Die Tote aus Larrelt. Ostfrieslandkrimi
Von Alfred Bekker
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Über dieses E-Book
»Das ist Heike Haan, die Lotto-Queen von Ostfriesland!« Die Polizeimeisterin und Landwirtin Altje Remels traut ihrem Blick kaum. Beim Gülleausfahren erregt eine Person an der Bushaltestelle in Larrelt ihre Aufmerksamkeit. Da sitzt eine Tote, und es handelt sich ausgerechnet um ihre verhasste ehemalige Klassenkameradin Heike! Irgendjemand muss Heike Haan direkt bei der Bushaltestelle ermordet haben. Auch die Tatwaffe, ein abgesägter Schippenstiel, ist schnell ausgemacht. Allerdings scheint in dem neuen Mordfall für Kommissar Steen und die Kripo Emden halb Larrelt ein Motiv zu haben. Besonders Heikes Protzen mit dem Millionengewinn im Lotto vor einigen Jahren sorgte bei den Bewohnern des Emder Stadtteils für nachhaltigen Unmut. Außerdem hält sich hartnäckig das Gerücht, dass Heike beim Tod ihres eigenen Vaters etwas nachgeholfen haben soll...
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Buchvorschau
Die Tote aus Larrelt. Ostfrieslandkrimi - Alfred Bekker
Kapitel 1
Es war noch sehr früh am Morgen. Aber ein Bauer muss früh aufstehen. Und für eine Nebenerwerbslandwirtin wie Altje Remels galt das ganz besonders. Schließlich musste sie zu ihrem eigentlichen Hauptberuf ja zumindest einigermaßen pünktlich kommen. Polizeimeisterin Altje Remels saß in voller Uniform auf dem Trecker. Die Uniformjacke trug sie – wie häufig – offen, weil sie eigentlich zu eng war. Vollschlank nannte man ihre Figur. Sie selbst sagte fett dazu, denn Altje redete nicht gerne um den heißen Brei herum. Sie pflegte die Dinge so auszudrücken, wie sie waren. Zumindest ihrer Meinung nach. Für irgendwelche diplomatischen Feinheiten und Rücksichtnahmen hatte sie kein Verständnis.
Altje hatte sich die Uniformmütze in den Nacken geschoben. Einige Strähnen hatten sich aus der Frisur herausgestohlen, zu der sie ihre blonde Haarmähne behelfsmäßig zusammengefasst hatte. Ihre Füße steckten in Gummistiefeln, die ihr eigentlich zwei Nummern zu groß waren, weil sie nämlich ihrem Vater gehörten und nicht ihr. Aber ihre eigenen Gummistiefel waren voll Wasser gelaufen, als Altje am Vortag in ein Sumpfloch getreten war. Bis die innen wieder trocken waren, konnte sicher noch ein Tag vergehen.
Mit zu großen Gummistiefeln Trecker zu fahren war eine ganz eigene Kunst. Altje war die ganze Zeit über immer in Gefahr, einen Stiefel zu verlieren. Nur nicht vom Gaspedal abrutschen!, dachte sie, während sie damit fortfuhr, Gülle auf dem Acker auszubringen.
Das stank natürlich ziemlich.
Aber wer das nicht aushalten konnte, der war auch besser kein Bauer.
Altje hatte sich das auch nicht unbedingt ausgesucht. Aber ohne sie wären ihre Eltern vermutlich mit der Bewirtschaftung des Familienhofes inzwischen überfordert gewesen und Angestellte waren einfach zu teuer. Die Zeiten, in denen Bauern per se zu den Wohlhabenden im Lande gehörten, waren auch in Ostfriesland längst und lange vorbei.
Altje blickte kurz auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Eigentlich hätte sie sich schon längst auf den Weg zur Polizeiwache in Emden machen müssen.
Aber andererseits wollte sie unbedingt, dass die Sache mit der Gülle heute früh erledigt war.
Wenn ich nachher vom Dienst komme, habe ich dazu keinen Nerv mehr, dachte sie. Nein, das musste jetzt einfach fertig werden.
Das Feld, auf dem Altje Remels die Gülle ausbrachte, lag in unmittelbarer Nähe zu der Straße, die von Larrelt nach Emden führte. An dieser Straße gab es auch eine Bushaltestelle.
Altje hatte mitbekommen, dass der Bus nach Emden dort angehalten hatte und dann weitergefahren war.
Durch die milchige Plexiglasscheibe war der Umriss einer Person sichtbar gewesen, die dort offenbar gesessen und auf den Bus gewartet hatte.
Jetzt, da Altje mit ihrem Trecker wieder ziemlich nahe an den Unterstand der Bushaltestelle herankam, wunderte sich die Polizeimeisterin kurz darüber, dass die Person, die dort Platz genommen hatte, um auf den Bus zu warten, immer noch dort zu sitzen schien.
Wieso bleibt jemand an der Haltestelle sitzen, anstatt in den Bus zu steigen?, ging es ihr stirnrunzelnd durch den Kopf und sie ging daraufhin tatsächlich mit dem übergroßen Gummistiefelfuß vom Gas, sodass der Trecker einen Moment hielt.
Altje war stutzig geworden.
Es war ja nun nicht gerade so, dass man an einer Haltestelle zwischen Larrelt und Emden einen großen Busbahnhof vorgefunden hätte, an dem man zwischen verschiedenen Zielorten und Linien hätte auswählen können. Es fuhr hier genau ein Bus in eine mögliche Richtung. Und der nächste kam so viel später, dass man sich eigentlich keinen vernünftigen Grund vorstellen konnte, um an der Haltestelle sitzen zu bleiben und auf den Folgebus zu warten.
Altje atmete nun unvorsichtigerweise tief durch, was einerseits mal wirklich nötig gewesen war, andererseits einem aber wegen der Gülle auch schier den Atem rauben konnte. Bah, was ist das für ein Gestank!, dachte sie. Selbst die in dieser Hinsicht relativ unempfindliche Nase einer ostfriesischen Nebenerwerbslandwirtin wurde in diesem Moment einer schweren Prüfung ausgesetzt.
Altje wollte gerade schon wieder den Fuß aufs Gas setzen, als der zu große Stiefel ihres Vaters diesen Plan vereitelte, indem er ein Stück herunterrutschte. Sosehr Altje auch ihre Zehen einrollte, das Rutschen des Stiefels hatte sie nicht verhindern können.
Neuer Versuch, dachte sie.
Dann glaubte sie plötzlich, ihren Augen nicht mehr zu trauen.
Die umrisshaft sichtbare Gestalt, die auf den Bus gewartet zu haben schien, sackte plötzlich zur Seite und rutschte zu Boden. Wie leblos wirkte sie.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, stieß Altje jetzt laut hervor und ihre Stimme übertönte dabei sogar den Motor des Treckers.
Einen Moment lang zögerte Altje, aber dann stellte sie doch den Motor ab und begann etwas umständlich vom Trecker herunterzusteigen.
Mit den übergroßen Gummistiefeln an den Füßen war das eine Kunst ganz eigener Art.
Altje stapfte durch den tiefen, nassen Boden und dabei sanken ihre Stiefel bei jedem Schritt ungefähr bis auf Höhe der Knöchel ein. Es hatte in letzter Zeit viel geregnet in Ostfriesland. Ein sogenanntes Sturmtief war von der Nordsee her über das Land gezogen und hatte auch eine Menge Regenwolken mitgebracht, die sich dann immer wieder in plötzlich auftretenden, heftigen Schauern entluden.
Da war der Boden natürlich entsprechend aufgeweicht.
Außerhalb von befestigten Wegen war es jedenfalls niemandem zu empfehlen, ohne Gummistiefel herumzulaufen.
Altje erreichte schließlich den kleinen Unterstand bei der Bushaltestelle.
Und dann sah Altje eine regungslos daliegende Frau auf dem Boden.
Dass diese Frau tot war, sah Altje auf den ersten Blick.
Die Augen waren starr und blickten sie ausdruckslos an.
Aber das war noch nicht einmal das Schlimmste.
»Heike, du?«, stieß die Polizeimeisterin hervor.
Sie kannte die Tote, die im Übrigen aus einer klaffenden Wunde am Kopf blutete.
Altje griff sofort zum Handy.
Das war jetzt eine berufliche Angelegenheit für sie.
Kapitel 2
Kriminalhauptkommissar Ebbo Steen, der Leiter der Mordkommission bei der Kripo Emden, saß im Café am Stadtgarten, genehmigte sich ein ausgiebiges, gemütliches Frühstück und trank dazu Tee nach Ostfriesenart mit Sahne und Kluntjes. Dabei genoss er den Ausblick, den man von seinem Platz aus auf den Delft hatte.
Dieser Wasserarm reichte bis in die Innenstadt Emdens. Vor 400 Jahren, in der sogenannten großen Zeit Emdens, lagen hier Hunderte von Schiffen am Kai, und Emden war für einige Zeit der größte Hafen Europas. Die »Pracht Emdens« hatte selbst Shakespeare beeindruckt. Aber diese Zeiten waren lange vorbei. Immerhin war der Seehafen Emden geblieben, auch wenn er natürlich nicht mit Hamburg oder Rotterdam konkurrieren konnte. Genau genommen nicht einmal mit Wilhelmshaven.
Steen hob die Teetasse zum Mund und nahm in aller gebotenen Ruhe einen Schluck, während sein Blick an den Schiffen entlangwanderte, die heute am Delft lagen. Die meisten hatten ihren Liegeplatz dort für immer. Richtige Seeschiffe waren das nicht, sondern Museums- und Restaurantschiffe, deren Seetüchtigkeit wohl eher der von Hausbooten glich. Ein ehemaliger Seenotrettungskreuzer war darunter. Den konnte man besichtigen, wenn man wollte. Aber in See stechen tat auch dieses Schiff nicht mehr. Ein schöner Anblick war das alles aber trotzdem.
»Bei Ihnen alles in Ordnung, Herr Steen?«, fragte eine Stimme und riss Steen aus seinen Gedanken. Die Stimme gehörte Frau Oltrogge, die hier bediente.
»Oh ja, danke der Nachfrage«, sagte Steen. »Und ansonsten: Erstmal Moin, Frau Oltrogge.«
»Moin, Herr Steen.«
»Es gibt doch nichts Schöneres, als hier bei Ihnen zu sitzen und auf den Delft zu schauen«, meinte Steen. »Eigentlich ist es immer dasselbe – und doch ist es jedes Mal anders.«
»Das liegt am Wetter«, meinte Frau Oltrogge.
»Gut möglich«, sagte Steen.
»Das ändert sich hier im Norden stündlich und manchmal hat man alle Jahreszeiten an einem Tag.«
Steen musste lächeln. »Das ist schön formuliert. Aber genauso ist es.«
»Sie können ja froh sein, dass Sie das heute so genießen können. Wenn jetzt irgendwo ein Mord passiert wäre, dann wäre sicher viel zu tun für Sie.«
»Das heißt nicht, dass ich so jetzt nichts zu tun habe«, schränkte Steen ein.
»So wollte ich auch nicht verstanden werden, Herr Steen.«
»Ich arbeite auch, wenn kein Mord geschieht. Zu tun gibt es immer was. Aber im Prinzip haben Sie natürlich recht, Frau Oltrogge.«
»Ganz ehrlich, Herr Steen. Mir ist lieber, Sie haben nicht so viel Arbeit.«
»Ja, mir auch«, seufzte der Kommissar. »Aber erstens kann man sich das nicht aussuchen und zweitens kann es sich auch im Handumdrehen ändern.«
»Ich bewundere immer die Ruhe, mit der Sie an die Dinge herangehen, Herr Steen. Als hier neulich im Café so ein Verrückter mit einer Pistole herumfuchtelte und völlig wirres Zeug faselte, da brach hier erstmal Panik aus. Nur Sie sind ruhig geblieben und haben die Situation geregelt.«
»Sich aufregen bringt ja nichts«, sagte Steen.
»Ja, das sagt sich so leicht!«, gab Frau Oltrogge zurück. »Aber wenn dann eine solche Situation plötzlich da ist, dann denkt kaum jemand daran, sich so zu verhalten, wie es eigentlich vernünftig wäre.«
»Ist ja gut gegangen«, meinte Steen.
»Im Nachhinein kann man das immer sagen. Aber wenn Sie nicht so ruhig geblieben wären … Ich weiß nicht!«
»Naja, wir wollen mal nicht übertreiben.«
»Herr Steen, ich glaube, da hat es jemand auf Sie abgesehen … Ein Kollege!« Frau Oltrogge machte eine leichte Bewegung in Richtung der Eingangstür. Erst jetzt bemerkte Steen den hochgewachsenen, uniformierten Mann, der gerade eingetreten war. Dieser straffte sich, richtete sich zu voller Größe auf und zog seine Uniform glatt.
Natürlich kannte Kommissar Steen den Mann.
Das war sein Kollege Polizeiobermeister Johnny Volkerts.
Johnny erregte schon aufgrund seiner hoch aufragenden Gestalt und der Uniform Aufmerksamkeit im Café. Die Gespräche an den Tischen verstummten. Die Blicke richteten sich auf den Polizeiobermeister und man erwartete wohl, dass jetzt irgendeine amtliche Handlung folgte. Johnny vermittelte zumindest durch seine Körperhaltung und seine ganze Art, sich zu geben, diesen Eindruck. Aber das war typisch für ihn. Eigentlich war bei Johnny Volkerts jede Handlung eine amtliche Handlung. Er galt als überaus korrekt, wobei die Grenze zwischen überaus und überkorrekt natürlich fließend war und von den anderen Kollegen mal so und mal so beurteilt wurde.
Johnny Volkerts ließ den Blick schweifen und war sich der Aufmerksamkeit bewusst, die er durch sein Auftreten erregt hatte.
»Moin allerseits«, sagte er also in den Raum hinein. Ein etwas undeutlicher und vielstimmiger Chor antwortete ihm mit einem deutlich verhalteneren »Moin«.
»Irgendwas passiert?«, fragte jemand von einem der Tische. Es handelte sich um einen beleibten Herrn mit hoher Stirn und buschigen Augenbrauen. Die hohe Stirn bewirkte, dass sein Stirnrunzeln besonders deutlich hervortrat.
»Nicht hier!«, versicherte Johnny Volkerts, was den Café-Gast irgendwie zu beruhigen schien.
Dann hatte Johnny schließlich den Kommissar entdeckt. Die Vermutung von Frau Oltrogge war zutreffend: Johnny Volkerts wollte offenbar zu Steen.
»Ja, ich lass Sie beide dann mal besser allein«, meinte Frau Oltrogge. »Wollen Sie auch hier frühstücken?«, wandte sie sich dann noch an Johnny.
Aber der Polizeiobermeister schüttelte energisch und auf eine Art und Weise den Kopf, die bewirkte, dass man ihm diese Frage ganz bestimmt nicht ein zweites Mal stellte.
»Danke«, setzte Johnny dann noch hinzu und anschließend setzte er sich auf den freien Stuhl an Steens Tisch.
»Moin, Johnny. Was führt dich denn hierher?«
»Steen, ich habe versucht dich anzurufen.«
»Ja, der Handyempfang ist hier manchmal nicht so richtig gut.«
»Könnte es auch sein, dass du das Gerät gar nicht eingeschaltet hast?«
Steen langte in die Innentasche seines Jacketts. Tatsächlich. Das Gerät war abgeschaltet. »Mmh«, murmelte der Kommissar.
»Na, dann ist es ja kein Wunder, dass man dich nicht erreichen kann.«
Steen schaltete das Handy jetzt ein und stellte fest, dass eine ganze Reihe von Nachrichten für ihn eingegangen waren. Man muss ja nicht immer mit der Welt verbunden sein, dachte er. Nicht 24 Stunden am Tag jedenfalls.
»Es gibt einen Mord, Steen.«
»Oh«, meinte er. Dann schüttete er sich erstmal noch eine Tasse Tee ein.
»Wir müssen jetzt dringend aufbrechen, Steen! Ulfert ist schon an Ort und Stelle und Altje ja sowieso. Die hat die Leiche nämlich gefunden.«
Kriminalhauptkommissar Ulfert Jansen war der zweite Kommissar in Steens Abteilung. Ulfert war um einiges jünger als Steen, hatte ein paar Jahre in Berlin beim Bundeskriminalamt verbracht und