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Mach dir keinen Kopf: Normalsein ist anstrengend
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Mach dir keinen Kopf: Normalsein ist anstrengend
eBook255 Seiten3 Stunden

Mach dir keinen Kopf: Normalsein ist anstrengend

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Über dieses E-Book

Kristina hat schon als kleines Kind Probleme damit, sich der Welt um sie herum anzupassen. Sie scheint einfach nicht richtig zu sein, nicht dazuzugehören, und muss sich extrem anstrengen, um den diversen Erwartungshaltungen zu entsprechen. Dafür kopiert sie vorzugsweise das Verhalten anderer und schlüpft in eine Rolle, die sie zeit ihres Lebens spielt. Das ist anstrengend und fordernd, macht sie angespannt und manchmal auch wütend oder verzweifelt. Es beschert ihr Kopfschmerzen und zehrt an ihren Kraftreserven.
Im Laufe der Zeit lernt sie, wie sie sich ihre Kräfte einteilen muss, und taktet ihr Leben entsprechend. In den jährlichen Sommerferien, in denen Sie mehrere Wochen am Stück sie selbst sein kann, alleine mit sich und der skandinavischen Natur, schöpft sie die Kraft für das nächste Jahr.
Kristina übersteht Jahr für Jahr, wechselt vom Kindergarten in die Grundschule, aufs Gymnasium, macht Abitur, wie sich das gehört, unterhält Freundschaften und sogar Beziehungen, leidet aber trotz ihrer Erfolge im »Dazugehören« mehr und mehr unter dem Stress, den ihr das bereitet, bis hin zu Selbstmordgedanken.

Dieses Buch gewährt einen Blick hinter die Kulisse eines Menschen, der nicht von Natur aus den gängigen Stereotypen entspricht, sodass die gesellschaftliche Integration zur lebensbestimmenden Mammutaufgabe wird. Es soll Menschen mit ähnlichen Problemen dazu ermutigen, an sich selbst zu glauben und zu wagen, anders zu sein, statt sich an dem Wunsch zu gefallen bis zur Erschöpfung abzuarbeiten. Mit dem Glauben an sich selbst und dem Respekt anderer für die eigene Persönlichkeit ist das nicht nötig. Und die Gesellschaft braucht ja auch Menschen mit verschiedenen Persönlichkeiten und Fähigkeiten.
Das Buch richtet sich sowohl an junge Menschen, die aktuell mit diesem Problem zu kämpfen haben und nach Lösungen suchen, als auch diejenigen, die diese Schlacht schon länger austragen: Ihr seid nicht allein.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum22. Dez. 2022
ISBN9783347803862
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    Buchvorschau

    Mach dir keinen Kopf - Silke Fält

    Kapitel 1

    Im Bauch drückt es immer mehr. Es ist stockfinster im Zimmer. Ich kann die Atemzüge meiner Schwester Juliane hören, aber da ist noch etwas … Ein Flüstern. Ein undeutliches Flüstern, sodass ich keine Worte heraushören kann. Das Drücken im Bauch wird stärker. Was ist das Problem?

    Die mittleren Gitterstäbe sind herausgenommen, sodass ich ohne Probleme aus dem Bett krabbeln, mich hinstellen und die kleine Lampe anmachen kann. Wenn die erst mal an ist, mache ich die Tür auf. Direkt links neben der Tür ist eine Lampe an, damit es nicht stockfinster ist im Flur, wenn man nachts mal auf die Toilette muss. Rechts neben der Tür ist der Lichtschalter für die große Flurlampe. Drei Schritte an Mamas und Papas Schlafzimmer vorbei, noch zwei Schritte … Am Ende des Flurs ist das Bad. Kann doch nicht so schwer sein!

    Ist es aber doch. Warum muss man erst die Zimmertür ganz aufmachen, um an den Schalter für die große Lampe zu kommen? Ich muss, ich muss, ich muss. Das Flüstern wird lauter. Und obwohl es zu einem Tosen wächst in meinem Kopf, kann ich nicht verstehen, was die Stimmen sagen. Es scheinen Tausende zu sein. Mein eigenes Schluchzen wegen der Bauchschmerzen höre ich nicht. Vielleicht murmele ich auch leise Mama. Das Tosen vermischt sich mit närrischem Lachen. Aufhören! Es soll aufhören! Mama soll kommen und mir helfen!

    Ich greife die Gitterstäbe und schlage den Kopf dagegen, um das Flüstern, Tosen und Lachen abzuschalten. Wie oft ich das mache, bevor die Tür aufgerissen und die Lampe im Zimmer angemacht wird, weiß ich nicht.

    Es ist hell. Keine Stimmen. Keine Bauchschmerzen. Drei kleine Aa-Kugeln im Bett.

    »Was ist denn hier los? – Was machst du da? – Spinnst du? – Und was ist das? – Hast du etwa ins Bett geschissen? – Das ist eklig! Warum bist du denn nicht einfach auf Toilette gegangen?« Papas Blicke sind voll reinem Ekel.

    Kapitel 2

    Der Kindergarten. Da bin ich irgendwie fast nur, wenn Juliane auch hingeht. – Juliane und ihre beste Freundin Amelia. Dann ist es okay und es klappt ganz gut. Es ist leichter, die Tage im Kindergarten hinzukriegen – aber nicht, weil sie mit mir spielen. Juliane will fast nie, weil Amelia ja ihre Freundin ist. Wirklich mitspielen darf ich deshalb nur selten. Trotzdem kosten diese Tage nicht so viel Energie und funktionieren besser. Ohne dass Juliane es weiß, hilft sie mir damit, mich nicht so anders zu fühlen.

    Ich beobachte ganz genau alles, was und wie sie es macht: ihre Körperhaltung, zu welchen Erzieherinnen sie geht, wie sie mit anderen spielt, wie sie beim Basteln das Papier anfasst und Uhu aus der Tube drückt. Ich brauche nicht so viel zu überlegen, wie ich etwas mache, ob ich es wie alle anderen mache – ob ich es richtig mache. Juliane kann alles, macht immer alles genauso, wie man es machen soll. Nie wird sie gefragt, ob sie das nicht noch mal machen kann wie alle anderen. Ich brauche sie also nur nachzuahmen.

    Aber dann ist sie auf einmal zu alt für den Kindergarten und soll mit der Schule anfangen. Zuerst suche ich nach einem anderen Vorbild, aber ich kann keines finden. Alle halten den Handbohrer unterschiedlich. Auch die Streichhölzer steckt jeder anders in die Kastanien: Einige brechen die roten und braunen Knubbel ab, andere nicht. Wer macht es denn nun richtig und wer nicht? Juliane macht immer alles richtig. Wenn sie da ist, reicht es, sich darauf zu konzentrieren wie sie es macht, sie zu beobachten, ihr nachzueifern. Aber jetzt versuche ich, mich auf alle gleichzeitig zu konzentrieren. Erstes totales Chaos im Kopf. Letztendlich sitze ich nur da und kann gar nichts mehr machen. Eine Erzieherin zeigt es mir. Aber hatte sie es dem Mädchen neben mir gerade nicht anders gezeigt? Und was, wenn ich es nicht so machen kann? Wenn ich es doch anders mache?

    Ich kann nicht behaupten, dass mein Gehirn sich abschaltet. Nein, ganz im Gegenteil. Es sind auf einmal zu viele Gedanken und Eindrücke, die gegeneinander ankämpfen. Letztendlich fordert der Kampf in meinem Kopf meine ganze Konzentration. Äußerlich mache ich gar nichts mehr. Die Erzieherin kommt noch zwei Mal und zeigt mir, wie ich was machen soll. Da meine ganze Aktivität sich aber immer noch ausschließlich in meinem Gehirn abspielt, steht sie seufzend auf, geht zu einer Kollegin und spricht mit ihr, den Blick immer noch auf mich gerichtet.

    Nach dem Kindergarten sitze ich in meinem Zimmer und weiß weder ein noch aus. Ich sitze nur da und kritzele komische Muster auf ein Blatt Papier. Innerlich fühlt es sich so an, als hätten unsichtbare Hände sich um meinen Hals gelegt und drückten zu. Alle Gedanken rasen hin und her. Eine Antwort auf die Frage, wie ich noch einen Tag im Kindergarten hinkriegen soll, gibt es unter ihnen allerdings nicht.

    Am Abend habe ich Angst einzuschlafen, denn wenn ich einschlafe, wird bald morgen sein und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich lass die Lampe brennen und mache den Kassettenrekorder an. Nicht einschlafen! Nicht einschlafen! Nicht einschlafen!

    Die Tür geht auf. »Spinnst du, das so laut zu machen? Es ist Schlafenszeit!«

    Kassettenrekorder aus. Licht aus. Tür zu. Dunkelheit.

    In der Dunkelheit kommt das Flüstern. Angst. Der Versuch, meine Gedanken zu sortieren, führt zu einem Rauschen in meinem Kopf.

    Letztendlich schlafe ich wider Willen ein.

    Als das Licht im Zimmer wieder angeht, sind mit einem Schlag alle Gedanken wieder da. Keine Lösung. Verzweiflung, weil ich immer noch nicht weiß, was ich machen soll. Ich kann kaum atmen, frühstücke nicht, weigere mich, mich anzuziehen. Ich schlage um mich und schreie so laut, dass es sich anfühlt, als würden mir die Mandeln aus dem Hals gerissen. Durch mein Geschrei höre ich nicht einmal, dass ich mich gefälligst normal benehmen und mich anziehen lassen soll. – Nichts. Ich höre nichts, schreie und schlage weiter. Als starke Hände trotzdem versuchen, mich anzuziehen, reiße ich an meinen Haaren, kratze und kneife mich selbst und haue letztendlich meinen Kopf einige Male auf den Boden.

    Das war die Lösung meines Problems. Statt in den Kindergarten zu gehen bleibe ich zu Hause mit unserer Raumpflegerin, während alle anderen in der Schule oder bei der Arbeit sind. Völlig entkräftet und energielos verbringe ich den Tag allein in meinem Zimmer. Schlafen. Gedanken sortieren. Schlafen. Schlafen. Schlafen. Keine anderen treffen. Einfach nur ich. Egal, was ich wie mache.

    Aber das ist wohl eher nicht normal? Und eigentlich will ich so sein wie alle anderen. In meinem Gehirn beginnt wieder ein Kampf: Mein wahres Ich gegen das Ich, das ich sein möchte. Bei genauerer Betrachtung der Voraussetzungen für die Gegner ist das ein sehr ungerechter Kampf – wider Erwarten zugunsten meines wahren Ichs.

    Manchmal schaffe ich es, die Tage im Kindergarten irgendwie hinzukriegen, auch ohne Juliane, aber sie rauben mir zu viel Energie. Oft bleibe ich wochenlang zu Hause. – Und das scheint mehr und mehr okay zu sein für Mama und Papa, denn dann bin ich ruhiger. Keine Wutausbrüche, kein Schlagen, Treten, Scherenwerfen am Morgen und nur noch selten am Nachmittag oder Abend. – Es ist normaler, gar nicht in den Kindergarten zu gehen, als Wutausbrüche zu bekommen und andere zu beißen.

    Kapitel 3

    Neustart. Normal. Monatelang hab’ ich geübt still zu sitzen und nur zuzuhören, nicht anzufangen mit etwas rumzuspielen oder aufzustehen und eine Weile etwas anderes zu machen. Stillsitzen, zuhören, keine störenden Geräusche oder Bewegungen machen.

    Wenn Juliane Hausaufgaben gemacht hat, hab’ ich sie beobachtet, wie sie den Füller hält, ihn auf das Papier drückt, ordentliche Buchstaben und Worte auf das Papier zaubert. Bevor sie umblättert, um auf der nächsten Seite weiterzuschreiben, kontrolliert sie eingehend, ob die Tinte auch wirklich trocken ist, damit es keine Flecken gibt. Die Hülle vom Füller steckt sie zuerst auf das andere Ende, aber dann nimmt sie sie doch wieder ab und legt sie ordentlich neben ihr Federmäppchen. Benutzt sie Blei- oder Buntstifte, guckt sie zuerst genau, ob die Spitze noch gut ist. Stifte, die sie nicht mehr braucht, werden nicht einfach zur Seite gelegt, sondern direkt wieder in ihr Mäppchen. Ist eine Aufgabe angefangen, lässt sie sich nicht stören, bis sie damit fertig ist. Kein Aufstehen, mit anderen Stiften kritzeln oder aus dem Fenster gucken.

    Als Juliane mit den Hausaufgaben fertig ist, frage ich sie, ob ich mir ihren Füller mal leihen darf.

    »Nein! Wieso das denn? Du hast doch eigene Stifte!«

    Klar habe ich eigene Stifte, aber ich möchte gerne fühlen, wie sich ein Füller anfühlt. In der Schule müssen alle mit Füller schreiben und ich habe Angst, dass ich ihn nicht richtig halten kann.

    Der Füller landet im Mäppchen. Sie macht es zu und legt es in ihren Schulranzen. Gleichzeitig nimmt sie eine Mappe mit Blättern raus. Sie sieht sich das oberste Blatt stirnrunzelnd an, nimmt es heraus und geht aus unserem Zimmer. Ich weiß, was sie macht: Juliane geht in die Küche zu unserer Putzhilfe, damit sie ihr beim Lesenüben hilft. Zehn Minuten. So viel Zeit hab’ ich nun, um ihren Füller auszuprobieren.

    Leise gehe ich zu ihrem Schulranzen, er ist offen. Sehr gut, dann klicken die Verschlüsse nicht, wenn ich sie aufmache. Schnell das Mäppchen raus und öffnen. Da ist der Füller. Mit dem Füller in der Hand gehe ich schnell wieder zu meinem Schreibtisch, nehme ein Blatt Papier und mache die Kappe ab. Vorsichtig zeichne ich ein paar Striche und Formen auf das Papier. Es fühlt sich ganz komisch an. Der Füller ist so leicht, dass ich ihn kaum spüre in meiner Hand. – So kurz. Genauso leicht verteilt sich die Tinte, wenn die Feder das Papier berührt. Zeichnen, Malen, Schreiben kann sich doch nicht so leicht anfühlen? Arbeit mit den Fingern. Es fühlt sich so an, als hätte ich nichts in der Hand. Wie soll ich nichts so führen, dass es die Zeichen aufs Papier macht, die ich möchte?

    Ich stecke die Kappe auf das andere Ende vom Füller, so wie Juliane es zuerst gemacht hatte. Jetzt spüre ich ein leichtes Gewicht in der Hand. Aber die Tinte verteilt sich immer noch zu leicht auf dem Papier. Ich brauche fast gar keinen Druck ausüben und schon kommt Tinte aus der Feder. Und weil das viel zu leicht geht, werden die Striche nicht so, wie ich sie eigentlich haben möchte. Wie soll man denn mit so einem Füller ordentlich schreiben können, wenn man ihn nicht mal richtig halten kann? Vielleicht wenn ich es jeden Tag ein bisschen übe? Dann schaffe ich es ja vielleicht sogar, normal damit zu schreiben, ohne die Kappe auf das andere Ende zu machen?

    Fast jeden Tag leihe ich heimlich Julianes Füller. Irgendwie muss ich es hinkriegen. Aber eines Nachmittags steht Juliane plötzlich im Zimmer. Sie reißt mir den Füller aus der Hand und schreit mich an. Ich will ihr erklären, wieso ich ihn genommen habe, aber sie hört mir nicht zu, lässt mich nicht erklären. Stattdessen behauptet sie, dass ich eh nie ordentlich schreiben lernen werde, weil ich dafür viel zu doof sei. In diesem Moment kann ich nicht mehr. Ich wollte ihr doch erklären, dass ich nur etwas üben wollte, weil ich Angst davor habe, den Füller in der Schule nicht richtig benutzen zu können. Ich hatte mich entschuldigt und wollte es erklären. Dass sie trotzdem solche Sachen schreit, finde ich unfair! Sie soll aufhören! Still sein! Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, damit sie endlich aufhört, mich anzuschreien, statt mir zuzuhören, beiße ich sie ins Bein, so fest ich nur kann. Da kommt Papa ins Zimmer. Zwei Wochen Stubenarrest für mich. Meine Erklärung will niemand hören.

    Die zwei Wochen Stubenarrest sind fast wie zwei gewöhnliche Wochen, zumindest für mich. Vormittags, wenn alle anderen in der Schule oder bei der Arbeit sind, gehe ich nach draußen und fahre Fahrrad, laufe Rollschuh oder einfach durch die Gegend. Entweder hat Papa vergessen, unserer Putzhilfe zu sagen, dass ich Stubenarrest habe, oder es ist ihr egal. Nachmittags bleibe ich in meinem Zimmer. Alles gar nicht so schlecht, abgesehen davon, dass ich mich nicht mehr traue, Julianes Füller zu nehmen.

    Je mehr ich alleine bin, desto besser klappt das meiste. Ich habe mehr Energie für die Situationen, in denen ich daran denken muss, mich ordentlich zu benehmen, zum Beispiel beim Essen, die anderen zu beobachten, wie sie alles machen – Messer und Gabel halten, Glas hochheben und an den Mund führen, nicht zu schnell und nicht zu langsam essen. Danach verschwinde ich einfach schnell wieder im Zimmer, wo ich so sein kann, wie ich bin, ohne mich die ganze Zeit falsch zu fühlen.

    Manchmal beobachte ich Juliane vorsichtig, versuche mir zu merken, wie sie den Füller und andere Stifte hält. Aber es ist so schwer, wenn ich ihn nicht selber halten, ausprobieren und mir das Gefühl merken kann.

    Puzzles. Statt mit einem Füller zu üben, sitze ich da und lege ein Puzzle nach dem anderen. Und die Bilder, die durch das monotone Aneinanderlegen der kleinen Teile entstehen, entführen mich in andere Welten, in denen es keine Rolle spielt, wer ich bin und was ich wie mache.

    ***

    Dann ist es so weit: Mein Neustart. Mit gelbem Schulranzen, eigenem Federmäppchen, Schiefertafel, dazu passenden Stiften und einem Schwämmchen zum leichten Korrigieren, Heften und Schulbüchern geht es los. Auf das Schreibenüben auf der Schiefertafel freue ich mich. Ein bisschen Feuchtigkeit und schon sind alle Fehler oder unschöne Buchstaben verschwunden und behoben: Statt viel Papier zu benutzen, einfach auf die Tafel schreiben, wegwischen, schreiben, wegwischen.

    In vielen schlaflosen Nächten habe ich versucht, mich selbst davon zu überzeugen, dass alles gut klappen wird. Meine Schulsachen habe ich nach und nach bekommen und konnte sogar schon meinen eigenen grünen Füller einige Male ausprobieren. Ich durfte aber nicht viel damit machen, damit ich nicht gleich die ganze Tinte aufbrauchte. Mein Ausprobieren wurde auch von Kommentaren begleitet wie: »Das dauert eh noch, bis du den in der Schule benutzen darfst!« – »Erst mal musst du lernen, auf der Tafel zu schreiben!« – »Du wirst eh nie lernen, ordentlich damit zu schreiben!«

    Alle Sachen liegen ordentlich an ihrem Platz im Ranzen. Ich habe etliche Male nachgeschaut, dass ich nichts vergessen habe. Im Unterricht werde ich mich auf das konzentrieren, was ich machen soll, und in den Pausen die Zeit rumkriegen, ohne zu müde zu werden. Ich werde das hinkriegen und genauso wie alle anderen sein. Statt Jeans und T-Shirt ziehe ich ohne Protest mein schickes, weißes Kleid mit rosa und blauen Blümchen an. Meine protestierenden Bequemlichkeitsgehirnzellen schiebe ich in die hinterste Ecke des Gehirns. Ich werde nicht zulassen, schon am ersten Schultag irgendwie anders zu sein als alle anderen! Ich werde nicht an das eklige Gefühl denken, wenn meine nackten Oberschenkel aneinanderreiben. Nicht dran denken! E. T.-Schulranzen auf den Rücken, Schultüte in den Arm und los gehts, in mein neues, normales Leben!

    Vor der Schule in Eschweiler und auf dem Schulhof sind ganz viele Erwachsene und Kinder. Ich bin das einzige Kind mit gelbem Ranzen und E. T.-Schultüte. – Und die habe ich nicht mal, weil ich den Film so gut finde (den hab’ ich gar nicht gesehen), sondern weil ich finde, dass E. T. so lieb aussieht. Vielleich auch, weil er nicht so ist, wie alle anderen, und dahin möchte, wo er hingehört.

    So viele Kinder. Mir wird ganz schwindelig. Auf die Steine vor dem Eingang hat jemand mit Farbe die Klassenbezeichnungen geschrieben. Alle stellen sich in Reihen auf und dürfen hinter ihren Klassenlehrern oder -lehrerinnen in die Schule gehen. Vor dem Klassenzimmer sind Haken an der Wand und über jedem Haken steht ein Name.

    Im Klassenzimmer sind immer zwei Tische zusammengeschoben. Auf den Tischen sind Namensschilder aufgestellt, sodass jeder weiß, wo wer sich hinsetzen soll; zwei Jungen und zwei Mädchen an einem Vierertisch. Den einen Jungen kenne ich, der wohnt bei uns gegenüber, aber den anderen und das Mädchen kenne ich nicht. Sie wohnen in einem Nachbardorf.

    Statt alle anderen Kinder im Klassenzimmer zu beobachten, versuche ich, mich auf das zu konzentrieren, was die Lehrerin sagt. Die meiste Zeit wird sie uns unterrichten, aber in Mathe und Sport werden wir einen anderen Lehrer haben.

    Wir machen einen Rundgang durch das Gebäude, damit wir wissen, wo es Toiletten gibt, wo die Sporthalle ist und wie es auf dem Schulhof aussieht. Es gibt ein paar gute Ecken und Winkel, in denen man sich in den Pausen gut verstecken kann. Das mag ich.

    Nachdem wir uns im Klassenzimmer wieder hingesetzt haben, bekommen alle einen Stundenplan. Nachdem die Lehrerin vorgelesen hat, was drinsteht, sollen wir unsere Buntstifte nehmen und den Stundenplan so anmalen, dass wir leicht sehen, welche Sachen wir für den nächsten Tag mitbringen sollen, zum Beispiel Schulbücher, die wir brauchen, und ob wir Sportsachen mitnehmen müssen oder nicht.

    Endlich darf ich meine neuen Stifte benutzen. Den Stundenplan anzumalen ist überhaupt kein Problem! Voll konzentriert male ich alle Stundenplankästchen vom Montag blau an. Ordentlich, so viel wie möglich in eine Richtung mit dem Buntstift und nicht über den Rand. Dienstag gelb, Mittwoch rot, Donnerstag lila, Freitag grün, Samstag hellgrau. Es ist gut geworden, ich habe kaum über den Rand gemalt. So kann ich jetzt leicht an den Farben erkennen, was für ein Wochentag ist und welche Sachen ich mitnehmen muss.

    Als ich fertig bin, kann ich es nicht lassen und hebe den Kopf, um die anderen Kinder in meiner Klasse zu beobachten. Und genau in dem Moment, in dem ich verstehe, dass ich anders angemalt habe, als alle anderen, sagt eine Stimme neben mir: »Was hast du denn gemacht? Wie willst du denn so leicht sehen, was wir haben und welche Sachen du mitbringen musst?«

    Die zwei Jungen an unserem Tisch haben jetzt auch aufgehört, zu malen, und starren auf meinen Stundenplan. Und ich starre auf ihre, auf denen jedes Schulfach seine eigene Farbe bekommen hat, nicht die Wochentage.

    »Aber ich bin ja noch nicht fertig!«, entfährt es mir laut.

    Ich nehme schnell einen roten Stift, um die erste Stunde am Montagmorgen anzumalen. Mathe ist rot, ganz eindeutig. Aber da mein ganzer Montag ja blau ist, sieht die

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