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Amerigone
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eBook281 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Für den Hightechmanager Parker Saturn beginnt der sonnige Septembertag in New York etwas ungewöhnlich. Der ihm bis dato unbekannte Kollege Iwan Rubleski aus der Niederlassung an der Westküste hat ihn zu einer Besprechung in ein Hotel in Manhattan bestellt. Trotz einer quälenden Migräne fühlt Parker sich fit für einen langen Arbeitstag mit anschließendem Geschäftsessen und einer Tour durch die Nachtlokale. Doch es kommt alles ganz anders: Rubleski führt sich plötzlich auf, als hätte er jahrelang im New Yorker Schlachthof gearbeitet. Der Eindruck eines außer Kontrolle geratenen Gulag-Golems verstärkt sich, als Rubleski Parker seine Lebens- und Todesphilosophie erklärt und immer wieder an blutigen Beispielen eindrucksvoll demonstriert, wie der neoliberale Raubtierkapitalismus der USA ausgelebt werden sollte.
AMERIGONE ist mehr als eine tiefschwarze Tragikomödie, denn hinter der Fassade dieses spannungsgeladenen Thrillers verbirgt sich eine weitere Dimension: Jenseits der Gewalt wird die Tragik des amerikanischen Traums transparent, der, konsequent zu Ende gedacht, durch Fehlen jedweder Empathie und Solidarität in die Katastrophe führen muss.
SpracheDeutsch
HerausgeberPulp Master
Erscheinungsdatum31. Aug. 2023
ISBN9783946582236
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    Buchvorschau

    Amerigone - Mark SaFranko

    AMERIGONE

    Mark SaFranko

    Übersetzt aus dem amerikanischen Engllisch von Sepp Leeb

    »... er triggerte den Wahnsinn in jedem, dem er ihn unterjubelte. Fütterte das Monster, das von Anfang an, Millionen Jahre unterdrückt, in jedem hauste, aber ständig und für immer darauf wartete, losgelassen zu werden.«

    — Shane Stevens

    September 2019

    Ein Tag in New York

    Mein Name ist Parker Saturn.

    Ich bin in Zimmer 1503 des Hilton in Tribeca. Ich stehe am Fenster und schaue auf die friedliche, wolkenlose Skyline hinaus.

    Von unten ein markerschütternder Schrei.

    Auf der Straße muss etwas Schlimmes passiert sein. Nur Sekunden später das Jaulen einer Sirene, dann zwei oder drei weitere, ein extrem deprimierendes Geräusch, eins, das ich inzwischen hasse.

    In wenigen Minuten werde ich mich mit einem gewissen Rubleski treffen. Iwan Rubleski, der von der Niederlassung in Kalifornien rübergeflogen kommt, um über Firmenangelegenheiten zu reden. Angeblich Routinekram. Soll mir nur recht sein. Einen Tag, an dem nichts allzu Schwieriges ansteht, kann ich gut gebrauchen.

    Was für ein großartiger blauer Himmel, wie die Lavur bei einem Aquarell. Genauso hat er auch vor langer Zeit mal ausgesehen, am 11. September. Zumindest sagen das die Leute, die damals dort waren.

    Ich hatte noch nie mit diesem Rubleski zu tun und weiß nichts über ihn, außer dass er drüben an der linken Küste mit Strategiefragen befasst ist. Er ist also gewissermaßen mein Pendant. Bei genauerer Überlegung finde ich es ein bisschen eigenartig, dass er und ich noch nie etwas miteinander zu tun hatten – andererseits hat er die Stelle noch nicht lange. Leute kommen und gehen in regelmäßigen, manchmal täglichen Abständen. Ich habe nicht die Zeit, mich mit allem zu beschäftigen, was in der Firma passiert. Wir sind alle austauschbar und, das versteht sich von selbst, verzichtbar. So ist das in Amerika.

    Ich öffne mein iPad und starte eine Suche nach diesem Rubleski. Es kommt aber nichts dabei heraus. Nichts auf Facebook. Nichts auf Twitter. Nichts auf Instagram. Auch nicht auf Pinterest. Oder LinkedIn. Komisch – andererseits reduzieren immer mehr Leute ihre Internetpräsenz auf ein Minimum, was ich ihnen nicht verdenken kann.

    Wenn ich den Namen Rubleski google, erhalte ich vereinzelte Ergebnisse – aber wer sind diese Leute? Keiner von ihnen scheint etwas mit der Firma zu tun zu haben. Ist er einer von ihnen?

    Und so sitze ich bloß da, kratze mich am Kopf, warte und schaue ab und zu auf den hartnäckig blauen Himmel hinaus.

    Heute Morgen habe ich höllische Kopfschmerzen. Oder sollte ich sagen, »einen dieser Migräneanfälle«? In letzter Zeit scheinen sie mich häufiger zu plagen. Die heutigen haben mich ohne Vorwarnung überfallen, wie ein Gewitter, das man nicht hat kommen sehen. Müsste ich diesem lästigen Etwas einen Namen geben, würde ich es einen Kater nennen – obwohl ich gestern Abend nichts getrunken habe —, nur heftiger, wegen seiner besonderen Intensität. Wie ein zu eng sitzender Helm, der mir den Schädel so fest zusammenquetscht, dass er fast zu platzen droht. Winzige schwarze und rote Teilchen tanzen so chaotisch vor meinen Augen, dass ich sie irgendwann schließen muss ...

    Ein Hirntumor? Allerdings habe ich erst vor zwei Wochen meinen Firmengesundheitscheck mit Bestwerten bestanden. Ich habe der Ärztin von den Kopfschmerzen erzählt, aber sie hat sich nicht dazu geäußert.

    Mit größerer Wahrscheinlichkeit ist die Migräne eine Folge von Stress. Stress ist der große Killer, die Wurzel aller Leiden, inklusive Krebs – heißt es. Mich für die Firma reinzuhängen war und ist anstrengend und wird immer anstrengender, vor allem wegen der absurden Budgetkürzungen, die das Personal dezimiert und meine Arbeitslast fast verdoppelt haben. Seit letzten Donnerstag auch noch Leonardo Strong gekündigt hat, darf ich die Arbeit von zwei Leuten übernehmen.

    Was hat Orsini neulich gesagt, als wir uns beim Mittag­essen alle darüber beklagt haben? »Wenn die Firma einen ordentlichen Gewinn vorweisen will, bleibt ihr gar keine andere Wahl, als das Letzte aus uns herauszupressen. Also quetschen sie uns aus bis zum Gehtnichtmehr.«

    Jetzt, wo das mal raus ist, habe ich gewaltig Schiss, dass es mich als nächsten erwischt. So geht es uns allen, auch Orsini. Er ist wichtig, ich bin wichtig, das schon, aber nicht wichtig genug. Die Show würde auch ohne uns weitergehen. Die Show geht immer weiter. So ist das in Amerika.

    Ich schüttle – unter einigen Schmerzen – den Kopf. Hätte ich mich nicht zu diesem Tête-à-Tête mit Rubleski bereit erklärt, hätte ich mir den Tag freinehmen können, wäre jetzt zu Hause und schliefe bei heruntergelassenen Jalousien in meinem breiten Doppelbett. Aber wenn es um meinen Job geht, habe ich keine Wahl. Ich muss funktionieren und liefern, Kopfschmerzen hin oder her. Beklage ich mich deswegen? Nein. Mein Leben ist gut.

    Nachdem ich genug von der Skyline gesehen habe, hole ich eine Packung Advil aus meinem Rucksack, schüttle zwei der ansprechenden, durchscheinenden grünen Tabletten heraus, gehe ins Bad und spüle sie hinunter. Ich schaue in den Spiegel, als posierte ich für ein Foto. Auch wenn ich mich ziemlich elend fühle, ist es meinem Spiegelbild nicht anzumerken.

    Ich drehe eine Runde durch das Zimmer, setze mich wieder und lehne mich zurück. Wo bleibt Rubleski bloß? Es ist höchst ungewöhnlich, dass dieser Mann und ich uns hier treffen. Er war derjenige, der in seinen Nachrichten darauf bestanden hat, dass wir uns an einem Ort wie einem Hotelzimmer treffen; er wollte nicht, dass wir von dem Chaos in unserem New Yorker Büro abgelenkt werden, das sich in Chelsea, im Norden Manhattans, neben dem Google Building befindet. Ich bin auf seinen Wunsch eingegangen – bereitwillig. Wer kann nicht mal einen kleinen Tapetenwechsel vertragen? Raus aus der Enge seines Arbeitsplatzes? Trotzdem, seit die Firma die Spesenpauschale empfindlich gedeckelt hat, ist diese Lösung höchst ungewöhnlich. Aber Rubleski hat darauf bestanden, dass ich das Hotelzimmer für zwei Tage buche, damit wir gleich am Morgen loslegen können.

    Von meiner Seite gibt es jedoch nichts dagegen einzuwenden. Außerdem muss ich das Zimmer nicht aus eigener Tasche bezahlen.

    Ich schließe die Augen, lausche dem Sauerstoff, der in meine Lunge strömt und dann wieder hinaus. Wie still es hier oben ist, viele Stockwerke über den Straßen von Manhattan. Fast wie in einer Kirche. Fast so, als ob es die dreckige, laute, verrückte Metropole da unten gar nicht gäbe ...

    Es ist nicht nur der berufliche Stress, von dem ich Kopfschmerzen bekomme. Ich brauche auch etwas Abstand von Alana. Wir sind jetzt fast zehn Jahre verheiratet. Zwei Kinder, ein großes, nicht abbezahltes Haus in einer teuren Wohngegend – was eben dazugehört, wie es immer so schön heißt. Es ist keineswegs so, dass ich meine Frau nicht liebe ... aber ich fürchte mehr und mehr, dass zwischen uns die Luft raus ist. Und ich kann nicht leugnen, vor allem mir selbst gegenüber nicht, dass das schon lange so ist, sogar schon gefährlich lange. Welcher Mann, egal, wie glücklich er verheiratet ist, hat diesen Gedanken nicht ab und zu?

    Was tun also?

    Ich weiß, was jetzt die Leute – die meisten jedenfalls – sagen werden. Dieser Mann ist ein wandelndes Klischee. Er ist weiß, er ist privilegiert, und was macht er? Jammert wegen seiner ganzen Vorteile nur rum, wegen Vorteilen, für die weniger Glückliche alles geben würden. Durchaus zu Recht. Aber wie die meisten Leute in meiner Position glaube ich – oder will ich zumindest glauben —, dass das nicht die ganze Geschichte ist. Ist es doch nie, oder? Für keinen von uns. Das Problem ist, dass es eigentlich zu schwer ist, die ganze Geschichte in Worte zu fassen ...

    An Alana gibt es nichts auszusetzen – daran liegt es nicht. Eher trifft sogar das genaue Gegenteil zu. Meine Frau ist schön, intelligent, kultiviert, eine wundervolle Mutter und was sonst noch alles dazugehört, wie die meisten heutigen Superfrauen. Sie hat an einer Elite-Universität studiert, spielt hervorragend Klavier, unter anderem auch Mozart, ist sehr sportlich – wenn ich auf die dumme Idee komme, mit ihr laufen zu gehen, hängt sie mich locker ab –, und sie sieht fantastisch aus. Der winzige, kaum zu sehende Stern, der über ihren linken Fußknöchel tätowiert ist, verstärkt nur ihre Attraktivität, sexuell und anderweitig. Sie ist der Typ Frau, den man in der Öffentlichkeit am Arm haben will, denn, einmal ganz abgesehen von ihrem gutem Aussehen, ihr unterläuft niemals ein Fauxpas.

    Und im Bett? Auch da lässt sie nichts zu wünschen übrig.

    Anders ausgedrückt, sie ist so perfekt, wie man nur sein kann. Womit habe ich das verdient?

    Ich bin nicht der Einzige, der den Zauber ihrer Vollkommenheit bemerkt. Ich bin nicht blind. Mir sind die bewundernden Blicke anderer Männer – und Frauen – nicht entgangen. Erwidert sie diese Blicke? Auch sie ist nicht blind. Doch falls sie es tut, weiß sie es sehr gut zu verbergen. Hat sie jemals etwas hinter meinem Rücken getan – eine Affäre, um auf ein anderes Klischee zurückzugreifen? Eine flüchtiger Seitensprung? Gute Frage. Woher soll ich das wissen? Ich neige nicht zur Eifersucht. Deshalb mache ich mir deswegen nicht allzu viele Gedanken. Ich habe ihr von Anfang an vertraut, denn so, wie ich die Sache sehe, ist sie absolut ehrlich und aufrichtig.

    Und trotzdem habe ich immer wieder diese Träume: Sie hat mich verlassen, ich habe sie verloren, und ich will sie unbedingt zurück. Aber zwischen uns ist eine Barriere, etwas, das mich daran hindert, ihr nahezukommen, und das bereitet mir schier unerträgliche Qualen. Und wenn ich dann aufwache, liegt sie friedlich schlafend neben mir, ihr Kopf auf dem Kissen, alles wie gehabt, und es gibt keinen Grund zur Beunruhigung ...

    Danach befällt mich wieder dieser Überdruss. Und ich führe weiter mein Leben, als hätte ich den Traum nie geträumt ...

    Ja, abgesehen von einem gewissen beruflichen Stress, ist mein Leben perfekt – so perfekt es eben sein kann.

    Manchmal allerdings, wenn ich in die Zukunft zu blicken versuche, weit voraus in die Zukunft, weiß ich nicht recht, ob sie mir gefällt. Soll es denn nicht ›mehr‹ geben als bloß den üblichen Alltag – selbst wenn dieser Alltag besser ist als das Elend, mit dem der größte Teil der Welt geschlagen ist? Und wer sagt denn, dass ›mehr‹ überhaupt existiert? ›Mehr‹ ist doch nur eine weitere Illusion der Überprivilegierten, oder?

    Der letzte Mensch, mit dem ich über das alles sprechen kann, ist Alana, weil sie daraus sofort den Schluss ziehen würde, dass sie etwas falsch gemacht hat oder dass es ein Problem zwischen uns gibt.

    Aber macht sich nicht jeder Gedanken über ›mehr‹?

    Vor Jahren, als Alana und ich uns kennengelernt ha­ben, habe ich wegen meiner Angst, mich auf jemanden einzulassen, eine Therapie gemacht. Noch heute kann ich mich an das Sprechzimmer der Therapeutin erinnern, an den angenehmen Geruch eines Gewürzes, an die archaische Skulptur einer Schwangeren auf einem Tisch in der Ecke, an die stummen afrikanischen Masken an den Wänden, an die schöne, blauäugige Siamkatze, die im Sprechzimmer ein und aus ging, als gehörte es ihr. Esther Barnbauer, deren Wände voll waren von Diplomen und Zertifikaten, war eine gute Therapeutin. Sie war kompetent und einfühlsam, aber sie verstand gar nichts. Sie sagte zwar, dass dem so wäre, fand all die richtigen Worte, aber ich weiß, dass sie nicht wirklich begriff, worum es mir ging. Vielleicht begriff auch ich es nicht, nicht ganz zumindest, jedenfalls nicht so gut wie jetzt.

    Der entscheidende Punkt ist, dass es selbst damals schon da war.

    Ich weiß auch nicht. Manchmal ... manchmal fühle ich mich, als wäre ich mitten im Meer auf einem sturmumtosten Felsen gestrandet, und weit und breit ist keine Rettung in Sicht.

    Ich muss laut lachen bei diesem Bild. Wie bereits ge­sagt, ich bin ein einziges Klischee.

    Endlich findet ein Geräusch von der Straße den Weg herauf in den fünfzehnten Stock: das lange Blöken einer Hupe. Es erinnert mich daran, dass die Welt da draußen immer noch da ist, als ob ich das je vergessen könnte.

    Mein Handy schrillt. Das muss Rubleski sein, der mir sagen will, dass es bei ihm etwas später wird. Ich drehe es zu mir herum und sehe nach dem Gesicht. Nein, es ist das Büro. Mir ist nicht danach, mit jemandem zu reden. Ich lasse es weiter Maroon 5 spielen.

    Wo steckt der Kerl nur? Er hätte schon vor fünfzehn Minuten kommen sollen. Ich merke, dass ich nicht weiß, wo ich seine Nummer habe. Auf meiner Kontakteliste ist sie nicht, und ich kann mich nicht erinnern, sie im Korpus seiner E-Mails gesehen zu haben.

    Wie aus dem Nichts durchfährt meinen Kopf ein stechender Schmerz, wie ein Messer, das sich in meine Gehirnwindungen bohrt. Autsch. Meine Augen schließen sich angesichts dieses aus heiterem Himmel einschlagenden Blitzes. Vielleicht habe ich mich bei der Dosierung des Advil vertan ... Ich fasse in mein Necessaire und greife nach der Packung. Ich schüttle sie – soll ich sicherheitshalber noch mal zwei nehmen? —, doch dann kommen mir meine Leber und die zahlreichen Nebenwirkungen in den Sinn. Ich öffne die Packung, schüttle, ein Kompromiss, eine Tablette heraus und wiege sie in meiner Hand, bevor ich sie mit dem letzten Rest Wasser hinunterspüle.

    Andere Geräusche, diesmal aus größerer Nähe, aus dem Innern des Hotels. Mein Kopf sinkt zurück. Meine Lider werden schwer ... Hundegebell, ein Strand, eine joggende nackte Frau, draußen auf dem Meer ein Boot, die Bilder wirbeln durch meinen Kopf wie die einzelnen Zutaten in einem Mixer. Ich stehe kurz davor, in dem Traum aufzugehen, als ich das Krachen von Schüssen höre.

    Zuerst scheinen sie Teil der Action zu sein, doch schnell wird mir mein Versehen klar. Jemand klopft an die Tür.

    »Okay, Moment ... komme ... komme ja schon ...«

    Als ich öffne, steht er da.

    Rubleski ist genauso groß wie ich, aber mit kräftigerer Statur. Sein Sharkskin-Anzug – von Brioni oder Zegna, so genau kenne ich mich da nicht aus – ist ziemlich teuer und tadellos gebügelt. Sein Haar ist platinblond, fast weiß, mit einem messerscharfen Seitenscheitel, an dem ein bisschen babyrosa Kopfhaut durchscheint, so perfekt geschnitten, dass es beinahe künstlich aussieht. Seine Augen sind von einem übernatürlichen Blau, mit einem leichten Grünstich, wie bei einem Albino – oder einem Außerirdischen. Die Iris scheint keine Tiefe zu haben. Seine Zähne, zu einem freundlichen Blendax-Lächeln gebleckt, sind strahlend weiß, fast unwirklich ebenmäßig, ihre Proportionen perfekt auf den Rest seines Gesichts abgestimmt. Der Teint ist von einer gesunden Bräune, als hätte er nicht gerade wenig Zeit am Strand verbracht, was wahrscheinlich auch der Fall war. An seiner linken Hand baumelt ein silberner Hartschalenkoffer.

    »Parker Saturn? Ich bin Iwan – Rubleski.« Mit einem strahlenden Lächeln reicht er mir eine mit perfekt manikürten Nägeln garnierte Hand. Schon nach diesen fünf Worten ist klar, dass er einen Akzent hat. Deutsch? Polnisch? Lettisch? Russisch? Wenn es nicht ungehörig wäre, würde ich ihn auf der Stelle danach fragen.

    Ich ergreife seine Hand und schüttle sie. Sein Händedruck ist kräftig – fast übertrieben fest.

    »Entschuldigen Sie die Verspätung ... Ich habe Sie doch hoffentlich nicht bei einem Nickerchen gestört?«

    »Kommen Sie rein ...«

    Als Rubleski an mir vorbeigeht, steigt mir ein Hauch seines angenehm zitronigen Eau de Cologne in die Nase. Er wirft seinen Koffer aufs Bett, der hochhopst wie ein Ball in einem Swimmingpool.

    »Guten Flug gehabt?«

    Mein Kollege von der Westküste steuert auf den großen Sessel zu, in dem ich gedöst habe, und macht es sich darin bequem.

    »Im Gegensatz wozu?«

    »Na ja ...«

    »Für einen Nachtflug ganz okay.«

    Klar, rufe ich mir in Erinnerung, wir sind hier, um geschäftliche Dinge zu besprechen.

    »Sicher sind Sie ziemlich k.o. ... Möchten Sie einen Kaffee oder Tee?«

    »In ein paar Minuten.«

    »Wie Sie möchten ... Sollen wir dann gleich anfangen?«

    »Klar.«

    Ich öffne meine Reisetasche und hole die Tagesordnung heraus, die mir Rubleskis Büro in Los Gatos vor ein paar Tagen zugeschickt hat.

    »Die Kopfhörer«, beginne ich und setze mich auf die Bettkante. Das ist nicht sehr bequem, und ich ärgere mich, dass Rubleski den Sessel beschlagnahmt hat. »Am besten, wir fangen mit den Kopfhörern an. Sie sind der erste Punkt auf der Liste ...«

    Laut Rubleskis knappem Zwei-Sätze-Lebenslauf auf der Tagesordnung ist das kabellose Hightech-Headset, das auch von Astronauten verwendet wird, sein Spezialgebiet. Da dieses Produkt nicht in mein Ressort fällt, habe ich vor, ihm ein paar Fragen dazu zu stellen. Grob sieht der Unternehmensplan vor, eine Variante des Astronauten-Headsets für den irdischen Konsumenten auf den Markt zu bringen, für all jene also, die es sich leisten können, ein paar tausend Dollar für ein Modeprodukt auszugeben. Teile des Managements sind jedoch unschlüssig, ob die Kosten für die erforderliche Werbekampagne das Risiko wert sind. In den heiligen Hallen der Trusonics Inc. geht die Angst um: Was ist, wenn die Dinger niemand kauft? Rubleski und ich sind hier, um, unter anderem, diese Frage zu klären.

    »Ja, die Kopfhörer.« Er lächelt. »Wir sollen uns was einfallen lassen, wie wir sie an den Mann bringen können, hm?«

    Selbst wenn Englisch nicht Rubleskis Muttersprache sein sollte – dessen bin ich mir inzwischen ganz sicher —, ist er mit seinen Nuancen bestens vertraut.

    »Einerseits. Außerdem müssen wir uns, glaube ich, mit der Preisstrategie der neuen Gaming App befassen, die wir nächstes Frühjahr lancieren wollen«, füge ich nach einem Blick auf die Tagesordnung hinzu.

    »Sollte uns dafür nicht die Marketingabteilung eine Aufstellung zur Verfügung stellen?«

    »Hat sie bereits. Allerdings wollen sie von uns hören, welche Upgrades wir für die App planen ...«

    In diesem Moment kommt mir ein seltsamer Ge­danke: Hat Rubleski überhaupt mal einen Blick auf die Tagesordnung geworfen? Er erweckt den Anschein, als würde ihn das alles überhaupt nicht interessieren. Aber das muss es doch, oder etwa nicht? Er ist extra hergeflogen, und so, wie er angezogen ist, müsste es ihm eigentlich ernst sein.

    Trotzdem, irgendetwas an dem Mann ist ›eigenartig‹. Er wirkt zappelig und ungeduldig, obwohl wir noch nicht mal richtig angefangen haben. Wahrscheinlich steckt ihm der lange Nachtflug noch in den Knochen.

    »Jedenfalls bin ich neu hier in New York, Parker, es ist das erste Mal, dass ich ...«

    Wieder macht sich die ungewöhnliche Aussprache bemerkbar, jetzt sogar stärker. In dieser Stadt habe ich schon so ziemlich jeden nur erdenklichen Akzent zu hören bekommen, aber Rubleskis Englisch scheint aus einer anderen Dimension zu kommen. Es hat durchaus seinen Reiz, das auf jeden Fall; von dem ganzen Kerl geht eine Anziehung aus, wie ich sie noch nie erlebt habe.

    »Tatsächlich?«

    »Aber sicher. Ich brauche jemanden, der mir ein wenig die Stadt zeigt, wenn ich schon mal hier bin. Steht natürlich nicht auf der Tagesordnung, aber vielleicht könnten Sie da ja einspringen, was meinen Sie?«

    Ohne zu überlegen, lache ich. »Das ist zwar nicht mein Job, aber klar, warum nicht?« Ich mustere ihn und seinen ungewöhnlichen tatarischen Gesichtsschnitt. Was genau führt er im Schilde? »Wenn wir hier fertig sind, kann ich vielleicht ein bisschen den Fremdenführer spielen.«

    Das wäre nicht die schlechteste Idee. Ich kann etwas Abwechslung brauchen – von allem. Vom Job, von der Familie, von mir selbst – von allem. Es kommt mir so vor, als hätte ich schon jahrelang nicht mehr Urlaub ge­macht, obwohl wir erst vor zwei Monaten, in den Schulferien der Kinder, nach Italien geflogen sind.

    »Cool.« Rubleski nickt, und sein strahlendes Lächeln lässt seine makellos weißen Zähne aufblitzen. »Echt cool.« Wegen seines Akzents klingt das Wort ›cool‹, wie es aus seinem Mund kommt, ein bisschen dilettantisch und aufgesetzt.

    »Also dann, zurück zur ...«

    Ich hebe die Tagesordnung in mein Blickfeld.

    »Am besten fangen wir mit ...«

    Rubleskis lautes Klatschen ist wie eine kleine Explosion. »Wissen Sie was, Parker? Wenn ich mir’s genauer überlege, habe ich ziemlichen Hunger. Auf dem Flug haben wir nichts bekommen. Nichts – nicht mal ein paar Cracker oder Erdnüsse! Eigentlich unglaublich. Was ist dieses Virgin America bloß für eine Airline? Also wirklich.«

    Wann bin ich zum letzten Mal Virgin America geflogen. Schon lange her — nach London, wenn ich mich recht erinnere. Wenn ich mich jedoch an etwas noch sehr gut erinnere, dann sind es der geräumige Jumbo und die freundlichen Flugbegleiterinnen in ihren weißen Blusen und roten Röcken. Und literweise Alkohol, auf Hin- und Rückflug. Diese Flüge waren eine einzige Party. Aber vielleicht ist das, wie bei den anderen Fluggesellschaften, auch bei

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