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Luisenhöhe: Die sonderbaren Leben von Walter Denzel und seinem Freund Hägele
Luisenhöhe: Die sonderbaren Leben von Walter Denzel und seinem Freund Hägele
Luisenhöhe: Die sonderbaren Leben von Walter Denzel und seinem Freund Hägele
eBook639 Seiten8 Stunden

Luisenhöhe: Die sonderbaren Leben von Walter Denzel und seinem Freund Hägele

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Über dieses E-Book

Luisenhöhe
Die sonderbaren Leben von Walter Denzel und seinem Freund Hägele
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Jan. 2024
ISBN9783756267293
Luisenhöhe: Die sonderbaren Leben von Walter Denzel und seinem Freund Hägele
Autor

Friedrich von Schilbach

Friedrich von Schilbach ist der Verfasser der Mundartbücher "De Bach nab" und "Nnit wiä Dreck am Stecke".

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    Buchvorschau

    Luisenhöhe - Friedrich von Schilbach

    1

    Hoch über Überlingen, dort wo die auf der anderen Seeseite versinkende Sonne ihre letzten Strahlen auf die Erde wirft, erhebt sich majestätisch die Trogschulter einer Gletscherzunge aus der letzten Eiszeit. Wie eine Verbindung zum Himmel ragt sie empor und bildet eine natürliche Grenze zum Bodenseehinterland. Die beharrliche Arbeit des Regens und des Windes hat im Laufe der Zeit ihre Spuren hinterlassen und den weichen Sandstein geschmirgelt. Wie rastlose Hände von Riesen haben sie die Landschaft geformt und eine sanft geschwungene Hügellandschaft entstehen lassen. Ein Anblick, der die Seele berührt.

    Hinter dem Siedlungsgebiet von Überlingen beginnt ein zunächst leichter Anstieg, der nach dem Kreuzen der Bundesstraße etwas anzieht. Doch die Mühe des Aufstiegs lohnt sich für den Wanderer allemal, denn oben angekommen erwartet einen ein atemberaubender Blick über den See auf die weißen Zacken der Schweizer Alpen. Die Schönheit der Natur und die Weite des Horizonts lassen den Alltag vergessen und laden dazu ein, den Moment zu genießen.

    An diesem malerischen Aussichtspunkt namens Friedrich- und Luisenhöhe, der auch abgekürzt als Luisenhöhe bekannt ist, kann man sich leicht in der berauschenden Aussicht verlieren. Bei einem Blick nach Westen erstreckt sich der Hegau in der dunkelgrünen Ferne, während man im Osten bis ins gewellte Oberschwäbische schauen kann. Im Norden reicht die Aussicht, zumindest an nebelfreien Tagen, bis zur Schliffgrenze des Gletschers, wo heute das stolze Heiligenberger Schloss thront.

    Friedrich und Luise, die Namensgeber dieses beliebten Aussichtspunkts, waren einst ein badisches Großherzogspaar. Im Laufe der Zeit hatte aber der Volksmund Friedrichs Namen als Teil der Bezeichnung der Anhöhe wegfallen lassen. Auch hierbei überlebte ihn seine preußische Gattin.

    Obwohl er bereits seit den frühen Morgenstunden Zeitungen ausgetragen hatte und eine Pause verdient hätte, spazierte Otto fast jeden Morgen nach der Arbeit zur Luisenhöhe. Dort steht eine rote Ruhebank für Wanderlustige, die vom örtlichen Verschönerungsverein aufgestellt wurde. Mit kräftigen Schritten stapfte er das Barbelgängle hinauf, kreuzte die Alte Owingerstraße und bog dann auf einen Feldweg ab, der ihn am Spielplatz mit dem ausgemusterten Feuerwehrauto und dem einsam gelegenen Haus, das von einem bösen Hund bewacht wurde, vorbeiführte. Er ging durch die Unterführung der Fernstraße und nahm den schlingernden Trampelpfad vorbei an der alten Ölmühle, immer weiter bergan, bis er schließlich oben auf der Luisenhöhe angekommen war.

    Auf der roten Bank, wo er sich jedes Mal niederließ, um über sein verkorkstes Leben, die achtlos vergebenen Chancen und den täglichen Kampf nachzudenken, war normalerweise so früh am Morgen niemand außer ihm. Doch zu Ottos Erstaunen saß dort an diesem besonderen Tag bereits ein anderer. Es war ein recht alter, gebeugter, weißhaariger Mann. Neben sich hatte er einen ledernen Rucksack stehen, aus dem er ein Brettchen mit Käse und Wurst, sowie eine Flasche Bötzinger ausgepackt hatte. Das Brot daneben war noch warm.

    „Was ist denn das für einer?, schoss es Otto durch den Kopf. Freundlich winkte ihn der Alte, der den Ankommenden schon von weitem gesehen hatte, zu sich her: „Komm, setz dich ein bisschen zu mir. Da Otto vom Aufstieg in dieser ungewöhnlich heißen Morgensonne, zumal nach getaner Arbeit, bereits etwas müde war und ohnehin vorgehabt hatte, sich auf der Bank niederzulassen, nahm er die freundliche Einladung an.

    „Hier sitze ich fast jeden Morgen, begann der Alte. „Hier oben kann man sich ausruhen und sich die schönsten und skurrilsten Geschichten ausdenken. Er schnitt den Emmentaler in schmale Stäbchen. „Soll ich dir eine erzählen?"

    „Warum nicht?", entgegnete Otto überrascht. Eigenartig fand er, dass er den anderen an diesem Ort noch nie zuvor gesehen hatte, obgleich er selbst schon seit Jahren regelmäßig dorthin kam, egal ob es regnete oder schneite. Was hätte er auch entgegnen sollen? Der andere hätte behaupten können, dass er Otto auch noch nie dort gesehen habe. Ein solches Wortgefecht hätte ohnehin zu nichts geführt, zumal es so früh am Morgen war. Die rote Bank war noch von Tau benetzt. Zeit zum Zuhören hatte er ja. Weil er auch sonst immer für Neues offen und Unbekanntem gegenüber aufgeschlossen war, ließ Otto sich darauf ein. Der bärtige Alte forderte ihn mit einem schelmischen Augenzwinkern dazu auf, sich einen Becher Roten einschenken zu lassen, und Otto nahm auch dankbar eine Scheibe Lyonerwurst und den Anschnitt des Bauernbrots an. Immerhin hatte er noch nicht gefrühstückt. Aber einen Rotwein so früh am Tag? Warum eigentlich nicht!

    „Also…, begann jener Sonderling entspannt, lehnte sich, die Morgensonne einatmend, zurück und schmunzelte. „Dann fangen wir mal an! Dies ist die, wie ich zugeben muss, höchst eigenartige Geschichte von Walter Denzel und seinem Freund, dem Hägele. Einen Vornamen hatte der nicht. Was sie zusammen gemacht haben und was jeder für sich allein erlebt hat. Vom Anfang bis zum bitteren Ende. Willst du die Geschichte hören? Ich muss dich aber warnen. Sie ist nicht leicht zu verdauen. Diese Warnung machte es für Otto nur noch spannender. Er nahm einen ersten Schluck, spürte, wie der Wein anregend durch die Kehle rann, und nickte zustimmend, ganz in Vorfreude auf eine unterhaltsame Geschichte. Dann begann der Alte zu erzählen.

    2

    An einem fernen Sonntagmorgen, sehr früh, und lange bevor man sich zum gemütlichen Frühstück begibt, lag Walter Denzel im Bett, schloss seine Augen und flüsterte lächelnd „Ach, was soll’s!"

    Hat alles so kommen müssen, wie es gekommen ist? Wie, frage ich dich, hätte Walters Leben anders verlaufen und anders enden können? Warum ist so viel den Bach runter gegangen? Und wie kommt es, dass ein Blödsinn, den man als Junge gemacht und den man schon längst vergessen hat, einen genau dann einholt und sich rächt, wenn man am wenigsten damit rechnet? Dies ist das Unergründliche unseres Lebens. Und dennoch ist am Ende Walters Geschichte alles gut. Doch schauen wir zunächst einmal auf seinen Freund!

    3

    „Das bist du gewesen, sagte Rita und tippte mit spitzem Finger auf einen der Jungen auf dem verblichenen Foto, für das sich die D3-Fußballmannschaft des FC 09 für ein Erinnerungsbild aufgereiht hatte. „‘1961‘ steht hinten drauf. Und all diese Namen: Holzinger, Betz, Schnorrenberger, Ehrenschneider, Diener, Gommeringer, Regenscheit, Denzel, Reutlinger und so weiter. Und du. Schön, wie du da lachst! Sie hielt das Foto lange vor ihren Augen. Dann begann sie unter Tränen zu schluchzen und ließ es in den Abfallkorb fallen, der neben Hägeles Krankenhausbett stand.

    Hägele verstand sowieso nichts mehr. Er war knapp drei Monate im Koma gelegen, seit Januar 2029. Seine Hausschuhe hatten sie ihm schon gar nicht mehr neben das Bett gestellt. Er galt nur noch als palliativer Fall. Nun war der Tag gekommen, an dem man ihm helfen würde, würdevoll in eine andere Welt hinüberzugehen. Er konnte nicht mehr selbständig atmen und seine leeren Pupillen starrten stechend an die graue Decke, wie wenn von dort Hilfe zu erwarten gewesen wäre.

    Man konnte ihn mit einer Kanüle stechen, er spürte nichts mehr. Auch ein Elektro-Enzephalogramm, welches noch am Morgen gemacht wurde, um ganz sicher zu gehen, hatte gezeigt, dass in seinem Gehirn kein Strom mehr floss. Es gibt aber kein Gerät, welches messen könnte, ob da noch Gedanken, Träume und Hoffnungen umherschwirren. Ein solcher Apparat hätte, wenn überhaupt von irgendwem, nur von Hägele erfunden werden können. Zwei besorgt dreinschauende Ärzte standen mit verschränkten Armen im Zimmer, mehr als Beistand für Rita. Für Hägele konnten sie nichts mehr tun. Eine hübsche polnische Krankenschwester stand ebenso ratlos und verlegen umher. Rita weinte schniefend, weil ihr bewusst war, dass sie gleich vom einzigen Freund, den sie die letzten Jahre gehabt hatte, der sie seit ihrer Scheidung so behandelt hatte, wie sie es sich ihr ganzes Leben lang gewünscht hatte, Abschied nehmen musste. Einer der Ärzte blickte einem nach dem anderen der Anwesenden tief in die Augen, nickte vielsagend, mit gekniffenen Lippen, um dann den Ausschaltknopf des Beatmungsgerätes zu drücken.

    Draußen war Frühlingserwachen. Bad Schandau hatte einen milden Winter erlebt. Im Park des Krankenhauses schossen grazile Schneeglöckchen, violette und gelbe Krokusse, tomatenrote Tulpen, knallbunte Primeln und leuchtende Narzissen aus dem lockeren Boden, vereinzelt auch ein paar Stiefmütterchen. Die ersten Honigbienen summten, noch träge, durch die Luft und am hellblauen Himmel gab es nur einen kleinen weißen Fetzen, wie Zuckerwatte, die Hägele als kleiner Junge auf dem Jahrmarkt so gerne gehabt hatte. War dies die sanfte Ruhestatt, die Hägeles Seele aufnehmen würde?

    Als der rote Strich, der die Herzfrequenz anzeigt, immer weniger ausschlug und nur Sekunden darauf gerade verlief, wie mit dem Lineal gezogen, brach aus Rita ein Tränenstrom los. Der Patientenmonitor gab einen schrillen Pfeifton von sich, um zu bestätigen, dass Hägele für immer gegangen war.

    Was sich niemand hätte vorstellen können, was jeder Theorie zum Hirntod entgegenläuft, was keiner je wissen wird: Unser Hägele hatte noch das Vergnügen, sich seinen letzten Film anzuschauen. In Sekundenbruchteilen und doch fast unendlich lang. Sein ganzes Leben, 79 verlebte Jahre, rauschten an ihm vorbei. Er durfte alles noch einmal sehen.

    4

    Das Waldhorn, jenes Überlinger Gasthaus an der Ausfallstraße nach Lippertsreute, kurz bevor es den Burgberg hinaufgeht, hatte es schon länger gegeben, bevor Robert Denzel es als Wirt übernahm. Er war vom Oberschwäbischen hergezogen, nachdem er sich es dort beim Bannführer der Hitlerjugend verscherzt hatte, als diesem einmal von einem gefügigen Denunzianten zugetragen worden war, dass einer der Pimpfe gesehen hätte, wie Denzel nachts an die Tür der Kreisleitung uriniert habe. Ob er es aber tatsächlich auch gewesen sei, wurde indes nie geklärt. Es war dunkel und es hätte durchaus ein anderer sein können, der sich am falschen Platze erleichtert hatte. Aber immer muss einer der Schuldige sein und da Denzel nicht gerade als glühendster Anhänger der Hitler-Partei bekannt war, auch gleich um die Ecke gewohnt hatte und öfters mal nachts unterwegs war, nahm man eben vereinfachend an, dass er es gewesen sei. Jedenfalls werden auf diese Weise Vermutungen fast mühelos zu Gewissheiten und wenn einmal auf einen mit dem Finger gezeigt wird, dann liegt es fürderhin am Angeklagten zu beweisen, dass er nichts gemacht hat, und nicht andersrum.

    „Ich lass dich in die Weissenau stecken", hatte der Bannführer Denzel angedroht, was damals so gut wie den sicheren Tod bedeutet hätte, zumindest aber Gefangenschaft in der Irrenanstalt bis weiß Gott wie lange. Und damals wusste man auch nicht, ob der ganze Spuk nur ein paar Jahre, oder, wie die Nazis herumposaunten, wirklich tausend Jahre dauern würde. Fünf Jahre lang hatten die Hakenkreuzfahnen Deutschland schon beherrscht und keiner hatte eine Ahnung, wohin das Ganze führen könnte. Dies wusste anscheinend nur der Führer selbst. Dachte man.

    In dieser unsicheren Lage übergab der junge Metzger Denzel seinem Meister den Kündigungsbrief, holte sein bescheidenes Gelderbe von der Sparkasse und sagte seiner bezaubernden und treuen Frau: „Erna, wir müssen fort. Sonst wird die Zukunft für uns ganz anders als wir sie gerne hätten." Deshalb kehrten sie ihrer Heimat Ravensburg schweren Herzens den Rücken, um in den Gau Baden zu übersiedeln. Dort kannte man Denzel nicht. Es war noch tiefer Winter als er, zuerst allein, in Überlingen ankam, um dort nach einer Arbeit im örtlichen Schlachthof zu suchen. In einen warmen Filzmantel gehüllt und mit dicken Handschuhen musste Erna noch für das Winterhilfswerk neben dem Mehlsack, dem von weitem bereits erkennbaren weißgetünchten Ravensburger Wehrturm, hölzerne Reichshandwerker-Wappen verkaufen und konnte erst später ihrem Mann folgen.

    Der fast leere Kraftomnibus blieb nach einer langen Fahrt durch die verschneite Landschaft kurz vor der Ankunft in Überlingen auf der Lippertsreuterstraße im kindshohen Schnee stecken. Nichts ging mehr. Der gereizte Fahrer stieß ein wütendes „Heiland Sakrament" aus und konnte das Gaspedal seines Büssing treten, wie er wollte. Der Motor jaulte und die Räder drehten durch. Als sie so feststeckten, bemerkte Denzel das Waldhorn. Das Gasthaus stand leer, seit der ehemalige Wirt, ein Jude, der zurecht das Schlimmste für sich und seine Familie befürchtet hatte, in der Nacht in die Schweiz geflüchtet war. Er muss es wohl recht eilig gehabt haben, wie Robert sehen konnte, als er durch die angelaufenen Scheiben die Lage erkundete, derweil ein herbeigerufener Bauer mit seinem Traktor den Bus aus dem Schnee zog. Alle Möbel waren zurückgelassen worden, die Betten noch frisch überzogen und es standen sogar noch zwei volle Bierfässer der Rossknecht-Brauerei vor dem Tresen.

    Ein paar Tage später, der Plan war flugs gemacht und seine erfreute Erna hatte über den Fernsprecher ihr Einverständnis gegeben, konnte Denzel das Gasthaus von der Stadt, die es in Abwesenheit vom vorherigen Besitzer für kurze Zeit verwaltet hatte, pachten. Bürgermeister Dr. Spreng persönlich, der, wie er selbst sagte, lieber in den Ochsenkeller ging statt in ein Judenlokal, übergab Robert Denzel den Vertrag und die Schlüssel. „Hier! Auf gutes Gelingen! Übrigens: Anfang Februar werden wir zum Narrentreffen mehr als fünfzig Zünfte zu Gast haben, klärte er Denzel auf. „Die Volksgenossen, die zum Treffen kommen, brauchen eine Unterkunft. Es können ja nicht alle in der Seeturnhalle schlafen. Und schon gar nicht draußen im Zelt, bei diesen Temperaturen. Es sind eben doch nicht alle so hart wie Kruppstahl! Dazu lachte er hämisch. Robert musste ihm versprechen, am Wochenende des Narrentreffens die schönsten Räume für die Zunftmeister zu reservieren. „Aber wenn dann noch unangemeldet eine Abordnung der Partei kommt, meinte Spreng, „dann müssen die Fastnachter raus. Politik hat Vorrang! Denzel nickte und dachte sich dabei, dass die Nazis noch mehr Zirkus veranstalten als die Narren. Und das nicht nur an Fastnacht. Aber er sagte es nicht. Er wollte nicht gleich wieder in Ungnade fallen.

    Mit seiner langen Front gegen die Straße stand das Waldhorn präsentabel da. Weintrauben umrankten die Fenster. Hinter einem hellen Steinmäuerchen war ein einladender Biergarten angelegt, wie aus dem Bilderbuch. Wenn man die bunten Brauerei-Fähnchen am Eingang sah, bekam man schon aus der Ferne Durst. Fünf Ahornbäume spendeten einen kühlen Schatten, wenn im Sommer fröhliche Gesellschaften zu Kaffee oder Bier einkehrten.

    Deutsche Landser hatten Polen überfallen, aber das war weit weg. Vor dem Waldhorn plätscherte der Espach lustig vorbei. Manchmal, wenn einer im Biergarten einen zotigen Witz gerissen hatte, konnte man das Lachen und Gejohle sogar noch am Hochbild unten hören. Oben, in der Dachschräge des Gasthauses, befand sich die Wohnung der Denzel. Sie bestand aus zwei Schlafzimmern und einer großen Stube mit Kohleofen. So dunkel wie die Briketts zum Heizen waren, wurde bald auch die Zeit zu Beginn der vierziger Jahre.

    5

    Schon kurz nachdem er das Waldhorn wiedereröffnet hatte, wurde Robert Denzel eingezogen. „Jesus Maria", rief Erna aus, als ihr Mann ihr den Marschbefehl zeigte. Aus der Nachbarschaft warben sie eine junge und agile Frau namens Lina an, die sich um die Gäste kümmern sollte, solange Robert im Krieg war. Zuerst, als gerade die französische Saar-Offensive rollte, wurde er nach Mittenwald zu den Gebirgsjägern abkommandiert, von wo er zwei Mal kurz nach Hause kommen durfte. Aber dann, nachdem der Einmarsch in Frankreich befohlen war, bekam er keinen Urlaubsschein mehr. Nun begann im Waldhorn das Bangen und Warten. Im Gasthaus ging es trotz des Krieges noch hoch her, zumal im Volksempfänger jeden Tag mit trommelnder Stimme militärische Erfolgsmeldungen verlesen wurden. Als am Abend die Gäste gegangen waren, lauschten Erna und Lina auf dem Speicher heimlich dem Radio Beromünster, um zu erfahren, wie es wirklich an der Front steht. Da wurde auch von deutschen Verlusten gesprochen und die beiden Frauen machten sich Sorgen um Robert.

    Endlich bekam Erna eine Feldpostkarte aus Sedan, von wo ihr Mann berichtete, dass der Westfeldzug schnell vorankäme und dass es ihm gut ginge.

    Nur sechs Tage später, beim Vorstoß der zweiten Panzerdivision auf die Kanalküste, fiel er, gottseidank, muss man im Nachhinein sagen, in einem Dorf bei Abbeville, als er in der Dunkelheit zum Pissen nach draußen ging, in eine offene Jauchegrube und brach sich dabei den Oberschenkel.

    Am nächsten Morgen, es war ein schöner Maientag, es waren keine Granateneinschläge zu hören, wurde er ins Lazarett gefahren. Seine Kameraden erreichten den Ärmelkanal. Nur zehn Kilometer davor hatte es Denzel erwischt. Dabei hätte er so gerne einmal das Meer gesehen, dem Rauschen der Wellen gelauscht und war während des ganzen Vormarsches gespannt, ob die salzige Meeresluft tatsächlich so gut für die Lunge sei, wie es ihm die Mutter eines kleinen Franzosen erzählt hatte, der früher einmal gegenüber von Denzels in Ravensburg gewohnt hatte. Aber so ist es damals für den verwundeten Robert nichts mit dem Meer geworden. „Am schwäbischen Meer ist es doch auch schön", tröstete ihn Erna später, nach dem Krieg, und kraulte zärtlich seinen Nacken, wenn er manchmal, gedankenverloren und mit traurigem Blick, auf einer Parkbank am Gundelehafen saß und sehnsüchtig über das Wasser blickte. Danach kam er kaum mehr aus Überlingen und dem Waldhorn heraus. Bis zu jenem besonderen Tag im Jahr 1960. Aber bis dahin sollte noch viel Wasser den Bach hinunterlaufen.

    6

    Große haarige Nasenlöcher. Das war das Erste, was Walter von der Welt zu sehen bekam. Als er seine Augen öffnete, hatte ihn Glöckler auf dem Arm. „Erna!, rief dieser, „Erna! Der Kleine macht die Augen auf! und rieb seinen feuchten Riechkolben an Walters Näschen. Polternd, außer sich vor Freude, eilte Erna Denzel vom Klo zurück ins Zimmer. Beinahe wäre sie dabei über den Türbalken gestolpert und der Länge nach hingeknallt. „Gib her!, rief sie und riss Glöckler das Baby aus dem Arm. Sie setzte sich auf den knorrigen Schaukelstuhl, herzte den Säugling und war so glücklich, wie man es als Mutter eines Neugeborenen nur sein kann, zumal dieser nur halblebig auf die Welt gekommen war und man nicht wusste, ob er durchkommen würde, oder nicht. Die Klospülung rumorte noch, da kam auch schon, von Glöckler alarmiert, von draußen der Vater hereingestürzt. Ungläubig starrte er den kleinen Walter an. Seine Pranken, die dem Neuankömmling zärtlich über das weiche Kopfhaar strichen, waren dreckig vom Umgraben im Garten, in dem er jedes Mal im Frühjahr Buschbohnen pflanzte. Er hängte seine verwaschene Wehrmachts-Mütze, die er jeweils beim Arbeiten im Freien trug, an den Haken, legte seiner Frau die Hand auf die Schulter und sagte: „Jetzt ist alles gut. Ich dachte schon, der packt das nicht. Zwei Tage lang hat das Kind die Augen nicht öffnen wollen! Als ob er nichts vom Leben sehen wollte. Die Eltern blickten sich erleichtert an und lächelten. Walter aber nicht. Der verstand das Ganze um ihn herum noch nicht.

    Man hatte es nicht leicht, damals in Überlingen. Auch noch fünf Jahre nach dem Krieg gab es in den Läden noch nicht alles, oder eben nicht genug, weswegen diejenigen, welche es konnten, hinter dem Haus das Nötigste selbst anbauten. Bei den Denzel gab es Beete für Bohnen, Kartoffeln, gelbe Rüben und Schwarzwurzeln. Weiter hinten im Garten thronte ein mächtiger Birnbaum, dessen Früchte aber eher zum Mosten als zum Verzehr geeignet waren. Daneben standen noch ein Mirabellen- und zwei Kirschbäume. „Die gelben Kirschen sind die Besten, pflegte Vater Denzel zu sagen, „die roten Hedelfinger schmecken nicht und davon gibt es nur Dünnpfiff und Bauchweh. Das Überschüssige, das der Garten hergab, brachte die emsige Mutter zweimal wöchentlich zum Markt, von wo sie dann mit Milch und etwas Fleisch, wenn es denn welches gab, sowie ein paar Eiern zurückkam. Das Brot buk man selbst, dafür gab es neben dem Haus ein Backhäuschen. Schließlich musste man den Gästen, die zum Essen, Trinken, oder manchmal auch zum Übernachten ins Waldhorn kamen, ja auch etwas bieten. Die ganze Nachbarschaft roch es, wenn es frisches Brot gab und dann kamen sie immer, wie zufällig, rüber, um angeblich zu schauen, wie es denn so ginge. Sie mussten aber nicht darum betteln, Erna Denzel schnitt ihnen immer gern ein großes Stück vom warmen Brotlaib ab. Teilen tun die, die es können, das ist ganz selbstverständlich, und so ist es bei den Denzel schon immer gewesen.

    Der alte zotige Glöckler, der eigentlich nur hergetrottet war, um seinen Bierkrug füllen zu lassen, dann aber von Erna dazu verdonnert worden war, auf den Kleinen aufzupassen, solange sie sich erleichtern musste, verzog sich auch wieder. Man ließ ihn in der Nachbarschaft ohnehin nie gern mit Kindern allein, weil man glaubte, dass er nicht ganz bei Trost war, und man bei solchen nie genau wissen könne.

    7

    „Vorsicht! Lauft weg!", rief der Altbauer Lohr den beiden jungen Tratschweibern zu, die gerade aus dem Wald mit einem Korb Reisig zum Anfeuern auf den Hof zurückkamen. Mit lautem Krachen stürzte der Turm der St.-Michaels-Kirche in sich zusammen. Sie kreischten vor Panik, ließen ihre Körbe fallen, hasteten fort, und beobachteten mit offenen Mündern aus sicherer Entfernung, wie es staubte. Schnell verschwanden sie in ihren Kammern und sagten nichts, sodass niemand sie für schuldig halten konnte. Die Kirche war rundum stark beschädigt. Aber man war es ja gewohnt, dass alles in Trümmer fällt, auch noch fünf Jahre nach dem Krieg.

    Am nächsten Morgen, genau in dem Moment, als man damit begann, mit einer Raupe den Schutt der Kirche von der Straße zu schieben, als die Aufkircher schon mit Besen und Schaufel parat standen, um den restlichen Staub zusammenzukehren, kam in der Lippertsreuterstraße, am anderen Ende der Stadt, im Haus der Hägele, ein Junge zur Welt. Der Kleine schrie wie am Spieß, als ob er gewusst hätte, in was für ein Leben er da geworfen wurde. Als wenn er schon im Voraus für alles litt, was in den Jahren bis 2029 noch über ihn herfallen sollte.

    Außer an einen Teddybären, der einmal genauso klein wie er selbst war, konnte sich Hägele später an nichts mehr aus seiner frühesten Kindheit erinnern. Nicht an die Zärtlichkeit seiner Mutter, wenn sie ihn glückselig in ihren Armen wiegte und Lieder summte, die zum Ausdruck brachten, wie weh es ihr ums Herz war, in jener schweren Zeit nach dem verlorenen Krieg, aber andererseits auch, wie sie entschlossen nach vorn schaute, um aus diesem Loch wieder herauszukommen. Auch erinnerte sich Hägele nicht daran, wie schwer sein Vater damals beschäftigt war, wie er frühmorgens mit Farbkübeln und einer Leiter auf dem Fahrrad wegging, um irgendwo eine Hauswand oder Stubendecke zu streichen. Der, der immer eine lustige Melodie pfiff, wenn er dann endlich nach Hause kam, nachdem die Sonne schon längst untergegangen war. Wie er sich an den wackligen Tisch setzte und dankbar die Linsensuppe löffelte, die ihm die Mutter hingestellt hatte. Dazu eine Scheibe Bauernbrot und ein gestauchtes Bier, das er auf dem Heimweg vom Raben mitgebracht hatte.

    Für einen Maler wie den alten Hägele lief es zu jener Zeit, als vieles noch in Schutt und Asche lag, ganz gut. Der Wiederaufbau machte sich auch in Überlingen bemerkbar. Nur wenige Gebäude hatten Schäden erlitten, abgesehen von einem Haus in der Krummebergstraße, das während des Einmarschs der Franzosen zerstört wurde, und denjenigen in der oberen Bahnhofstraße, die von amerikanischen Flugzeugen bombardiert wurden. Das Eckhaus der Löwenzunft auf der Hofstatt war ebenfalls in Flammen aufgegangen. Der wahre Schaden lag weniger in den beschädigten Gebäuden als vielmehr im Inneren der Menschen. In den frühen 1950er Jahren, als die Wirtschaft wieder Fahrt aufnahm, investierte Überlingen erheblich in den Bau neuer Schulen und in die Erweiterung des Yachthafens. Später baute man dort, wo sich die KZ-Außenstelle befunden hatte, ein neues Krankenhaus. Die anfallenden Bauarbeiten waren für die einheimischen Handwerker wie eine gemähte Wiese. Man hatte viel zu tun und konnte sich von den Aufträgen auch bald wieder etwas leisten, einen saftigen Braten, nicht nur am Sonntag, einen Heinkel- oder Messerschmitt-Kabinenroller, eine Isetta, oder einen Goggo.

    8

    Die Tage waren inzwischen länger und wärmer geworden, Walter wuchs heran, die Leute kehrten ein und der Biergarten war gut besetzt. Am Wochenende kamen gelegentlich auch französische Soldaten, weniger wegen des Essens, sondern vielmehr wegen der Mädchen, die darauf warteten, von einem von ihnen zum Tanzen aufgefordert zu werden. Lieber wäre es diesen Backfischen aber gewesen, wenn ein schnittiger GI der Amerikaner im Jeep mit lauter Rock’n’Roll-Musik aus dem Transistorradio vorgefahren wäre. Doch darauf mussten sie vergebens warten. Erna und Lina, die dickste Bedienung in der gesamten Umgebung, hatten immer viel zu tun, um die Gäste bei Laune zu halten. Vater Denzel hingegen verbrachte seine Zeit entweder in der Küche beim Schaben der Spätzle oder am Zapfhahn, um Bierkrüge zu füllen.

    Walter krabbelte in seinem Bettchen herum und schaute sich von dort aus neugierig die Welt an. Seine Mutter hatte einen Kalender des Lahrer Hinkenden Boten an die Wand gehängt. Auf einer Holztafel über der Kommode war eine Bauernregel eingraviert: „Warmer Oktober bringt fürwahr, stets einen kalten Januar." Walter konnte zu dieser Zeit noch nicht lesen, und als er Jahre später in der Lage war, den Spruch zu entziffern, verstand er noch immer nicht, was es bedeutete. Erst sehr viel später. Da war dann schon Kiesinger Ministerpräsident.

    Das Wirtschaftswunder geschah fast wie von selbst, alle schafften wie die Brunnenputzer. Dies zog noch mehr Gäste in das Waldhorn, und seine Eltern investierten in ein neues Sofa und einen Nierentisch für das Wohnzimmer, dazu eine Tulpenlampe und einen echten Gummibaum aus Brasilien.

    Auf einem kleinen Tischchen im Flur lagen immer der Südkurier vom Vortag, alte Quick-Illus, das Konradsblatt und ein Neckermann-Katalog für die Feriengäste aus. Außerdem gab es Postkarten, die die Gäste für 10 Pfennig erwerben konnten. Auf diesen Postkarten war das Waldhorn abgebildet, zusammen mit Vater und Mutter.

    Im Schlafzimmer der Eltern hatte Walter sein Bettchen, das mit einem Schutznetz aus geflochtener Schnur versehen war, damit er nicht herausfallen konnte. Dort saß er oft mit seinem Teddybär Zotti und dem Igel Mecki und wartete darauf, dass er größer wurde. In dieser Zeit hatte er nicht viel zu tun. Erst als er älter wurde und bereits laufen konnte, bekam er sein eigenes Zimmer, was damals nicht selbstverständlich war. Der Junge war sehr stolz darauf!

    In der Küche der Denzel-Wohnung stand neben der Eckbank ein weiß emaillierter Herd mit einer umlaufenden Handtuchreling und kunstvoll verzierten Eisenfüssen. Im Winter war es dort immer am wärmsten und dort wartete Walter auch immer darauf, dass ihm seine Mutter auf der Herdplatte einen Bratapfel machte. Von dem schnitt sie dann jeweils ein großes Stück ab. „Da, nimm! Und hier hast du noch etwas Vanillesosse dazu", sagte sie zu ihm und reichte ihm dazu noch eine aromatische Zimtstange, an der er gerne leckte.

    Im übrigen Teil des ersten Stockwerks und im gesamten Dachgeschoss befanden sich Gästezimmer mit fließend kaltem Wasser. Die Betten hatten Federkernmatratzen, die Walter oft dazu verleiteten, darauf herumzuhüpfen, als ob er vom Hafer gestochen sei. Jedes Mal, wenn Lina beim Zimmermachen Walter dabei erwischte, schimpfte sie: „Du ruinierst mir noch die ganzen Betten!"

    In der Diele befand sich eine Toilette mit Holzbrille sowie ein Gemeinschaftsbad mit einer emaillierten Badewanne und einem hölzernen Badezuber. Warmes Wasser musste man stets vom Herd in der Küche nach oben bringen. Jeden Samstag wurde Walter in dem Zuber von Lina gründlich mit einer Wurzelbürste und Kernseife geschrubbt, ob es ihm gefiel oder nicht. Dabei sang sie ihm Lieder vor. Sein Leben lang konnte er sich an die Strophen erinnern: „Herr Meier kam geflogen, auf einer Flasch‘ Benzin, da dachten die Franzosen, es wär ein Zeppelin. Sie luden die Kanonen, mit Sauerkraut und Speck, und schossen dem Herrn Meier die Unterhose weg. Er dacht‘ er wär gelandet, bei seiner lieben Frau und küsste, aus Versehen, den Arsch der fetten Sau." Danach musste Lina immer Tränen lachen. Sie war überhaupt eine sehr vergnügte Person.

    Im Erdgeschoss war die Gaststube. Auf dem holzgetäfelten Boden war ein verschlissener Rattanteppich ausgebreitet, auf den schon etliche Bierkrüge hinuntergefallen und Zigarrenstumpen mit dem Stiefel ausgedrückt worden waren. Einmal im Monat, oder wenn er zu arg roch, klopfte Lina den Teppich draußen auf der Stange aus. Dabei wirbelte immer ordentlich Staub auf, und anschließend wurde der Teppich wieder in der Gaststube ausgelegt. Die Mutter meinte, es wäre vielleicht an der Zeit, einen neuen Teppich anzuschaffen. „Warum auch? Das kostet doch nur Geld! Solange es das Alte noch tut, geht es doch", erwiderte der Vater.

    Um den dunklen hölzernen Stammtisch standen lustig gedrechselte Stühle. Auf den Tisch stellte Erna gerne kleine Vasen mit Blumen aus dem Garten, dazu drei klobige Porzellan-Aschenbecher mit der Aufschrift „Asbach Uralt. Dahinter prangte die lange Theke mit der Zapfanlage und dem Spülbecken. Von dort aus schaute ein großer Gartenzwerg mit weißem Bart und roter Kappe verschmitzt auf den Stammtisch. Man konnte sich nur vorstellen, was dieser Gartenzwerg schon alles gehört hatte und über welche Themen dort gesprochen wurde! Auf dem Weg zum Hinterausgang, dem Gang zum WC, war ein Kleiderständer, an den der alte Schappeler immer sorgfältig seinen Spazierstock hängte. Und auf der Hutablage ließ Stammtischbruder Schirrmeister, wenn er berauscht hinaustorkelte, ab und an seinen Zylinder liegen. Dort lag auch für lange Zeit ein Gamsbart, der einmal von einem Hut gefallen war. Mit diesem rieb sich Walter gerne an der Nase, weil das so schön kitzelte. „Hör auf, der ist dreckig!, rief die Mutter vom Tresen herüber. Weiter hinten im Flur war ein Zigarettenautomat. Walter inspizierte gerne die Fächer und überlegte, warum einige davon noch gut gefüllt, andere aber bereits leer waren. Die glänzenden Päckchen gefielen ihm: Atika, HB, Ernte 23, Reval, Juno, Salem, Lux, Roth-Händle, Peter Stuyvesant, und wie sie alle hießen. Nur die Rössli-Stumpen waren zu lang für den Automat, die musste sich Herr Schappeler immer am Tresen holen.

    Neben dem Stammtisch gruppierten sich sechs kleinere Tische für jeweils vier bis fünf Personen. Wenn am Sonntag nach der Kirche die Bauern von Andelshofen runterkamen, schoben sie stets einige dieser Tische zusammen, weil sie sich nicht an den Stammtisch der Überlinger setzen durften. Und dies, obschon Andelshofen bereits lange eingemeindet war. Man hat sich eben nicht gerade gemocht.

    Unter der hoch oben an der Decke hängenden Kienzle-Uhr, die Walter, wenn sie mal wieder stehen geblieben war, in Strümpfen auf einer Leiter balancierend, aufziehen musste, befand sich ein verglaster Durchgang zum Nebenzimmer, der guten Stube. Diese war mit teuren Möbeln, schweren Vorhängen und schneeweißen Gardinen ausgestattet. „Da darfst du nicht rein", wurde Walter des Öfteren vom Vater gemahnt, was dieses Zimmer für den Buben jedoch nur noch interessanter machte. Doch er traute sich nicht, es zu betreten. Er war schon immer aufgewühlt und glücklich, wenn Lina ihn bat, ihr den Korb mit den frisch gestärkten Tischdecken dorthinein zu tragen. Im Nebenzimmer wurden ab und zu Feste gefeiert, auch Hochzeiten. Einmal ergatterte Walter ein großes Stück Sahnetorte, das er dann heimlich draußen hinter dem Backhäuschen verschlang, worauf er Bauchweh bekam. Das Nebenzimmer war ausstaffiert mit hübschen gestreiften Tapeten, einigen gerahmten Bildern vom Bodensee und einem mittelalterlichen Stich von Überlingen.

    In der Ecke, in der ein Hindenburg-Porträt hing, stellte Vater Denzel später einmal einen Telefunken-Fernseher auf. Bei jedem Spiel der deutschen Mannschaft an der Fußballweltmeisterschaft drüben in der Schweiz war das Nebenzimmer genagelt voll. Nach dem 3:8 gegen Ungarn weinten alle. Denzel gab zum Trost eine Runde Freibier aus. Das Bilger Lager aus der Bügelflasche besänftigte die Gemüter schnell wieder, nur der verwirrte Glöckler saß noch lange kopfschüttelnd da und murmelte immer wieder vor sich hin: „Aus! Es ist aus!"

    Nur zwei Wochen später trafen beide Länder erneut im Finale in Bern aufeinander. Abends um Viertel vor Sieben, als die aufopfernd spielenden Deutschen das 3:2 über die Zeit gerettet hatten, brachen im Waldhorn alle Dämme. Sie jubelten und tobten. Schappeler tanzte mit Lina auf dem Tisch, und der kleine Walter kam eilig aus dem Garten hereingerannt, da er glaubte, es sei etwas Schlimmes passiert. Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt. Man hätte denken können, wir hätten den Krieg doch noch gewonnen und wären in Moskau einmarschiert. Denzel schenkte natürlich wieder Freibier aus. Nicht nur eines. „Trinkt, Leute, trinkt!", rief er in die Runde. Die Gäste ließen sich nicht lumpen und veranstalteten ein Austrinken. Das war auch der Grund dafür, warum die Sohlen von Linas Sandalen am nächsten Morgen durchgelaufen waren.

    Im Fernsehen wurde angekündigt, dass die Mannschaft am nächsten Tag mit einem Sonderzug von Thun nach München reisen würde. Und wie es der Zufall wollte, war an jenem Abend auch ein Zöllner aus Jestetten im Waldhorn dabei. „Wisst ihr, was?, meinte er. „Wir halten den Zug an und wenn wir dafür das Gleis blockieren müssen! Damit schnappte er sich seine Jacke und bretterte auf seiner schwarzen BMW mit Seitenwagen nach Hause. „Kommt, da müssen wir auch hin!, brüllte der Nachbar Hauber. „Lasst uns unsere Helden empfangen! Früh am kommenden Morgen fuhren dann Schappeler und Denzel zu zweit, denn Hauber war nicht auffindbar gewesen, mit einem Brezelkäfer nach Jestetten. Dort angekommen, fanden sie den Bahnhof bereits überfüllt von aufgeregten Menschen und kreischenden Kindern. Die Menge drängte sich zum Gleis. Viele schwenkten Fahnen und waren in bester Stimmung nach ein paar Gläschen. Plötzlich brach donnernder Jubel aus, als in der Ferne der dunkelrote Triebwagen erschien. Da gab es kein Halten mehr! Alle liefen dem Zug entgegen. Schon von weitem konnte man Max Morlock winken sehen, und der Lärm der Menschenmenge wurde immer ohrenbetäubender. Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein und kam schließlich zum Stillstand. Aufgrund der Menschenmenge hätte er ohnehin nicht weiterfahren können. Auf den Zug war groß „Fußball-Weltmeister 1954 gepinselt. Die Helden hatten deutschen Boden betreten! Alle wollten die Hände der Spieler schütteln, Autogramme erheischen und die Polizei stand machtlos daneben. Nur einem, der „Deutschland, Deutschland über alles skandierte, wurde auf den Mund geschlagen. Noch als Fritz Walter mit dem Pokal am Zugfenster stand, Rahn ein Mädchen, welches über eine Räuberleiter bis ans Fenster gelangt war, abbusselte, pfiff der Zug auf einmal, machte einen Ruck, und die Fahrt ging, nach nur fünf Minuten, weiter gen Singen. „Dies ist einer dieser seltenen Höhepunkte im Leben", dachte sich Vater Denzel und steckte stolz das unterschriebene Mannschaftsbild ein, das Toni Turek ihm gereicht hatte.

    In den nächsten Tagen wurde im Waldhorn gründlich aufgeräumt. Langsam kehrte wieder Ruhe ein. Die Spatzen, die am Sonntag durch das Geschrei erschreckt worden waren, wagten sich zurück zu den Tischen im Biergarten, um Brotkrümel zwischen den Kieselsteinen aufzupicken. Der vierjährige Walter spielte im hinteren Garten mit einem Holzschwert und kämpfte gegen imaginäre Kreuzritter. Als er dabei die Kohlrabi-Blätter abschlug, bekam er von seiner Mutter eine Ohrfeige.

    9

    Seine Mutter hätte ihn gerne in den Kindergarten gebracht, um mehr Zeit und Ruhe für sich zu haben. Aber Hägele wollte nicht. Als sie ihn dort abgeben wollte, keifte und tobte er, heulte Rotz und Wasser. „Nehmen Sie bloß wieder mit!" sagte die Oberin des Kindergartens zu seiner Mutter und war erleichtert, als diese sich mit dem ungezogenen Balg wieder davongemacht hatte.

    Zu dieser Zeit kam Albert. Als der kleine Hägele einmal tagträumend am Fenster saß und hinaus auf den Tannenbaum blickte, dessen Zweige vom warmen Wind sanft hin und her gewiegt wurden, ein junger Junikäfer im Gartenbeet Flugversuche unternahm und beim ersten Abheben gleich von einem Spatzen, der wie ein Stuka angeschossen kam, gefressen wurde, gab es plötzlich einen Knall. Ein Eichhörnchen war vom Dach auf den blechernen Fenstersims gesprungen. Es schaute Hägele mit Kulleraugen an. Eichhörnchen waren dessen Lieblingstiere. „Ich weiß, dass du mich magst, sagte das Eichhörnchen selbstbewusst. Da zuckte der kleine Hägele zusammen. „Na sowas, du kannst ja sprechen! „Na klar, was denkst denn du? Du doch auch, gab das Eichkätzchen schlagfertig zurück und hüpfte mit einem flinken Satz auf Hägeles Schulter. Dann flüsterte es ihm ins Ohr: „Ich bin Albert. Das darfst du aber niemandem verraten! „Hallo Albert!, erwiderte Hägele belustigt und streichelte das Köpfchen des rostroten Tiers. „Hör zu, eines muss ich dir sagen: du bist ein armer Kerl, meinte Albert, sprang auf den Tisch, auf dem eine Schüssel mit Haselnüssen stand und stopfte sich zwei davon in seine Backen. „Dein Leben wird leider schwer werden. Das hat der Allmächtige so bestimmt, denn er kann nicht gut zu jedem sein. Es muss auch welche geben, die weniger Dusel im Leben haben, denn sonst würden die, denen es gut geht, das, was sie haben, gar nicht genug schätzen. Und um dir dies zu sagen, hat er mich geschickt. Aber er lässt keine einzige Seele fallen, deshalb hat er mir aufgetragen, dir beizustehen, dir zu helfen und dein Freund zu sein. „Warum darf ich nicht glücklich werden, fragte Hägele traurig. „Das kann ich dir nicht sagen, das wirst du schon noch sehen, sagte das Eichhörnchen verschmitzt, krabbelte zurück auf Hägeles Schulter und zupfte an seinem Wollpullover. „Man hat mir dort oben so ungefähr erklärt, wie es dir im Leben ergehen wird. Alles folgt einer Vorsehung und einem größeren Plan. Du musst einfach dein Leben selbst in die Hand nehmen. Du wirst viele Entscheidungen treffen müssen, und viele davon werden falsch sein, aber einige wenige werden auch richtig sein. Und ich kann dich beraten, damit es nicht zu krumm für dich läuft. Ab nun bin ich dein Begleiter. Bis zum Ende.

    10

    Soweit sie sich zurückerinnern konnten, waren Hägele und Walter Denzel schon immer Freunde gewesen. Sie konnten sich später nicht mehr genau erinnern, aber Walter glaubte, sie hätten sich kennengelernt, als beide im Alter von etwa drei Jahren vor ihren Häusern auf den gegenüberliegenden Gehwegen standen und der Teermaschine zuschauten, wie sie einen neuen Straßenbelag auftrug. Der warme Teer roch so gut! So ganz anders, nach einem exotischen Land. Walter hatte den Gedanken, einen Fußabdruck in den noch weichen Teer zu stampfen, ähnlich wie es freche Jungen oft auf frisch gegossenen Betonwegen taten. Doch er fürchtete, dass sein Schuh in der heißen, schwarzen Masse steckenbleiben oder schmutzig und klebrig werden könnte, was bestimmt zu einer Strafe zuhause führen würde. Hägele schien ähnliche Bedenken zu haben. Daher standen die beiden nur da und beobachteten, wie die Dampfwalze heranrollte und eine perfekt glatte Oberfläche hinterließ. Der Dampfwalzenfahrer, der dort oben in der Hitze im verschwitzten Unterhemd thronte und einen Stumpen rauchte, war Hägeles Held. So hatte er auch einmal werden wollen.

    „Bist Du von Denzels?, rief Hägele über die Straße, und Walter, der schon lange verstohlen hinübergeschaut und darauf gewartet hatte, dass ihn der andere anspricht, nickte. Als der Teer dann etwas fester war, eilte Hägele auf die andere Straßenseite und stellte sich neben Walter. So begannen die beiden Knaben, über Walzen, Planierraupen und Bagger zu fachsimpeln. Den alten blauen Seilbagger mit Rädern mochten sie lieber als den fabrikneuen Liebherr Hydraulik-Raupenbagger. Da waren sie sich einig. Der Gelbe hatte noch keine einzige Beule, während man dem Blauen ansehen konnte, was er schon alles weggeschafft hatte. Am nächsten Tag rissen Bauarbeiter einer anderen Firma die Straße wieder zur Hälfte auf, da man vergessen hatte, neben dem Abwasserkanal auch neue Röhren für die Stromleitung einzuziehen. Die beiden Buben waren köstlich amüsiert. „Wie kann man denn nur einen solchen Riesenblödsinn machen, kommentierte Walter, „können die nicht planen?" Dann rief Hägeles Mutter, die vom Fenster aus freudig beobachtet hatte, wie die Lausbuben dabei waren, sich anzufreunden, die beiden herein, um von ihrem selbstgebackenen Marmorkuchen zu kosten.

    11

    Hinter dem Haus des alten Hägele gab es einen Schuppen, in dem er seine Malersachen aufbewahrte. Dort türmten sich halbvolle Farbeimer, eine Vielzahl von Pinseln, Abtönpasten, Farbrollern, Waschbenzin, Abstreifgittern, Vlies, Spachteln, Rührhölzern, Malerkitteln und Leitern. Da trieben sich Hägele und Walter gerne herum. So viele interessante Dinge! Der Vater hatte ihnen eingebläut, dass die beiden dort nichts verloren hätten. Deshalb hatten sie sich immer heimlich hineingeschlichen. Sie mussten nur darauf achten, nichts zu verschütten. In der Ecke stand ein verstaubtes Holzregal mit verbeulten Blechkanistern. Seitdem Hägele einmal einen davon aufgeschraubt hatte, veränderte sich sein Leben. Der Nitroverdünner roch streng und verführerisch zugleich. Der Duft durchdrang ihn wie ein Stich, der direkt durch die Nase ins Gehirn ging. Er wurde angenehm müde und ihm ward schwindlig, wie von einem Schwips, den er damals nur von vergorenem Suser kannte. Mit der Zeit fanden die beiden Spitzbuben heraus, wie lange und wie stark man davon einatmen konnte, ohne danach Kopfschmerzen zu bekommen oder eine gereizte Schleimhaut in der Nase und ein Kratzen im Rachen zu verspüren. So erlebten sie manchmal den ganzen Nachmittag in einem Ätherrausch. Als es nachließ, frischten sie gerne wieder auf. Dann stiegen bunte Bilder, wirre Formen und Regenbogen in ihnen auf, alles um sie herum verschwamm, und sie lallten nur noch. Das trieben sie eine ganze Weile lang, bestimmt über ein Jahr, bis Walter einmal sein Erbrochenes über die ganze Scheuer verteilte. Hägele konnte von diesem Stoff nie mehr ganz loskommen. Auch als er erwachsen war, hatte er öfter ein Fläschchen Frillo Teerentferner griffbereit.

    „Mein Gott, mach doch nicht einen solchen Mist, rief Albert einmal Hägele zu, als der Schwindel in seinem Kopf gerade langsam nachließ. „Sich zu betäuben ist keine Lösung. Im Leben müssen wir uns den Herausforderungen stellen, anstatt vor ihnen zu fliehen. Du wirst schon noch sehen! „Red‘ du nur, dachte sich Hägele. „Walter! Siehst Du das Eichhörnchen?, winkte er seinen Freund her. „Dort oben im Dachgebälk! „Ein Eichhörnchen? Von wegen. Du hast wohl zu viel von diesem Zeug inhaliert!, lachte dieser. „Jetzt siehst du schon Eichhörnchen! Und wahrscheinlich auch bunte Elefanten! „Der kann mich nicht sehen, sagte Albert zu Hägele, „und er kann mich auch nicht hören. Nur du! Ich existiere nur für dich." So sollte es auch sein Leben lang bleiben. Wann immer das Tierchen erschien, konnte nur Hägele es wahrnehmen. Er musste immer aufpassen, wenn er sich mit Albert unterhielt, damit niemand auf die Idee kommen konnte, er hätte einen Dachschaden und würde mit sich selbst sprechen.

    12

    Eine der Glanzleistungen von Hägele und Walter war die Erfindung ihres eigenen Spiels. Das geschah einmal ganz spontan, ohne den Einsatz von Nitroverdünner, als sie an einem Nachmittag Kuchen gegessen hatten. Auf dem Tisch lagen verschiedene Dinge. Plötzlich nahm Hägele das französische Kartenblatt in die Hand, mischte kräftig und hielt Walter den Stapel hin. „Da, zieh eine!, forderte er ihn auf. „Ich ziehe zwei, konterte Walter, und legte eine Pik 7 und einen Schellenbauer auf den Tisch. „Dafür musst du nun eine 3 würfeln!, prostete er Hägele mit einem Apfelschorle zu und rülpste. Dieser nahm den Würfel auf, schlenzte ihn auf den Tisch und lärmte: „Eine Vier. Eins zu viel. Drum muss ich nun einen Ton erzeugen und machte dies, indem er mit dem Kaffeelöffel gegen eine Sprudelflasche schlug. „Süßer die

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