte mich auch mit der wunderbaren deutschen Universität vertraut. Lohmeyer war zutiefst deutsch, sogar Preuße, und abgesehen von den deutschen Bezügen war es nicht möglich, dass die übrige Welt sein bemerkenswertes Leben mitbekam oder dass Nachrichten über ihn publiziert werden konnten. Die deutsche Sprache verschaffte mir Zugang zu einem Bereich der deutschen Gesellschaft, der fast vollständig vom Westen abgesondert war. Das erste Mal fuhr ich nach Ostdeutschland, als ich in der Schweiz studierte, und in mancher Hinsicht bin ich niemals wieder zurückgekehrt. Im Laufe der Jahrzehnte habe ich mich durch meine Besuche in Ostdeutschland in dem Leben der Christen dort verankert. Die meiste Zeit seines Lebens hat Lohmeyer in dem Teil Deutschlands verbracht, der zu Ostdeutschland wurde, und dort ist er auch gestorben. Die Kirche, auf die ich dort traf, war die Tochter der Kirche, die Lohmeyer selbst geführt und der er gedient hat. In Ostdeutschland bin ich Menschen begegnet, die Lohmeyer kannten. Und wer ihn nicht kannte, wusste, dass seine Erfahrung mit dem Osten Deutschlands essenziell war; ohne sie war er nicht zu begreifen. Was ich aus Freundschaften und Gesprächen mit Ostdeutschen über Lohmeyer lernte, hat meine Erkenntnisse aus Recherchen in Bibliotheken und Archiven über ihn wesentlich erweitert.

    Ein letzter Punkt, der nichts mit den Umständen oder meinen Interessen zu tun hat‚ verbindet mich vielleicht tiefer mit Lohmeyer als das oben Gesagte. Es war sein Mut, die Courage, nach Grundsätzen zu handeln, von denen er wusste, dass sie wahr sind und denen er sein Leben widmete. Manche Menschen setzen sich tapfer für die Wahrheit ein; Lohmeyer stritt und kämpfte leidenschaftlich für sie. Seine Fähigkeit, überzeugt und entschlossen zu handeln, voller Zuversicht und mit beinahe größter Gelassenheit im Angesicht vernichtender Widersacher, berührt mich tief im Innern – nicht weil es eine Tugend ist, die auch mir zukommt, sondern weil ich sie bewundere und weil ich glaube, dass eine couragierte, charakterstarke Persönlichkeit eine unbezwingbare Gewalt im Widerstand gegen Tyrannei darstellt. Ich habe mich intensiv mit seinem Leben befasst, weil das Lebensbild eines Menschen genauso wichtig ist wie die Worte aus seinem Mund, die Tugend und Werte kommunizieren sollen.

    Im Untergeschoss der Dicken Marien im Jahr 1979 – oder nach Glöckners scharfem Verweis nach der Veranstaltung – traten diese verschiedenen Gestirne, die am Nachthimmel meines Gelehrtendaseins leuchteten, in meinem Bewusstsein auf merkwürdige, aber unumkehrbare Weise zu einer Konstellation zusammen. Wenn ich mir diese Fügung heute vor Augen führe, drängt sich mir der Eindruck auf, dass ich bei dem Entschluss an der Stadtmauer in Greifswald, mich auf die Suche nach Lohmeyer zu machen, vielleicht nicht ganz allein war. Ja, vielleicht hat auch er zu mir gerufen, und aus den Gründen, die ich oben aufgezählt habe, war ich in der Lage, seinen Ruf zu vernehmen und ihm zu gehorchen.

    1Saß: Ergänzungsheft, in: Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, 8. Aufl. 1967, 4.

    2Saß: Ergänzungsheft, in: Ernst Lohmeyer: Das Evangelium des Markus, 8. Aufl. 1967, 4.

    Kapitel 3. Der junge Ernst

    „Du, mein Sohn, sei stark in der Gnade, die dir in Christus Jesus geschenkt ist."

    2 Tim 2,1

    Aufwachsen in Deutschland um die Jahrhundertwende

    Wer ein amerikanisches Kind nach seinen Helden fragt, bekommt wahrscheinlich Namen aus Entertainment und Sport zu hören. Wenn man zu Lohmeyers Zeiten einen jungen Menschen nach seinen Helden gefragt hätte, wären Namen aus Wissenschaft, Kunst und Literatur gefallen, jedenfalls in seiner sozialen Sphäre. Schon früh war Lohmeyer in die kultivierte Welt eingeführt worden – in die Antike, die klassischen Sprachen, die Musik und in die humanistische Tradition, wie es für das Curriculum des Gymnasiums im Deutschland des späten neunzehnten Jahrhunderts üblich war. Aber dass Schüler sich das Curriculum so selbstverständlich und aus eigenem Antrieb angeeignet haben wie der junge Ernst, dürfte eher unüblich gewesen sein.

    Lohmeyer ist in einer ganz anderen intellektuellen Galaxie aufgewachsen als ich. Dabei konnte die Bildungslandschaft, die ich in Colorado Springs kennenlernte, sich nach damaligen Maßstäben durchaus sehen lassen. Ich besuchte die Cheyenne Mountain School, viele begabte Schüler gingen dorthin. Natürlich hatte der Unterricht auch einen genuin intellektuellen Anteil, aber das Unterrichtswesen spiegelte die amerikanische Kultur in ihrer Gesamtheit wider, sodass die sozialen, praktischen, aktivistischen und sportlichen Anteile meist überwogen. In meiner Schule hätte der Schüler Lohmeyer sich für seine geistigen Interessen und Leistungen rechtfertigen müssen. Als ich in seinem Alter war, hatte ich einfach etwas anderes im Kopf als er, und wenn ich mich mit dem hätte beschäftigen wollen, worum es ihm ging, wäre sie es mir unerreichbar und ziemlich merkwürdig vorgekommen.

    An meine Erfahrungen im amerikanischen Schulsystem der 1950er- und 1960er-Jahre denke ich in quantitativen Begrifflichkeiten zurück: wie viele Tore wir geschossen hatten, wer von wem zum Weihnachtsfest nach Hause eingeladen wurde, welches Auto oder Motorrad bist du gefahren, hast du die neueste Ausrüstung für sportliche oder anderweitige Herausforderungen und, das Folgende gilt besonders für die Cheyenne School, wie viele Skitickets sind an den Reißverschluss deiner Jacke genäht? Lohmeyers Erfahrungen lassen sich dagegen eher qualitativ beschreiben. Sein Leben war ganz sicher schlichter als meins, denn einem deutschen Jungen in den 1890ern standen längst nicht die Möglichkeiten eines amerikanischen Jungen in den 1950ern zur Verfügung. Angeln, Wandern, Skifahren, Reisen und die Abenteuer, wie ich sie in den Bergen von Colorado erleben durfte, all das kannte er nicht – und den Überfluss von amerikanischen Gimmicks, die für meine Freunde und mich wie selbstverständlich dazugehörten, hätte er sich nicht einmal vorstellen können. Sein Leben spielte sich rund um das Elternhaus ab, dort lag sein Anker, aber die Tiefgründigkeit seiner Reflexion und sein Ausdrucksvermögens waren genauso bemerkenswert wie das, was ich in der Breite erlebte. Im Alter von zwölf Jahren konnte er in stolzer, aufrechter Handschrift Aufsätze schreiben, die praktisch publikationsreif waren. Ich habe fast den Eindruck, dass er niemals jugendlich war; falls doch, kann seine Jugend nur sehr kurz gewesen sein. Ich tendiere dazu, ihn mir vorzustellen wie das offenkundig abwegige Stereotyp auf byzantinischen Gemälden oder in der mittelalterlichen Kunst, wo sogar junge Kinder als kleine Erwachsene gemalt wurden.

    Die Unterschiede zwischen Lohmeyers Erziehung und meiner spiegeln in weiten Teilen die Differenz zwischen den in Amerika und Deutschland praktizierten Erziehungs- und Bildungssystemen wider, die in ihren Ländern jeweils ganz selbstverständlich anerkannt waren. Die amerikanische Bildung zielt insgesamt darauf ab, dass die Schülerinnen und Schüler eine ganze Bandbreite von Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln. Der deutschen Erziehung zu Lohmeyers Zeiten ging es, und daran hat sich bis heute wenig geändert, eher um Tiefe als um Breite, um den Aufweis besonderer Befähigung in wenigen Teilbereichen, „Spezialisierung würden wir heute sagen. Während das amerikanische Modell auf „Vielseitigkeit abzielt, geht es beim deutschen Modell um Schärfe, Zuspitzung. In Deutschland steht „Spitzenwissenschaft"¹ hoch im Kurs: Lernen auf den Punkt gebracht. Und in der Tat hatte der junge Ernst seine Kenntnisse sehr scharf zugespitzt.

    Wir nehmen gerne an, dass früher alles „einfacher war. Doch allzu oft geht es bei diesem „einfacher nicht um frühere Zeiten, sondern unsere eigene Begrenztheit, Vergangenes zu verstehen. In Lohmeyers Kindheit war alles festgelegt und geordnet, fokussiert und tiefgründig, reflektiert und vor allem eingewurzelt. Eine deutsche Akademiker-Familie im Jahr 1890 orientierte sich weitgehend an geistigen Werten und preußischen Idealen – zum Beispiel an Pflicht und Gehorsam. Familie Lohmeyer war von beidem geprägt, und genauso maßgeblich durch die Kirche. Karl Niemann, der Großvater mütterlicherseits, war Superintendent des Konsistoriums in Münster, im Prinzip also Vizebischof, der zweite Platz in der Rangfolge gleich nach dem Bischof. Heinrich Lohmeyer, der Großvater väterlicherseits, war Rektor einer Dorfschule in Westfalen und durch die Veröffentlichung von Evangelisches Choralbuch für Kirche und Haus² zu bescheidenem

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