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Wortlos: Mit Schweigen überlebt
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eBook171 Seiten2 Stunden

Wortlos: Mit Schweigen überlebt

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Über dieses E-Book

Burnout, Depression, Midlifecrise, Suizidale Gedankenphase - so lautete die Diagnose nach 42 Jahren normalen Durchschnitts-Lebens. Eigene Firma, Familie, Haus, aktives Vereins-Leben und dann folgt der Zusammenbruch. Mit viel Mut fasst der Autor seine Wortlosigkeit in Worte. Als Leser hat man das Gefühl in ein geheimes Tagebuch zu blicken. Streng katholisch in einer Großfamilie aufgewachsen, voller Scham und sehr zurückhaltend. Schon als Kind ständig das Gefühl falsch oder anders zu sein. Ab der frühen Jugend mit viel Alkohol, Essstörungen, dauerhafte Dramen, Unfälle und ständiges Chaos ziehen sich wie ein roter Faden durch dieses Leben. Seltsame Todesfälle und Selbstmord im direkten Umfeld reihen sich in das dramatische Bild und wecken beim Lesen Emotionen. Den drastischen Abschluss der chaotischen Geschichte macht die Erinnerung an Missbrauch in der Kindheit, die nach über vierzig Jahren wieder zurückkommt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum7. Apr. 2022
ISBN9783347607545

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    Buchvorschau

    Wortlos - Stefan Fritz

    Kapitel 1

    Meine Ursprungsfamilie

    Ich bin das Kind einer hochgradig traumatisierten Mutter und eines hochgradig traumatisierten Vaters. Mein Vater ist Jahrgang 1928 und entstammt einer Liaison zwischen einem britischen Besatzungssoldaten aus dem Ersten Weltkrieg und einer Frau aus einem kleinen katholischen Dorf in der Nähe von Göttingen. Ich weiß nicht, ob sie vergewaltigt wird oder nicht. Ziemlich sicher ist, dass sie dem moralischen Druck der Dorfgemeinschaft wegen eines Bastards nicht gewachsen ist und ihr Kind daher unmittelbar nach der Geburt in einem katholischen Schwesternheim in Göttingen zur Adoption freigibt. Ein Arbeiterehepaar aus Hannover adoptiert 1930 ein Mädchen. Nach wenigen Wochen wird die Adoption jedoch annulliert und das Mädchen an seine Mutter zurückgegeben. Frustriert kehren die Adoptiveltern zum Kinderheim zurück und adoptieren den kleinen Jungen sozusagen als zweite Wahl, weil er so süß dreinschaut. Unter welchen emotionalen und gesundheitlichen Umständen muss der kleine Bursche wohl aufgewachsen sein? Geboren in der Zeit bitterster Armut in Deutschland. Von der eigenen Mutter nicht „gewollt" und daher weggegeben. Es ist beinahe unvorstellbar, was er während seiner zwei Jahre in diesem von Nonnen geführten Kinderheim erlebt haben mag! Ausgesucht wird er als Notlösung von einer fremden Frau, die selbst keine Kinder bekommen kann und sich eigentlich ein Mädchen wünscht.

    In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs meldet sich mein Vater im Alter von sechzehn Jahren freiwillig zum Kriegseinsatz bei der Luftwaffe. Er wird jedoch für fluguntauglich erklärt und dem Bodenpersonal zugeteilt. Kurz vor Kriegsende wird er mit starken Schmerzen in ein Krankenhaus eingeliefert. Ihm muss eine Niere entnommen werden, die komplett versteinert ist. Als Konsequenz daraus wird er vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen.

    Erst Jahrzehnte später habe ich in meiner langjährigen Arbeit mit Menschen die Erkenntnis gewonnen, dass die Blase, die Niere und die Schilddrüse sehr stark auf unterdrückte oder unbewusste Ängste reagieren. Was um alles in der Welt muss ein junger Mensch im Alter von siebzehn Jahren bereits erlebt haben, damit eine ganze Niere vor Schreck oder Angst erstarrt und buchstäblich zu Stein wird?

    Meine Mutter wird 1929 als drittes Kind eines Lehrers und einer Hausfrau in einem Dorf im tiefsten Emsland geboren. Der ältere Bruder meldet sich in den letzten Kriegstagen gegen den Willen seiner Eltern freiwillig zum Dienst und wird kurze Zeit später von einer Splittergranate in der Luft zerfetzt. Meine Mutter spricht so gut wie nie darüber. Wenn das Gespräch einmal darauf kommt, spricht sie ohne jede Emotion und ohne eine Gefühlsregung über ihren Bruder, den sie nach eigenen Angaben über alles liebt. Das klingt für mich in der Intonation, wie wenn sie berichtet hätte, ihr sei beim Kaffeetrinken ein Stück Kuchen von der Gabel gerutscht.

    Ihre ältere Schwester kenne ich nur mit dunkler Sonnenbrille und unter dem Einfluss von starken Beruhigungsmitteln bei der Oma auf dem Sofa liegend. Sie kommt nie aus dem Haus und steht nie auf eigenen Beinen. Voller Eifersucht und Hass meidet sie jahrelang meine Mutter, beleidigt und bedroht, verklagt, demütigte und beraubt sie um ihr Erbe. In meiner Erinnerung findet jegliche Kommunikation zwischen den beiden über die Polizei, den Anwalt oder das Gericht statt und ich selbst wechsle auch nie ein Wort mit meiner Tante.

    Die Oma mütterlicherseits ist die einzige aus der großelterlichen Generation, die ich selbst noch kennenlerne. Die Oma väterlicherseits und die beiden Opas sind zum Zeitpunkt meiner Geburt bereits verstorben. Diese Oma habe ich vielleicht zehn Mal in meinem Leben gesehen. Auch zeigt in meiner Erinnerung nie eine Gefühlsregung. Kein einziges freundliches und wohlwollendes Lächeln. Sie ist steif und unnahbar für mich. Meine letzte Erinnerung an sie ist aus meiner heutigen Sicht völlig grotesk. Im Februar 1981 schaue ich in Hannover durch eine Glasscheibe auf einen schlichten Sarg, in dem meine Großmutter liegt und meine Mutter, die neben mir steht, bricht vor dieser Scheibe zusammen. Ich vergieße keine einzige Träne und verziehe nicht eine Miene. Damals, als ich zehn Jahre alt bin, frage ich mich, warum meine Mutter so traurig ist. Erst vor wenigen Jahren, als ich auf der Suche nach mir selbst war, fand ich heraus, warum ich mich in dieser Situation so emotions- und regungslos verhielt.

    Es ist eine Umkehrung des parentalen Prinzips. Als Kind übernehme ich unbewusst die Verantwortung dafür, dass es meiner Umgebung gut geht, vor allem aber meiner Mutter. Wenn ich als Kind dafür Sorge trage, dass es meiner Mutter gut geht, ist die Chance, dass sie für meine Sicherheit sorgt, wesentlich größer. Dann ist evolutionär gesehen, mein Leben und Fortbestand gesichert.

    Mein ältester Bruder Alfred kommt 1955 durch eine Zangengeburt zur Welt.

    Als meine Mutter eine schwere Brustentzündung bekommt, legt sie das schlafende Kind ins Bett, um in der Stadt den Arzt aufzusuchen. Der hat jedoch an diesem Tag keine Zeit für sie und so geht sie unverrichteter Dinge wieder zurück nach Hause. Dort findet sie ihren Sohn vollkommen blau angelaufen im Kissen eingewickelt. In völliger Panik reißt sie ihn an den Beinen aus dem Bett, schlägt ihm mehrmals auf den Hintern und holt ihn so ins Leben zurück. Alfred hat jedoch viele Jahre danach mit Asthma zu kämpfen.

    Gut ein Jahr nach Alfreds Geburt wird meine Mutter erneut schwanger. Als sie mit starken Wehen ins Krankenhaus kommt und schon im Kreißsaal liegt, gibt der diensthabende Arzt ihr eine Morphiumspritze, um die Wehen zu unterdrücken. Der Arzt hat an diesem Tag Geburtstag und möchte lieber mit den Schwestern im Dienstzimmer ein Glas Sekt trinken. Mein Bruder Benno wird dann mit mehreren Stunden Verzögerung 1957 unter dem Einfluss von Morphium geboren.

    Obwohl die wirtschaftlichen und wohnlichen Verhältnisse der jungen Familie sehr eingeschränkt sind, folgt schon bald die dritte Schwangerschaft meiner Mutter und 1960 wird mein Bruder Christoph geboren. Auch diese Geburt verläuft nicht ganz unproblematisch für Mutter und Kind ab, da der Junge bereits mehr als zehn Pfund wiegt und stolze sechzig Zentimeter lang ist.

    Prinzipiell gibt das ungeborene Baby das Signal, um geboren zu werden. Die Aufgabe einer Mutter ist es, mit dem Baby in Verbindung zu treten und es zum gegebenen Zeitpunkt wieder loszulassen. Das Baby ist von Natur aus in der Lage, die Geburt alleine zu bewältigen. Eine Mutter, die gestresst ist, ängstlich, wütend oder traurig, ist evolutionär nicht auf eine Geburt vorbereitet und körperlich nicht in der Lage, entspannt loszulassen. Gefühle von Angst und Wut werden vom Stammhirn gesteuert. Das Stammhirn regelt alle autonomen Funktionen des Körpers, die für das Überleben zuständig sind. Zusammen mit anderen Hirnanteilen wie dem Kleinhirn und dem limbischen System regelt es das Kampf- und Fluchtverhalten, löst Erstarrung oder Entspannung aus und sorgt beispielsweise im ersten Lebensjahr für ein überlebenssicherndes Verhalten durch frühkindliche Reflexe. Eine Gebärende kann demnach weder körperlich noch geistig gut loslassen oder sich öffnen, wenn sich ihr Körper in einem angespannten Kampf- und Flucht- oder Erstarrungsmodus befindet. Zu den Vorgängen des Öffnens und Loslassens zählen vor allem die Atmung, die gesamte Muskulatur sowie die Prozesse der Verdauung und Ausscheidung (Urin und Stuhlgang) und der Geburtsprozess. Im angespannten, ängstlichen oder sorgenvollen Zustand hat der Körper im Wesentlichen lediglich zwei Möglichkeiten der Reaktion. Entweder lässt er abrupt alles los (Fluchtverhalten: sich vor Angst in die Hose machen). Das käme einer Sturzgeburt gleich. Oder der Körper ist vollkommen angespannt (Vorbereitung auf eine mögliche Kampf- oder Fluchtsituation: Der Körper will sich schützen, igelt sich lieber ein, zieht sich zurück und legt einen Schutzpanzer an wie eine Schildkröte). Diese unbewussten Körperreaktionen führen zu einer Geburt, die sich über Stunden hinziehen kann und wie im Fall meines ältesten Bruders im schlimmsten Fall mit einer Zangengeburt endet.

    Da meine Mutter vor der ersten Geburt offensichtlich voller Angst war und während der zweiten Geburt mit Medikamenten ruhiggestellt wurde, hatte sie sicherlich große Angst vor der dritten Geburt. Aus den Erzählungen meiner Familie weiß ich, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sowohl die Hebamme als auch der Arzt meiner Mutter noch zusätzlich Angst gemacht haben, da dieses Kind einfach größer war als die beiden Jungs zuvor. Aber das absolut wichtigste, was eine Frau zur Vorbereitung auf die Geburt und während des Geburtsvorgangs braucht, ist das Gefühl der absoluten Ruhe und SICHERHEIT. In meiner Familie war der Raum haltende, Ruhe schenkende und Sicherheit gebende Mann allerdings als Handelsreisender unter der Woche NIE anwesend. Der Arzt, dem meine Mutter ursprünglich ihr Vertrauen geschenkt hatte, hat Selbiges mit einer Morphium-Spritze während der vorangegangenen Geburt zerstört. All diese Voraussetzungen können dazu führen, dass sich eine Frau nicht ausreichend sicher fühlt, nicht loslassen kann, sich nicht öffnet und daher nicht entspannt gebären kann.

    Mein Vater arbeitet als Handelsvertreter und hat sein Verkaufsgebiet in Hessen. So entschließt er sich, mit seiner Familie im Winter 1962/63 von Hannover in eine Kleinstadt in Oberhessen zu ziehen. Doch einige Zeit nach diesem Umzug verlagert sich sein Einsatzgebiet von Hessen nach Baden-Württemberg und Bayern, und so muss er wieder genauso weit reisen wie vor seinem Umzug nach Hessen.

    Die Familie lebt in großer Armut und immer am Rande des Existenzminimums. Vor allem meine Mutter hat einen unerschütterlichen Glauben an Gott, und beide, mein Vater und meine Mutter halten sich streng an die moralischen Normen der katholischen Kirche. So wird nicht im Geringsten über Empfängnisverhütung oder andere Möglichkeiten nachgedacht, dem ständig wachsenden finanziellen Engpass zu begegnen.

    In der Folge wird meine Mutter ein weiteres Mal schwanger und 1964 kommt meine Schwester Deborah mit einem stark entstellten Gesicht zur Welt. Ich weiß nicht, ob es besondere Ereignisse während der Schwangerschaft oder der Geburt gegeben hatte, die einen solchen Umstand begünstigten. Ich vermute jedoch, dass die werdende Mutter nach drei für sie katastrophalen Geburten diese Schwangerschaft mit großer Unsicherheit und Angst erlebte, auch wenn sich diese Ängste und Sorgen größtenteils in ihrem Unterbewusstsein abgespielt haben mögen.

    Unser Kopf vergisst und verdrängt überwältigende Erlebnisse gerne, der Körper und das Unterbewusstsein erinnern sich jedoch an jede einzelne Sekunde unseres Lebens!

    Nach dem vierten Kind wird meiner Mutter dringend geraten, sich die Gebärmutter entfernen zu lassen, um das vermeintliche Risiko einer weiteren Schwangerschaft zu vermeiden. Nach Einschätzung der Mediziner besteht inzwischen erhöhte Gefahr für Leib und Leben der Mutter und eines weiteren Kindes. Gegen den Rat der Ärzte, aber im vollen Vertrauen auf Gott lehnt meine Mutter eine solche Operation ab.

    Als sich 1966 eine weitere Schwangerschaft ankündigt, rät der Frauenarzt meiner Mutter zu einer Abtreibung. Soweit mir bekannt ist, gibt es bereits einen Termin und Vorbereitungen dafür. Nach reiflicher Überlegung lehnt sie jedoch den ärztlichen Rat im letzten Moment aus Gottesfurcht ab. So wird im Spätherbst 1966 meine Schwester Est-her geboren. Noch im Kreißsaal schlägt der Arzt meiner Mutter erneut vor, die Gebärmutter zu entfernen, um weitere Risiken auszuschließen. Doch meine Mutter weicht nicht von ihrem Weg und lehnt den Vorschlag abermals ab. Sie rechnet fest damit, dass die Natur ihr diese Entscheidung im Alter bis zum vierzigsten Lebensjahr abnehmen wird.

    Kapitel 2

    Noch ein Fresser mehr am Tisch

    Doch weit gefehlt! Mit einundvierzig Jahren stellt sie fest, dass sie sich wieder in anderen Umständen befindet. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie der Arzt, die Hebamme und das sonstige Umfeld auf diese Nachricht reagiert haben. Von dem ältesten Sohn Alfred ist zumindest bekannt, dass er im Alter von sechzehn Jahren schwere Vorwürfe gegen seine Mutter erhebt. Zum einen, weil sie sich erneut den Risiken einer Schwangerschaft und Geburt aussetzt, und zum anderen, weil sie trotz der bitteren Armut mit fünf Kindern noch ein weiteres bekommen will.

    Während ich unter diesen Anschuldigungen im Bauch meiner Mutter aufwachse, ist das Einzige, woran sie sich später noch erinnert, dass ihre Schwiegermutter im Februar 1971 ganz plötzlich und unvorbereitet stirbt. Diese Nachricht versetzt sie in eine tiefe Trauer. Darüber hinaus muss sie einen großen Haushalt mit fünf Kindern managen, von denen einige bereits die Pubertät erreicht haben, die anderen aber noch völlig von ihr abhängig und auf sie angewiesen sind. Ihr Bauch wächst zunehmend durch die Schwangerschaft und ihr engstes soziales Umfeld zeigt dafür eher kein Verständnis. Gleichzeitig muss sie im 250 Kilometer entfernten Baden-Baden einen kompletten Nachlass organisieren … Grenzenlose Überforderung!

    Währenddessen geht ihr Mann weiter seiner Reisetätigkeit nach, um die Familie finanziell einigermaßen über Wasser zu halten.

    Im Frühling 1971 werde ich geboren. Ich habe viele Jahre lang versucht, von meiner Mutter mehr Einzelheiten über ihre Schwangerschaft mit mir oder über meine Geburt zu erfahren. Sie berichtete mir immer: „Du bist ein gewolltes Kind, ein Wunschkind, und alles ist normal und reibungslos verlaufen."

    Irgendwie kann ich aber dieser Aussage nie trauen, denn auf meine näheren Nachfragen bekomme ich immer nur die Antwort: „Ich kann mich überhaupt nicht an die Schwangerschaft und an Deine Geburt erinnern. Ich weiß von all Deinen älteren Geschwistern noch haargenau, wie das war. Aber wie das bei Dir war, weiß ich nicht mehr." Üblicherweise beschrieb sie mir dann alle anderen Geburten bis ins Detail, nur meine eigene eben nicht.

    Tatsächlich äußerte sie nach dem

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