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Die Brücken von Tompelin: Kurzgeschichten und Erzählungen von heute, morgen und übermorgen
Die Brücken von Tompelin: Kurzgeschichten und Erzählungen von heute, morgen und übermorgen
Die Brücken von Tompelin: Kurzgeschichten und Erzählungen von heute, morgen und übermorgen
eBook376 Seiten5 Stunden

Die Brücken von Tompelin: Kurzgeschichten und Erzählungen von heute, morgen und übermorgen

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Über dieses E-Book

Kann eine Kleinstadt wie Tompelin einfach so von der Landkarte verschwinden, nur weil plötzlich und für alle überraschend eine Fußgängerbrücke gesperrt wird?
Wie wäre es um den Familienfrieden bestellt, wenn es für das baldige Ableben eines frischgebackenen Rentners eine staatliche Prämie gäbe?
Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die aus Angst vor Veränderungen jede Technik ablehnt und verbietet?
Wie weit darf oder sollte unser Sicherheitsdenken angesichts der terroristischen Bedrohungen gehen?

Geschichten und Erzählungen mit verschiedenen, aber durchaus denkbaren Zukunftsszenarien über uns Menschen auf unserer kleinen Erde, aber auch über uns Menschen als brutale Eroberer im All. Einige der Geschichten sind nicht ganz so ernst gemeint, andere dagegen schon. Wie schon bei "Einer von diesen Tagen" (2021) erwartet den Leser erneut eine ziemlich bunte Mischung, dieses Mal ist sie aber nachdenklicher, politischer, skurriler und futuristischer ausgefallen. Aber keine Angst, der Humor kommt auch in diesem Erzählband nicht zu kurz.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Okt. 2022
ISBN9783347696990
Die Brücken von Tompelin: Kurzgeschichten und Erzählungen von heute, morgen und übermorgen

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    Buchvorschau

    Die Brücken von Tompelin - Steffen Brabetz

    Die Brücken von Tompelin

    Ich spähte durch den dichten frühmorgendlichen Nebel.

    Wo blieb denn nur die Fähre?

    Ich wollte noch weit kommen auf meiner heutigen Wanderung, doch den schmalen Kanal musste ich erst einmal überqueren. „Fährmann", rief ich, aber auf dem anderen Ufer rührte sich außer einigen aufgeschreckten Vögeln nichts.

    Verärgert stellte ich meinen Rucksack im nassen Gras ab. „Fährmann", rief ich, etwas lauter als vorher.

    Ein tiefes Knurren antwortete mir. Kurze Zeit später entdeckte ich eine gebückte Gestalt in einem kleinen Boot. Beim Näherkommen erkannte ich im Fährmann einen uralten Mann mit einem grauen Bart.

    „Guten Morgen", sagte ich freundlich, als das Boot am Ufer anlegte. Der alte Mann schüttelte den Kopf.

    „Was müsst ihr jungen Leute das immer nur so eilig haben, antwortete er. „Das Leben ist doch lang genug.

    Er sah mich an und begutachtete meine Ausrüstung. Sie schien ihm zu gefallen, er nickte mir freundlich zu. Vorsichtig stieg ich in das Boot, das vor sehr vielen Jahren sicherlich auch einmal neu gewesen sein mochte. Langsam stieß der Fährmann das Boot vom Ufer ab und stakte gemütlich durch das Wasser.

    Fröstelnd zog ich die Schultern zusammen und steckte meine Hände in die Taschen. Auf dem Wasser war der Wind kühler. „Hier könnte man doch eine kleine Brücke bauen, sagte ich. „So breit ist der Kanal an dieser Stelle doch gar nicht.

    Der Fährmann lachte.

    „Eine Brücke?, rief er belustigt. „Was für eine neue Idee.

    Er seufzte, hörte mit dem Staken auf und drehte sich zu mir um. „Wissen Sie, junger Mann, sagte er. „Hier gab es eine Brücke. Vor sehr, sehr langer Zeit. Ich glaube, sie wurde kurz nach dem Jahr zweitausend abgerissen. Damals war ich dreiunddreißig oder vierunddreißig Jahre alt. Und das ist inzwischen schon sehr lange her.

    „In dieser Wildnis gab es eine Brücke?", fragte ich erstaunt. Das schien mir unglaubwürdig angesichts der vielen Seen und weiten, hügeligen Wiesen und Wälder in einem herrlich großen Naturschutzgebiet.

    „Nicht nur eine Brücke für Fußgänger, antwortete der Fährmann stolz. „Es gab auch noch zwei Autobrücken.

    Drei Brücken? Was war mit ihnen geschehen? Als das Boot das Ufer erreicht hatte, schreckte ich aus meinen Gedanken auf.

    „Wir sind da, sagte der Fährmann. „Sie können aussteigen. „Drei Brücken?, fragte ich neugierig. „Hier gibt es doch nichts. Der alte Mann lächelte still.

    „Das ist eine lange Geschichte, antwortete er. „Aber Sie wollen bestimmt schnell weiter und haben dafür sicher keine Zeit.

    „So schnell nun auch wieder nicht, widersprach ich. „Was war denn nun mit den drei Brücken?

    „Neugierig?, rief er schmunzelnd. „Die Brücken von Tompelin. Der Anfang vom Ende. Er half mir aus dem Kahn.

    „Kaffee? Schwarz oder weiß? Mit oder ohne Zucker?"

    „Weiß und ohne Zucker", antwortete ich.

    Die Frage irritierte mich ein wenig, aber seine nette Einladung konnte ich einfach nicht ausschlagen. Die Brücken wollten mir einfach nicht aus dem Sinn gehen.

    „Milch oder Sahne?", fragte plötzlich eine weibliche Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Vor mir stand, so vermutete ich, die Frau des Fährmanns, eine kleine, alte und grauhaarige Frau. Ihr freundliches Lächeln nahm mich sofort für sie ein.

    „Milch, antwortete ich lächelnd. „Einfache Kuhmilch.

    „Das ist gut, sagte die alte Frau. „Die Sahne ist ohnehin alle. „Eigentlich haben wir überhaupt keine Sahne, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. „Frische Milch schmeckt auch besser. Zusammen gingen wir drei den Abhang hinauf. Oberhalb des Ufers stand ein flaches Gebäude. Das Haus konnte man vom anderen Ufer aus nicht sehen. Es lag versteckt hinter Bäumen und Sträuchern. Die Tür stand weit offen. Der Innenraum überraschte mich durch seine Größe. Der Fährmann bemerkte meinen Blick. Wieder lächelte er still.

    „Das war früher mal ein Supermarkt, sagte er. „Und später ein Weinhandel, auch wenn man das nicht mehr glauben mag, angesichts der fehlenden Menschen. Ich musste lachen. „Ziemlich winzig für einen Supermarkt", bemerkte ich.

    „Da haben Sie wohl recht, sagte die alte Frau. „Heute gibt es solche Läden nicht mehr. Aber vor vierzig, fünfzig Jahren gab es in Dörfern und Städtchen noch kleine Geschäfte.

    Wir setzten uns an einen Holztisch gleich neben dem Eingang.

    In aller Ruhe machte sich die alte Frau am Herd zu schaffen.

    Der alte Mann setzte sich an den Tisch und begann, gemächlich seine Pfeife zu stopfen.

    „Solche Pfeifen habe ich bisher nur im Museum gesehen."

    „Die habe ich hier in der Nähe gefunden. Früher habe ich nicht geraucht, antwortete der alte Mann. „Aber hier am Kanal geht die Zeit etwas anders. In unserer schönen Einsamkeit hängt jeder seinen eigenen Gedanken nach. Ich weiß, dass bei euch Geld, Karriere, virtuelle Welten und Gentechnik wichtiger sind als das echte Leben. Das alles ist für uns aber weit weg. Und dafür bin ich inzwischen sehr dankbar.

    Neidisch schaute ich auf den alten Mann. Er hatte ja so Recht, das sogenannte normale Leben ließ einem sehr wenig Zeit für einen selbst. Sicher musste man nicht alt werden, um das zu erkennen, aber vielleicht, um die Kraft und den Willen zu finden, den ständigen Zwängen entkommen zu wollen.

    Kurze Zeit später stand ein dampfender Pott Kaffee vor mir.

    Nach dem ersten Schluck musste ich husten.

    Die alten Leute schauten mich belustigt an.

    „Eine Kaffeemaschine haben wir nicht, sagte die alte Frau. „Sie werden aber einen echten handgebrühten Kaffee überleben.

    Ich schaute den alten Mann erwartungsvoll an.

    „Wenn die Geschichte von den Brücken so lang ist, dann müssen Sie aber bald anfangen", sagte ich nach dem zweiten Schluck, der mir schon besser bekam als der erste.

    „Eigentlich ist es keine ungewöhnliche Geschichte, begann der alte Mann. „Es sind oft die unbeachteten und unbedeutenden Kleinigkeiten, die große Geschichte schreiben. Wie der Flügelschlag eines bunten Schmetterlings. So war es auch beim Untergang von Tompelin.

    So gut es ging, machte ich es mir auf meinem Stuhl bequem. Die alte Frau setzte sich leise auf die Fensterbank und begann, frisch geerntete Kartoffeln mit einem kleinen Messer zu schälen. Nach einem Zug aus seiner Pfeife fuhr der Fährmann fort: „Tompelin war eine kleine, gemütliche Stadt mit herrlicher Umgebung. Hier lebten über fünfzehntausend Menschen.".

    Fünfzehntausend Menschen? Das überraschte mich doch etwas. Dörfer sind immer wieder verschwunden, aber ganze Städte?

    „Es gab hier kaum Industrie, aber einige kleinere Firmen und ein wenig Landwirtschaft. Viele Leute versuchten, vom Tourismus zu leben. In der ganzen Stadt verteilten sich mehrere Hotels und etliche Ferienwohnungen. Um die Jahrtausendwende herum wurde eine unterirdische Heilquelle angezapft und ein Spaßbad gebaut. Es gab auch ein Museum, das wurde irgendwann aus Geldmangel geschlossen. An sich nichts Besonderes, unser Tompelin, aber ein wunderschönes Fleckchen Erde."

    Ein Ruf unterbrach plötzlich den alten Mann.

    „Fährmann, hallte es laut vom anderen Ufer. „Fährmann, wir warten. Dauert es noch lange? Wir müssen weiter. Kopfschüttelnd stand der Fährmann auf und ging hinaus.

    Kaum hatte er das Haus verlassen, erzählte die alte Frau weiter. „Viel kleiner hätte die Stadt nicht sein dürfen. Selbst Tompelin war nur ein großes Dorf. Viel Klatsch und Tratsch. Kleidung war hier immer teuer. Ein Theaterbesuch in Berlin war eine kleine Weltreise. Etwas abseits war es schon."

    „Aber jetzt leben Sie doch noch viel einsamer?, entgegnete ich erstaunt. „Hier sind Sie vollkommen allein in der Wildnis.

    „Wissen Sie, sagte sie und blickte mich mit traurigen Augen an. „Wir sind inzwischen zu alt für die neue Welt. Sie ist zu schnell geworden, viel zu modern und zu technisch. Wem sie so gefällt, der soll in ihr leben. Mein Mann und ich wollen das nicht.

    Während ein lautstarker Pulk Wanderer am Haus vorbeizog, kam der Fährmann wieder durch die Tür und beschäftigte sich mit seiner inzwischen erloschenen Pfeife.

    „Es wird ein richtig schöner Tag", sagte er. „Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Tompelin. Wie gesagt, es war eine Kleinstadt mit eigentlich allem, was so dazu gehörte. Durch einen Kanal wurde sie in einen Nord- und Südteil getrennt. Nur ein schmaler Kanal. Und es gab drei Brücken. Aber das wissen Sie ja bereits. Die kleinste davon war die Spandauer Brücke, irgendwann gebaut durch ein Pionierbataillon aus Spandau. Eine schöne kleine Holzbrücke, für die Kinder hier ideal zum Entenfüttern. Aber Holz und Wasser vertragen sich auf Dauer nicht besonders gut. Ständig wurde an der Brücke gebaut."

    „Herumgedoktert wäre das bessere Wort", brummte die alte Fährfrau. Ihr Mann zuckte mit den Schultern.

    „Du hast recht, Frau, sagte er dann. „Für mehr war ja kein Geld da. Einige Balken wurden ausgetauscht und später wurde das Geländer geschweißt. Dann war sie eine Woche gesperrt und dann durfte man wieder hinüberlaufen. Ein ewiges Hin und Her. „Das konnte doch nicht gut gehen", unterbrach ich den Fährmann. Ich ahnte schon, wie es weitergehen würde.

    Die beiden alten Leute lächelten sich an.

    „Heute weiß das jeder, sagte die Frau. „Damals wollte das niemand sehen. Schließlich gab es die Brücke ja noch.

    Der alte Fährmann fuhr in seiner Erzählung fort: „Bei all den Reparaturen wurde die Brücke nicht besser und das Geld in der Stadtkasse war knapp. Eines Tages kam ein Ingenieurbüro daher, prüfte die Brücke und sperrte sie von heute auf morgen. Niemand ahnte etwas davon. Die Schulkinder aus der Nordstadt standen am nächsten Morgen völlig verdutzt vor der Sperre. Selbst der Bürgermeister auf seinem Fahrrad musste einen Umweg über die entferntere Autobrücke nehmen. Der erste Leidtragende der Sperrung war ein Tompeliner Ausflugsdampfer, der eine Woche später seine Rundfahrten einstellen musste, weil die technischen Versorgungseinrichtungen für das Schiff jenseits der Brücke lagen. Alle anderen fanden sich mit der Situation irgendwie ab. Man fuhr nicht mehr mit dem Fahrrad, man nahm das Auto oder den kostenlosen Bus."

    Der Fährmann bemerkte meinen überraschten Blick.

    „Der Bus war wirklich kostenlos, sagte er. „Aber auch das konnte sich die Stadt wenig später nicht mehr leisten.

    „Aber man hätte doch Geld lockermachen können, sagte ich. „Damals gab es doch noch die Bundesrepublik Deutschland. Oder Fördermittel von der Europäischen Union.

    „Fördermittel? Ein schönes Wort", sagte der Fährmann. „Fördermittel sind ziemlich oft Luftschlösser. Nichts Greifbares, nichts Konkretes. Keine Mark, keinen Euro und keinen einzigen Dig." Nach einer kurzen Pause fuhr er fort.

    „Es war anfangs kaum zu merken, dass weniger Touristen kamen und dass einige Busunternehmen ihre Reisen absagten, weil die Sieben-Seen-Rundfahrten mit dem Schiff nicht mehr stattfinden konnten. Das alles fiel in der Stadtverwaltung niemandem auf, denn die Bürokraten hatten andere Sorgen. Die Spandauer Brücke war nun endgültig gesperrt, aber für einen Neubau war leider kein Geld da. Es kam noch schlimmer: Es fehlte sogar das Geld für den Abriss der Brücke. Also fällte man den Beschluss: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen."

    „Das konnte doch nicht gut gehen", bemerkte ich.

    „Sie wiederholen sich, junger Mann, warf die alte Frau ein. „Wie sich die Fehler der Menschen immer wiederholen.

    Der Fährmann hatte einige tiefe Züge aus seiner Pfeife genommen und erzählte weiter: „Nur das Wasseramt spielte nicht mit. Neubau oder Abriss hieß das Ultimatum. Schließlich handelte es sich um eine Bundeswasserstraße. Damit war der schwarze Peter wieder bei der Stadt Tompelin. Was nun? Ganz einfach: Man konnte bestimmt das Geld aus den Taschen der Bürger holen. Aber wie? Man beschloss, die Straßenreinigung einzustellen. Die nagelneue Kehrmaschine wurde billig verschleudert, zwei Techniker entlassen und die Straßenreinigung den Hauseigentümern aufgebürdet. Dementsprechend sah nach einigen Wochen die Innenstadt aus. Die Spandauer Brücke wurde in drei Tagen abgerissen. Die Zahl der Touristen nahm unmerklich immer weiter ab."

    „Sie hatten mir von drei Brücken erzählt", warf ich ein, denn im Abriss einer kleinen Holzbrücke, noch dazu einer einfachen Fußgängerbrücke, konnte ich noch kein Problem entdecken.

    „Ja, nun waren es noch zwei Brücken", erzählte der Fährmann unbeirrt weiter. „Der Abriss war aber nur der Anfang. Auf der Autobrücke kam es einige Wochen später zu einem Unfall. Ein Tanklaster explodierte. Die Brücke wurde komplett zerstört, auch die Schleuse, große Teile der Stadtmauer und einige Häuser, aber wie durch ein Wunder gab es keine Toten. Und die dritte Brücke, die Ziegeleibrücke, nur gedacht für normale Autos, brach zwei Tage später zusammen, als mehrere LKW die letzte Brücke als Umleitung benutzen wollten. Die Stadt war jetzt zweigeteilt. Alle waren überrascht, aber jedermann glaubte an eine rasche Lösung. Schließlich war die Situation mehr als unhaltbar. Einige Bootsbesitzer verdienten sich in den folgenden Tagen eine goldene Nase, denn viele Leute mussten ihre Arbeitsplätze erreichen. Die lagen plötzlich eine knappe Weltreise entfernt. „Eine Brücke kann nicht an einem Tag gebaut werden, sagte ich.

    „Aber da muss man doch schnell handeln."

    Der alte Mann nickte zustimmend.

    „Sicher, junger Mann", antwortete er. „Sicher. Aber das klappt nur, wenn die Zuständigkeiten geklärt sind. Das ist heute im neumodischen Europa nicht anders als damals in Deutschland. Die Stadt, ohnehin knapp bei Kasse, schob die Verantwortung für den Bau des Brückenfundaments dem Bundeswasseramt zu, schließlich gehöre das eindeutig zur Schleuse. Das Amt widersprach auf das Heftigste und stellte auf stur. Die Stadt wandte sich an die Landesregierung, die verwies auf die Bundesrepublik, die wiederum sah sich angesichts ihrer leeren Kassen ebenfalls vollkommen außerstande, Geld bereitzustellen. Europäische Mittel waren auch keine da, die wurden im östlichen Teil der Union erheblich dringender benötigt. Und so kam nach einem Monat das Problem Kanalbrücke zum absoluten Stillstand. Von der Spandauer Brücke sprach kein Mensch mehr. Die Situation hatte Konsequenzen: Erst mussten einige Firmen Konkurs anmelden, die übrigen verließen Tompelin und siedelten sich in den nächsten größeren Städten wie Brenzlau und Zumdenick an. Die Mitarbeiter der Firmen und deren Familien folgten. Innerhalb weniger Wochen standen viele Wohnungen im Nordteil leer. Nach fünf Monaten gab es keinen einzigen Supermarkt mehr in Tompelin und nach sechs Monaten war Tompelin eine Geisterstadt. Nicht alle Menschen wollten ihre Stadt einfach so verlassen. Der Menschenschlag hier ist in seine Heimat tief verwurzelt, aber wie sollte man hier seinen Lebensunterhalt verdienen? Nach zwei Jahren beschloss die Landesregierung von Brannenburg, die Stadt endgültig aufzugeben und ein Naturreservat einzurichten. Es gab nur noch knapp 500 Einwohner und dem entsprechend sah die Stadt aus, besser gesagt: Was davon noch übrig geblieben war. Für Brücken und Häuser gab es kein Geld mehr, aber für den Abriss flossen einige Millionen Euro aus einem Fond zur Renaturierung von Waldgebieten. Die Proteste der Übriggebliebenen verhallten ungehört. Nach einem Ultimatum verließen die meisten Menschen die Stadt freiwillig, nur der Bürgermeister verschanzte sich im Rathaus und musste per Polizeieinsatz aus dem Gebäude geholt werden. Heute sehen Sie das Ergebnis vor sich: Wälder mit einer unglaublichen Vielfalt an Pflanzen und Tieren. Von einer Stadt weit und breit keine Spur."

    Tief in Gedanken versunken saß ich am nächsten Morgen auf einem moosbedeckten Baumstamm und schaute mir das farbenprächtige Schauspiel eines großen Schmetterlings an, der sich in meiner Nähe mit einem in der Sonne glitzernden Tautropfen beschäftigte. Der Schmetterling schlug mit seinen Flügeln. Ich dachte an die alten Leute.

    Was hatte der Fährmann gesagt?

    Es sind oft die unbeachteten und unbedeutenden Kleinigkeiten, die große Geschichte schreiben. Wie der Flügelschlag eines bunten Schmetterlings.

    Wo wurde gerade eine unbedeutende Brücke abgerissen?

    Wieder schlug der Schmetterling mit seinen Flügeln.

    Für welche Stadt begann, heute noch von allen unbemerkt, langsam der schleichende Untergang?

    Und wieder schlug er mit seinen Flügeln, um sich dann in die Luft zu erheben. Nachdenklich schaute ich ihm lange hinterher.

    Jagdprämie oder Rente 2042

    Hätte ich früher gewusst, dass ich erst mit fünfundsiebzig Jahren in Rente gehen durfte, wäre ich bestimmt ein Beamter geworden. War ich aber nicht. Seit Anfang des neuen Jahrtausends wurde von allen Regierungen das Rentenalter immer wieder heraufgesetzt und nun, wir befanden uns im Jahr 2042, lag es für alle nach mir kommenden Rentner bei achtundsiebzig Jahren. Bei der allmählich vergreisenden Bevölkerung war das sicher noch lange nicht das Ende.

    Ich wollte mich aber erst einmal entspannen, alle Annehmlichkeiten in aller Bequemlichkeit genießen. Meine Kinder sollten weiter fleißig arbeiten, um meine nicht gerade üppige Rente zu erwirtschaften. Nach so vielen Jahren Arbeit bekam ich gerade einmal einhundertfünfzig Digs als Rente, das sind, lassen Sie mich einmal nachrechnen, so ungefähr vierhundert Euro.

    Obwohl die Währungsumstellung auf den Dig in Europa und den USA inzwischen schon etliche Jahre zurücklag, ich musste immer noch auf die alte, mir bekannte Währung umrechnen. Aber das war nicht wirklich ein Problem, denn in meinem Leben war es bereits das dritte Zahlungsmittel. Wirklich ein Problem war für mich das vollständige Fehlen von Bargeld. Meine Frau, die bereits seit knapp zwei Jahren eine wirtschaftlich nutzlose Rentnerin war, begrüßte mich mit einem Kuss in der Gemeinschaft der alten und faulen, aber glücklichen Menschen.

    Am Vormittag des ersten Tages meines Rentnerdaseins klingelte es an unserer Wohnungstür. Ich erwartete niemanden.

    Auch meine Frau zuckte nichtsahnend mit den Schultern.

    „Sind Sie Herr Meier?, fragte mich eine etwa dreißigjährige Frau und schaute mich treuherzig an, „Ich hätte eine wichtige Rentenangelegenheit mit Ihnen zu besprechen.

    „So ein Zufall. Ich bin es tatsächlich", antwortete ich sarkastisch.

    „Sie haben mich also gefunden? Seit heute bin ich auch noch ein Rentner. Noch so ein komischer Zufall."

    Die Gute lächelte gequält, sie befürchtete wohl Schwierigkeiten. „Darf ich vielleicht eintreten?", fragte sie wenig später, nachdem ich überhaupt keinerlei Anstalten machte, den Weg in die Wohnung freizugeben.

    „Entschuldigung, rief ich. „In meinem Alter kann man schon mal seine gute Erziehung vergessen. Kommen Sie doch bitte herein. Großen Abstand haltend schlich sich die Dame an mir vorbei durch den Flur ins Wohnzimmer. Dort angekommen, setzte sie sich in den vom Sofa entferntesten Sessel und holte aus ihrer Mappe Unmengen von Papier. Was um aller Welt wollte die aufdringliche Frau von mir am ersten Tag meines neuen Lebens? „Nun ja, Herr Meier, sagte sie, mehr zu sich selbst gewandt. „Seit heute sind Sie Rentner. Sie befinden sich jetzt nicht mehr im Arbeitsleben. Das war mir bereits bekannt.

    „Sie bekommen jetzt vom Staat sehr viel Geld, ohne eine Gegenleistung zu erbringen, fuhr sie fort und raschelte geschäftig mit ihren Papieren. „Haben Sie sich schon mal Gedanken über Ihre Familie gemacht? Sie wissen bestimmt, dass Sie Ihre Familie wirtschaftlich besser stellen könnten, wenn Sie sich entscheiden würden, Ihr Rentnerdasein zu beenden.

    „Wollen Sie mir eine Arbeit anbieten?, fragte ich überrascht. „Ich dachte schon, dass ich genug gearbeitet hätte. Ich wollte ab heute eigentlich meine Rentnerzeit genießen.

    „Ihr Heimatland dachte nicht an eine neue Arbeit, druckste sie herum. „Sie können Ihre Familie anderweitig unterstützen.

    „Mein Heimatland?, lachte ich hämisch. „Das soll sich mal allein um sich kümmern. Ich bin Rentner und kümmere mich um mich selbst. Die Frau wirkte etwas verunsichert, weil ich ihre Anspielungen einfach nicht verstehen wollte.

    „Schauen Sie denn überhaupt keine Nachrichten?, fragte sie erstaunt. Sie schien keine rechte Idee zu haben, wie sie das Gespräch in die gewünschte Richtung lenken konnte. „Nachrichten?, antwortete ich abschätzig und winkte ab. „Früher habe ich mir das angetan. Den ganzen Quatsch verfolge ich schon seit Jahren nicht mehr."

    „Dann kennen Sie sicher auch nicht die neuen Gesetze aus dem September fünfunddreißig?, rief sie überrascht und schaute mich mit großen Augen an. „Das erklärt dann doch so einiges. „Nein", knurrte ich verärgert, die Frau stahl mir wertvolle Zeit meines Daseins und das wollte ich nicht länger dulden.

    „Ihre Familie würde zehntausend Digs bekommen, wenn Sie freiwillig Ihr Rentnerleben beenden würden", sagte sie leise, ihre Augen musterten dabei unruhig den Teppich.

    „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich kein Interesse an einer neuen Arbeit habe", erwiderte ich erneut und wunderte mich gleichzeitig über das stille Lächeln meiner Frau.

    „Wie gesagt, es geht nicht um eine neue Arbeit antwortete sie nervös. „Sondern um Ihr persönliches Ableben als Rentner, also um die tatsächliche Beendigung ihres Rentnerlebens.

    „Na dann ist es ja gut", rief ich erleichtert und stutzte plötzlich, hatte ich mich etwa verhört. „Die verdammte Bagage bekommt für meinen To…, also mein Ableben zehntausend Digs?"

    „Aber ja", rief sie erleichtert. „Aber mit jedem Jahr, das Sie länger leben, werden es tausend Digs weniger."

    Ich war vollkommen sprachlos.

    Vielleicht hätte ich die Nachrichten besser doch verfolgen sollen. Von diesen Gesetzen hatte ich noch nie etwas gehört.

    „Lieben Sie denn nicht Ihre Kinder und Enkel?", fragte sie weiter, nun hatte sie mich da, wo sie mich längst haben wollte.

    „Dumme Frage, antwortete ich. „Ich liebe vor allem meine beiden Enkel. Aber das ist doch noch lange kein Grund, mich freiwillig in einen Sarg zu legen.

    „Sie müssen auch einmal an unsere europäische Wirtschaft denken erwiderte sie. „Ihr ganzes Leben lang haben Sie alle Vergünstigungen Ihres Arbeitslebens genutzt, alle steuerlichen Vorteile genossen und in jeder Lebenslage staatliche Unterstützung erhalten. Das Land hat Ihre Kinder betreut und ihnen hervorragende Bildung über viele Jahre geboten.

    Was faselte die Frau denn da? Ich hatte mein langes Arbeits- und Familienleben nicht ganz so sonnig in Erinnerung.

    „Das Vaterland war immer für Sie da, fuhr sie mit glänzenden Augen fort. „Bei jedem Problem stand unser Staat Ihnen zur Seite, half bei jeder Gelegenheit und würde sich nun über eine kleine Gefälligkeit freuen. Mein Tod – eine kleine Gefälligkeit? Auch mit fünfundsiebzig war ich noch Manns genug, die Frau ohne weitere Worte aus meiner Wohnung zu werfen.

    Ich war und blieb ein Rentner. Dazu noch ein sehr lebendiger.

    Am ersten Wochenende meines neuen Lebens besuchte mich unsere Schwiegertochter. Freudestrahlend raste sie durch die Wohnung, einen großen Karton vor sich her tragend.

    Darin befand sich eine köstliche Blaubeertorte.

    „Fast hätte ich es vergessen, rief sie plötzlich. „Ich muss ja noch zu meiner Frauenrunde. Lasst euch die Torte schmecken.

    So schnell, wie sie gekommen war, war sie auch wieder weg.

    Ich deckte den Tisch in der Wohnstube, holte das beste Service aus dem Schrank und stellte zwei Kerzen auf. Zeit für Romantik. Ich schnitt die Torte an. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee zog durch die Wohnung. Die Torte sah wirklich lecker aus.

    „Du willst den Kuchen doch nicht etwa essen?, fragte meine Frau und schaute mich ahnungsvoll an. Wusste sie mehr als ich? „Warum denn nicht?, fragte ich verwundert. „Unsere liebe Schwiegertochter konnte schon immer eine wundervolle Blaubeertorte backen. Warum sollte das heute anders sein?"

    „Weil du vielleicht seit drei Tagen Rentner bist?", antwortete sie mit einer Gegenfrage. „Du solltest die Torte testen. Vergiss nicht einen einzigen Moment die zehntausend Digs. Niemals."

    Die Torte testen? Meine mir vor vielen Jahren angetraute Frau machte mich misstrauisch. Ich legte die Kuchengabel zur Seite und schob ein kleines Tortenstückchen in den Käfig unseres Wellensittichs. Keine zwei Minuten später kippte er steif und leblos von der Stange. Meine Frau roch am Kuchen.

    „Rattengift, sagte sie schließlich und verzog keine Miene. „Ich hätte unsere Schwiegertochter doch für etwas cleverer gehalten. Rattengift ist doch ziemlich plump.

    Ich war erstaunt, wie seelenruhig und emotionslos meine Frau die Situation betrachtete. Die Ehefrau meines eigenen Sohnes hatte mich vergiften wollen.

    „Wenn sie das Geld haben wollen, können sie mich auch einfach erschießen, bemerkte ich trotzig. „Das ist nicht ganz so kompliziert. Meine Frau lachte und schüttelte den Kopf.

    „Das wäre dann aber Mord, antwortete sie. „Dann gibt es nicht die komplette Prämie für dein Ableben.

    „Und wie nennst du das?, fragte ich und zeigte auf die Torte. „Das wäre nur ein bedauerlicher Unfall, erklärte sie nachsichtig. „Mehl und Rattengift kann man schon mal verwechseln. Wenn man Schnupfen hat, riecht man nicht viel. Die Kriminalpolizei legt zurzeit, nach allem was man so hört, recht viel als Unfall aus." Meine Schwiegertochter hatte keinen Schnupfen.

    Da war ich mir ziemlich sicher.

    Als ich am nächsten Morgen erwachte, schwor ich mir, misstrauischer zu werden. Dass ich nicht einmal meiner eigenen Familie trauen durfte, machte mir schon zu schaffen. Aber in den folgenden Tagen waren alle ausgesprochen freundlich zu mir. Niemand erwähnte die Torte, niemand fragte nach der Torte.

    Am folgenden Sonntagmittag rief mich mein Sohn an.

    „Das ist aber schön, dass es dir gut geht, begrüßte er mich mit honigsüßer Stimme, die bei mir sofort die Alarmglocken schrillen ließ. „Ich muss arbeiten. Könntest du am Nachmittag mit deinem Auto die Kinder von unserer Hütte abholen?

    Ich antwortete nicht sofort. War das vielleicht eine Falle?

    Was führte mein eigen Fleisch und Blut im Schilde?

    Das Auto, sagte ich mir, nur das Auto konnte es sein.

    „Aber klar, antwortete ich. „Ich habe doch als Rentner Zeit. Aber mit meinem Auto kann ich nicht fahren.

    „Ist etwas passiert?, fragte mein Sohn erschrocken. „Ich brauche aber mein Auto. Ich habe einen wichtigen Termin. Du musst mit deinem Auto fahren. Hab ich dich, du Schlingel, dachte ich bei mir, aber auch ich konnte in die Trickkiste greifen. „Meine alte Karre ist zu klein für mich, die Kinder und die vielen Angeln, die sie bei sich haben, erklärte ich ihm. „Am besten tauschen wir die Autos.

    „Die Autos tauschen?, entgegnete er erregt. „Ich soll mit deiner Klapperkiste bei meinen Kollegen auftauchen? Das kann jetzt aber nicht dein Ernst sein. Nun war ich mir sicher, dass er an meinem Auto herumgeschraubt hatte.

    „Wir tauschen, beharrte ich auf meiner Forderung. „Sonst fahre ich nicht zur Hütte.

    „Also gut, gab er schließlich nach. „Wann kommst du?

    „In zehn Minuten bin ich da", sagte ich und legte auf.

    Missmutig übergab mir mein Sohn die Autoschlüssel, stieg leise schimpfend in mein kleines Gefährt und brauste davon. Ich dagegen setzte mich lächelnd in das wunderschöne neue Auto. Fröhlich pfeifend fuhr ich aus der Stadt. Im Wald öffnete ich alle Fenster und schnupperte die frische Luft. Herrlich, dieser Geruch nach vermodernden Tannennadeln, feuchtem Moos und Pilzen. Die vorbeirasenden Fahrzeuge hupten aufgeregt, aber was sollte das einen Rentner wie mich schon interessieren. Ich hatte Zeit, unglaublich viel Zeit.

    Die kleine Hütte am Tiefen See hatten wir uns schon vor Jahren gekauft und an unseren freien Wochenenden um- und ausgebaut. Eine Luxusvilla ist es nicht geworden, aber gerade in einer so schönen Landschaft wollte man sich ohnehin nicht mit dem Ambiente des Stadtlebens umgeben. Die Erinnerungen an vergangene Zeiten versetzten mich in eine ausgelassene Stimmung. Ich gab etwas mehr Gas und ließ mir den warmen Fahrtwind um die grauen Schläfen brausen. Wie ich so gedankenverloren dahinfuhr, hörte ich plötzlich einen leisen Knall und anschließend ein heftiges Zischen. Als ich kurz darauf in einer Kurve bremsen musste, merkte ich endlich,

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