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Frei im Kopf: Haltung, Horizont und Selbstorganisation
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eBook333 Seiten3 Stunden

Frei im Kopf: Haltung, Horizont und Selbstorganisation

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Über dieses E-Book

Mit Frei im Kopf hat Ulrich Halstenbach einen überraschenden Reiseführer in die Tiefen des "alles beobachtenden Ich-Selbst" geschrieben. Dieses "Ich-Selbst" meint die Summe all der Einstellungen, mit denen wir den Alltag erleben und angehen, mit denen wir uns aber auch Themen wie der Philosophie und der Religiosität, der Vernunft und den Emotionen - und sogar der eigenen Einstellung selbst zuwenden.
Für den Trainer einer Sportmannschaft ist die Einstellung seiner Spieler ein entscheidender Erfolgsfaktor. Auch der Lehrer erlebt bei seinen Schülern unterschiedliche Einstellungen. Wir alle haben Einstellungen zur Familie, zur Gesellschaft, zum Aufräumen und zum Genießen. Aber die eigene Einstellung zu betrachten, beschreiben und beeinflussen zu können ist eine sehr spezielle Kompetenz. Wir sind, ganz einfach gesagt, mit unserer eigenen Einstellung oft so vertraut, dass sie uns nicht bewusst ist.
Als Anleitung zur inneren Orientierung ist dieses Buch mehr als ein Ratgeber. Es ist ein Übungsbuch, auf das sich der Leser mit dem Körper und allen Sinnen einlassen kann. "Frei im Kopf" macht den Leser selbst zum Ratgeber im Themenkreis der Selbstorganisation, das Lesen wird zu einem überraschenden Seminar mit sich selbst.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Aug. 2012
ISBN9783849117412
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    Buchvorschau

    Frei im Kopf - Ulrich Halstenbach

    1. Teil // Die Haltungen

    1.1 Das Ziel der Selbstorganisation: Der freie Raum

    Wie lieben wir ihn, diesen leeren Schreibtisch, kurz bevor wir in den Urlaub fahren! Alles ist geordnet, nichts liegt herum, nichts ruft danach, jetzt noch erledigt zu werden. Der Schreibtisch ist leer, und das ist ein gutes Gefühl.

    Ähnlich ist es in der Küche – wie schön, wenn alles wieder aufgeräumt ist! Kommt man nach einem anstrengenden Tag nach Hause und möchte sich etwas zu essen machen, würde alles stören, was auf der Arbeitsplatte herumsteht.

    Der Selbstständige hat ein gutes Gefühl, wenn er frühzeitig seine Steuer erledigt hat und er nichts Ungeklärtes aus dem vergangenen Jahr mitschleppt.

    Das Prinzip des freien Raumes ist so bedeutsam, dass ich es mit weiteren Beispielen veranschaulichen möchte. Nehmen wir den Weinliebhaber. Beim Blick in seinen Keller werden wir feststellen, dass dort, wo die besten Weine lagern, Platz im Regal ist. Der Weinliebhaber kann dort ohne Probleme noch einen weiteren guten Tropfen dazulegen, da ist auch für den laienhaften Betrachter Leerheit zu sehen. (Leerheit ist der Zustand des Leerseins.) Aber dort, wo die Regale bereits eng bepackt sind, liegen die Flaschen, die ihm nicht so wichtig sind.

    Beim Sammler können wir bereits beim ersten Blick in seine Vitrinen feststellen, an welchen Stücken sein Herz besonders hängt: dort, wo uns Leerheit um die Exponate begegnet. Er hat ihnen mehr freien Raum zugebilligt als den vielen anderen Stücken. Denn Leerheit herzustellen bedeutet Wertschätzung. Entsprechend verhält es sich im Geschirrschrank, im Kleiderschrank, im Bücherschrank, bei den Spielsachen der Kinder, in den Garagen der Autoliebhaber – und schon in den großen mittelalterlichen Kathedralen.

    Leerheit herzustellen ist ein tief in uns wohnendes Bedürfnis.

    Leider macht es uns die moderne Überflussgesellschaft hierbei schwer. Wir werden schier überschüttet mit Dingen, die wir nicht angemessen unterzubringen wissen.

    Beispiel Informationen (denn wir leben im Informationszeitalter): Wohin nur mit all den E-Mails, den Briefen, den Katalogen und Artikeln, den Produktbeschreibungen und Gebrauchsanweisungen, den Belegen und Dokumentationen, den Dateien und Programmen, den Entwürfen und Zertifikaten? Wir brauchen eine Ablage, das steht außer Frage. Diese sollte schlank sein und Leerheit /freien Raum enthalten.

    Der Grund für einen überquellenden Schreibtisch ist immer ein voller Schrank im Hintergrund. Hinter jedem Stau auf der Arbeitsfläche steht eine Ablage, deren Aufnahmekapazität ganz oder beinahe ausgeschöpft ist. Ein guter Schrank ist ein Schrank, in dem Leerheit vorhanden ist. Die gibt dem Inhalt Wert. Wenn dies nicht der Fall ist, taugt der Schrank nicht mehr viel.

    Mit dem eigenen Kopf ist es ähnlich. Der Kopf ist zum Erfassen und Denken da, nicht zum Festhalten einer letztlich unüberschaubaren Informationsfülle. Mit einem Bild aus der Computersprache: Auf der Festplatte haben wir in der Regel ausreichend Platz, aber im Arbeitsspeicher kann es eng werden. Den müssen wir immer wieder frei machen, der darf ruhig relativ leer sein. Es macht einen großen Unterschied, ob wir einen freien Kopf haben oder nicht. Nur wenn wir Leerheit im Gedankenraum haben, können wir die Dinge wirklich aufnehmen, die auf uns zukommen. Wenn hingegen Aufgaben und Vorhaben, Pläne und Informationen sich dort dicht an dicht drängeln, dann macht die Arbeit keine Freude mehr. Dann haben wir den Kopf nicht frei. Und das nimmt dem Leben Qualität.

    Sagen wir über jemanden, er hätte seinen Kopf nicht frei, dann nehmen wir wahr, dass ihn etwas einspannt und seine Aufnahmefähigkeit behindert. Wenn jemand dagegen sagt, er habe für eine Aufgabe den Kopf ganz frei, beschreibt er damit das andere Extrem: einen Zustand höchster Zuwendungsbereitschaft. Dazwischen gibt es Abstufungen. Nicht ganz frei, aber auch nicht völlig verstopft, das hat etwas Normales.

    Auch dieser Normalität, dieser nicht optimalen Bedingung, den Kopf nicht richtig frei zu haben, wollen wir begegnen. Wenn wir unsere beruflichen Aufgaben, unseren Alltag und auch uns selbst organisieren, dann ist unser Ziel, den Kopf frei zu bekommen: so frei wie möglich, und dies so oft wie möglich. Ein freier Kopf hat mit Leerheit zu tun: nicht mit der dumpfen Leere einer völligen Erschöpfung, sondern mit wacher, aufnahmebereiter Leere, mit dem Angekommensein und der Lust, Neues starten zu wollen – mit freiem Kopf, frei von allem, was Ballast wäre.

    Einen freien Kopf zu haben bedeutet, einer Aufgabe oder Situation ganz viel Raum geben zu können. Wir bieten innere Weite an, das tut den Aufgaben gut und auch den Menschen, denen wir begegnen. Es sind nicht nur die Aufgaben und Vorhaben, Pläne und wichtigen Informationen, die uns die Weite nehmen können. Auch Sorgen und Ängste, Erwartungen und sehnsüchtige Wünsche sowie der gesamte gesammelte Ärger machen es eng in uns. Das Ideal eines freien Kopfes bedeutet, möglichst frei von alledem zu sein, so oft es geht.

    Wir betrachten drei Aktivitäten: Planen, Ausführen und Ordnen. Planen ist nach vorne gerichtet, es bereitet uns vor – auf das, was auf uns zukommt. Weil die Wirklichkeit letztlich nicht planbar ist, steuern wir unsere Aktivitäten, wir führen sie aus. Führen ist auf den Augenblick unseres Tuns gerichtet – es bedeutet, bewusst zu handeln. Ordnen heißt, sich mit dem zu beschäftigen, was entstanden oder geworden ist. Wir hinterlassen Ordnung, wenn es möglich ist. Denn Dinge, die nicht ihren richtigen Platz finden, können wir nicht loslassen, sie nehmen uns unsere Beweglichkeit und machen uns unfrei für Neues. Im Planen, Führen und Ordnen begegnen uns somit Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Die Freiheit soll natürlich ihren Platz in der Gegenwart finden, nur dort macht sie Sinn.

    Selbstorganisation hat das Ziel, Freiräume zu schaffen und Leerheit herzustellen – nicht nur im Kopf, auch auf der Schreibtischoberfläche, in den Schränken und Schubladen, den Ablagen und Archiven, im Terminkalender und auf den Zetteln, auf denen man sich notiert hat, was alles noch zu tun ist.

    Der Weg dahin beinhaltet viele Entscheidungen. Manches wird man erledigen müssen, anderes darf man streichen. Manches macht man besser einmal ordentlich, sodass es lange vorhält, bei anderem darf man schnell sein – Hauptsache, weg damit. Die jeweiligen Entscheidungen fallen bei jedem von uns anders aus. Diese konkreten Entscheidungen sind subjektiver Natur, abhängig vom ästhetischen Empfinden des Einzelnen. Was für den einen stimmt, muss für den anderen nicht richtig sein. Für uns alle gilt aber: Wir können nur das organisieren, steuern und zielgerichtet beeinflussen, was uns bewusst ist. Darum ist es wichtig, die Dinge aufmerksam und genau zu betrachten. Dafür nutzen wir eine der wunderbarsten menschlichen Eigenschaften, das ästhetische Empfinden.

    1.2 Ästhetisches Empfinden

    Wir wissen heute, dass das Vernachlässigen der ästhetischen Bedürfnisse schwerwiegende Folgen haben kann, dass es uns schwächt und sogar krank machen kann. Eine verstärkte Aufmerksamkeit für diese Bedürfnisse kann dagegen sehr viel Positives bewirken.

    Dazu ein durchaus bemerkenswertes Beispiel: Eine spezielle Resozialisierungsinitiative in den USA, die sich um die gesellschaftliche Wiedereingliederung ehemaliger Strafgefangener bemühte, erreichte im gesamtamerikanischen Vergleich die besten Ergebnisse – durch Konzentration auf das Ästhetische. Man erzielte die niedrigste Rückfallquote in erneute Kriminalität, indem vor allem die ästhetischen Rahmenbedingungen der Klientel beachtet wurden – gutes Essen, gute Kleidung, eine schöne Möblierung der Wohnungen, rundherum positive Erfahrungen sowohl im Lebenskomfort als auch im Outfit der Exgefangenen. Diese Initiative brachte herausragende Resozialisierungsergebnisse und bekam viele Preise und Auszeichnungen. Es tut uns einfach gut, wenn wir uns in Rahmenbedingungen bewegen, die wir als angenehm empfinden, die unserem Geschmack entsprechen.

    Die Fähigkeit zum ästhetischen Empfinden bedeutet, dass wir in der Lage sind, eine Fülle von Wahrnehmungen zueinander in Beziehung zu bringen und sie im Idealfall in ihrer Gesamtheit als stimmig zu empfinden. Mit dieser Fähigkeit gestalten wir unsere Wohnungen, und wir setzen sie ein, wenn wir gute Freunde zu einem schönen Essen zu uns nach Hause einladen. Mit ästhetischem Empfinden hören wir ein Orgelkonzert in einem mittelalterlichen Dom, und der Parfümeur kreiert aus einer Vielzahl von unterschiedlichsten Komponenten seinen neuen Duft.

    Wenn wir im allgemeinen Sprachgebrauch davon reden, dass ein Mensch es in seinem Tätigkeitsgebiet zu wahrer Meisterschaft gebracht hat, dann meinen wir damit, dass er diesen Bereich in seiner Gesamtheit überblickt, dass er mit hohem ästhetischen Empfinden zu handeln vermag. Und wir können selbstverständlich davon ausgehen, dass er dort auch Liebe zum Detail empfindet.

    Ästhetisches Empfinden bedeutet, zu spüren, wie die Dinge zueinander passen, was in den Vordergrund gehört und was in den Hintergrund, was die Aufmerksamkeit erlangen und was dagegen nur am Rande erscheinen sollte, was ein guter Anfang ist und was ein gutes Ende. Es ist der Sinn für die Verhältnismäßigkeit der Dinge.

    Im Internetlexikon Wikipedia finden wir dazu: „Die Alltagssprache verwendet den Ausdruck ›ästhetisch‹ oft als Synonym für ›schön, geschmackvoll, ansprechend‹. In der Wissenschaft dagegen bezeichnet der Ausdruck die gesamte Kategorie von Eigenschaften, die darüber entscheiden, wie wir Objekte wahrnehmen, auch und insbesondere, ob wir sie als schön oder hässlich empfinden."

    Wir werden mit dieser Empfindung zum Beispiel die Funktionsfähigkeit unterschiedlicher Gruppen bewerten. Wenn wir mehrere Teams vergleichen, in denen wir sportlich aktiv waren oder beruflich gearbeitet haben, können wir sagen, in welchem Team es am stimmigsten war, wo beispielsweise gegenseitiger Respekt, die jedem Einzelnen zugebilligte Freiheit, die Klarheit, mit der über Grenzen geredet werden konnte, und die Fürsorglichkeit, die füreinander in Notsituationen vorhanden war, am ehesten ausgewogen waren.

    Ästhetisches Empfinden setzt ein waches Beobachten der Situation voraus, es schließt alle Sinne mit ein und ist ein subjektives Empfinden. Wegen seiner Subjektivität fällt es dem Menschen leichter, ästhetisches Empfinden dort zu verwirklichen, wo andere nicht hineinreden. Es ist im Kleinen leichter umzusetzen als im Großen, im Privaten leichter als im Beruflichen, im Häuslichen leichter als im öffentlichen Leben, in der Familie leichter als in der Weltpolitik. Ästhetisches Empfinden ist Voraussetzung, um zu wissen, wo man den Hebel am besten ansetzt.

    Aber es beschert uns auch unangenehme Gefühle. Manchmal erleben wir, dass viel Aufwand betrieben wird, um einen Teilbereich eines Themas ästhetisch aufzumöbeln, obwohl daneben etwas liegt, das nicht in der richtigen Verhältnismäßigkeit steht – zumindest nicht zu dem, was gerade in schönsten Anschein gebracht werden soll. Dieses störende Empfinden haben wir manchmal beim Betrachten großer Zusammenhänge, beispielsweise solcher, die mit dem globalen Zusammenwachsen oder mit der Ökologie zu tun haben, aber auch im Kleinen, im Privaten, im menschlichen Miteinander. Auch das entstehende Missgefühl, wenn auf einer Seite Dinge ästhetisch poliert werden, während anderes daneben deutlich vernachlässigt bleibt, kommt aus unserer Fähigkeit zum ästhetischen Empfinden.

    Dort, wo wir uns mit diesem Empfinden wohlfühlen, sind wir wacher, aufnahmebereiter und leistungsfähiger. Voraussetzung dazu ist eine gewisse Freiheit. Zwänge setzen diesem Empfinden ihre Grenzen. Sachzwänge, Termindruck und Zeitknappheit, starre Hierarchiestrukturen und Bürokratie können unseren Sinn für die Verhältnismäßigkeit der Dinge außer Kraft setzen.

    Entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch, der diese Fähigkeit als ein festes und unveränderliches Ausstattungsmerkmal einzelner Menschen definiert und damit Personen mit höherem von solchen mit niedrigerem ästhetischem Empfinden unterscheidet, werden wir feststellen, dass jeder mit diesem Potenzial ausgestattet ist. Allerdings wird es unter Stress gewaltig reduziert. In einem überforderten Zustand regiert oft nur noch die Kosten-Nutzen-Rechnung, und wir hören andere und uns selbst sagen: „Das geht jetzt nicht anders, das muss so sein, das können wir uns anders nicht leisten. Irgendwie schwingt in diesen Aussagen etwas mit, das nicht direkt ausgesprochen wird: „Auch wenn es dir nicht passt, auch wenn es deinem Empfinden widerspricht, auch wenn du dies als unpassend und irgendwie unästhetisch empfindest … es wird so gemacht!

    Keine Frage, es gibt solche Zwänge. Oft sind sie begründet, manchmal aber auch nicht. Sie können zum Beispiel auftreten, wenn im Miteinander jeder Mensch nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit sieht und die Zeit nicht vorhanden ist, sich ausreichend auszutauschen – ausreichend, um ein gemeinsames und umfassendes Bild von der Wirklichkeit zu erzeugen.

    Für die Selbstorganisation ist die Fähigkeit zu ästhetischem Empfinden eine Schlüsselfunktion. Den Sinn für die Verhältnismäßigkeit der Dinge wecken und stabilisieren zu können und ihn wiederherzustellen, wenn er einmal verloren ging, ist ein elementarer Bestandteil des eigenen Verantwortungsbereiches. Die Grundlage dafür liegt in unserem Körper, in unserer Biologie gegründet.

    Wir werden uns im Weiteren mit der Fähigkeit beschäftigen, die Verhältnismäßigkeit der Dinge zu erfassen – mit den daraus resultierenden Möglichkeiten wie mit den natürlichen Grenzen. Wir werden uns dafür mit unserer biologischen Natur, mit unseren Vorfahren vor zehn Millionen Jahren, mit der Funktionsweise unseres Gehirns und unserer Körperchemie vertraut machen. Aber zuerst einmal werden wir uns mit dem großen Gegenspieler des ästhetischen Empfindens auseinandersetzen, der Kosten-Nutzen-Kalkulation.

    Als ästhetisches Empfinden bezeichnen wir unsere Kompetenz, die Dinge der unterschiedlichsten Bereiche des Lebens in ihrer Verhältnismäßigkeit zueinander wahrzunehmen und darin Ordnung oder auch Unordnung zu empfinden – ohne dabei den Überblick zu verlieren.

    Ästhetisches Empfinden bezeichnet nicht nur das visuelle, geschmackliche Empfinden (schickes Design, schöne Wohnung etc.), sondern weiter gefasst die Fähigkeit, alle Wahrnehmungen zueinander in Beziehung zu bringen – sie im Idealfall im Gesamtbild als stimmig und „in Ordnung" zu empfinden, aber auch Störungen im Zusammenhang erkennen und benennen zu können.

    Leider verlieren wir beim Blick auf das Störende oft den Überblick und somit die ästhetische Empfindung für das große Ganze. Dadurch sind wir einmal mit höherem, ein andermal mit geringerem ästhetischem Empfinden ausgestattet. Empfundener Druck, Zwänge und starre Vorgaben wirken dieser Fähigkeit entgegen, Freiheit dagegen fördert sie.

    1.3 Die Kosten-Nutzen-Rechnung

    Vor einer Weile unterhielt ich mich mit dem Seniorchef meines italienischen Lieblingsrestaurants. Er ist ein fleißiger Mann, der mit seiner Frau jeden Tag der Woche viele Stunden lang arbeitet. Die Geschäftsführung gab er bereits vor längerer Zeit an die folgende Generation ab. Seine Arbeit ist dadurch jedoch nicht weniger geworden; von einem verdienten Ruhestand ist bei ihm noch nichts zu merken.

    Ein- oder zweimal im Jahr fährt er mit dem Auto nach Italien. Wenn er über die Alpen kommt und sich die weite Ebene Norditaliens vor ihm öffnet, wenn er dann eine Tomate aufschneidet und etwas Salz darüber streut, dann spürt er: Er ist dort, wo er hingehört. Eine Tomate mit Salz schmeckt jenseits des Alpenkammes einfach anders als bei uns in Wuppertal – ganz besonders ihm als Italiener.

    Seine leuchtenden Augen während dieser Beschreibung machten mir klar, dass es sich für diesen Augenblick lohnt, viele Anstrengungen auf sich zu nehmen: am richtigen Ort eine Tomate mit Salz essen zu können. Dieser Augenblick ist erfüllend und entschädigt für Mühen; es lässt sich lange von ihm zehren.

    Wir alle erleben solche Augenblicke. Oft sind es kleine, banale Erlebnisse, in denen wir ein Angekommensein spüren, in denen uns leicht wird und die uns für manches entschädigen. Es gibt ein natürliches Streben nach Erfüllung, eine Sehnsucht nach individuellem Glück, nach unserer ganz eigenen „Tomate-mit-Salz-Erfahrung jenseits der Alpen". Wir können dies als eine Art von Hunger bezeichnen. Für dessen Befriedigung nehmen wir Mühen auf uns, sind bereit uns anzustrengen, gehen wir Risiken ein und sind manchmal auch bereit zu scheitern.

    Alltäglich sind diese schönen Momente nicht – im Gegenteil, meist sind sie ein seltenes Gut. Dabei nehmen wir jeden Tag Mühen auf uns, ersehnen diese Augenblicke, bewusst oder unbewusst, und verpassen doch so viele Gelegenheiten des Ankommens. Wir verpassen sie. Diese Augenblicke sind oft ganz nah, aber wir sind zu weit von ihnen entfernt.

    Sicher kennen Sie – so oder ähnlich – die folgende Situation: Sie haben den Wunsch, in einem aufgeräumten Zimmer zu sitzen, zu entspannen und sich an der schönen Ordnung zu erfreuen. Dann räumen Sie alles auf. Aber anstatt sich dann hinzusetzen, fällt Ihnen schon die nächste Aufgabe ein. Und bevor Sie das aufgeräumte Zimmer genießen können, ist es schon wieder unordentlich geworden. „So ist das Leben, kann man sagen, aber muss es so sein? Eine innere Stimme flüstert: „Man muss eben immer wieder aufräumen, es geht nicht um den Genuss. Stell dir vor, wie es aussähe, wenn du nicht aufgeräumt hättest: Dann wäre es noch viel unordentlicher.

    Wer trägt die Verantwortung dafür, ob wir einen Augenblick Pause machen, nur so, zum Genießen, oder eben nicht? Wo bleibt nach dem Aufräumen der gesunde Egoismus? Wer fordert, weiter aufzuräumen? Nehmen Sie sich einmal für drei Tage probeweise vor, die Früchte Ihrer Arbeit jeweils im direkten Anschluss zu genießen. Lehnen Sie sich zurück und stellen Sie voll Freude fest: „Das ist geschafft und erledigt – gut gemacht!" Drei bis fünf Minuten reichen schon, und Sie werden merken, wie gut es tut. Es braucht allerdings Übung, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann die eine Tätigkeit aufhört und wo die nächste beginnt.

    Betrachten wir die Kosten-Nutzen-Rechnung: Von einem pragmatischen Standpunkt aus gesehen haben wir immer Kosten, auch dann, wenn wir keinen wirklichen Nutzen aus der Tätigkeit schöpfen oder mitnehmen. Würden wir die Kosten ablehnen, würden wir unseren Platz in dieser Gesellschaft verlieren. Der Nutzen hingegen muss erst einmal realisiert werden.

    Viel Mühe bedeutet noch lange kein gutes Ergebnis. Eventuell hat man sich richtig angestrengt und das Ergebnis war neutral: nicht gut, nicht schlecht − neutral eben. Von neutralen Ergebnissen kann man nicht zehren, sie stillen unseren Hunger nach schönen Augenblicken nicht, sind ästhetisch nicht befriedigend. Ein anderes Mal erhält man ein erfreuliches Ergebnis ohne besondere Anstrengung. Vielleicht war es sogar ganz einfach. Das Leben beschert einem auch Sonderangebote, es hält sich keineswegs immer an unsere Kalkulation.

    Die Kosten-Nutzen-Rechnung gehört zu der Art und Weise, wie wir das Leben bewältigen. Sie suggeriert uns, das Leben sei ein kalkulierbares Geschäft. Sie geht oft auf, aber oft eben auch nicht. Wenn nicht, dann nennen wir es Schicksal. Im Umgang mit der Unkalkulierbarkeit des Lebens – die viel größer ist, als wir es uns üblicherweise eingestehen – unterscheiden sich zwei Gemüter: die Optimisten und die Pessimisten.

    Zwar sagen alle: „Ein paar Glücksmomente mehr könnten meinem Leben nicht schaden. Oder: „Ein richtig gutes Ergebnis, das wäre schon klasse. Aber während die einen eher auf das Auftauchen von Sonderangeboten warten und sich in ihrem Optimismus entspannen, verleugnen die anderen, die Pessimisten, die Existenz der Freundlichkeiten des Lebens und halten es für notwendig, ihre Konzentration und Anstrengung kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Von der Kosten-Nutzen-Rechnung her lässt sich für beides argumentieren, beides hat Vor- und Nachteile.

    In einer Zeit, in der Optimismus vorwiegend positiv bewertet wird, Pessimismus fast immer negativ, ist dies eine etwas provokante Aussage. Und am sinnvollsten ist tatsächlich der Mittelweg, auf dem sich der pure Optimismus und der pure Pessimismus zugunsten einer realen Gegenwartseinschätzung vermischen. Dies gilt für die großen, gesellschaftlich relevanten Themen wie auch für die kleinen Themen des Alltags: Der Königsweg liegt meist in der Mitte.

    Die Frage, wie jener Mittelweg zu finden ist, wird uns weiter beschäftigen. Unsere Wahrnehmung, die Fähigkeit zur ästhetischen Empfindung und auch der hilfreiche mittlere Weg sind abhängig vom Zusammenspiel dreier Faktoren: der Aufmerksamkeit, der Konzentrationsfähigkeit und der Entspanntheit. Betrachten wir als Nächstes das Zusammenwirken dieser drei Faktoren.

    Die Unkalkulierbarkeit des Lebens ist größer, als sie uns oft erscheint. Sie hält uns jedoch nicht davon ab, in alltäglichen Situationen Kosten und Nutzen für anstehende Tätigkeiten geradezu automatisch zu kalkulieren.

    Auch die Unwägbarkeiten des Lebens werden einkalkuliert. Tun die einen dies als Optimisten und vertrauen auf das Glück, dann gibt es die anderen, die Pessimisten, die dem Pech den größeren Einfluss einräumen.

    Beides hat Vorzüge und Nachteile. Für eine reale Gegenwartseinschätzung ist die Mitte zwischen Optimismus und Pessimismus ein guter Ausgangspunkt.

    1.4 Aufmerksamkeit, Konzentration und Entspanntheit

    Etwas in uns weiß, dass vieles besser läuft, wenn wir entspannt sind. Wir kennen die Tücken der inneren Verkrampftheit und die Vorteile des positiven Denkens. Diese Seite in uns hat sich die Sonderangebote des Lebens gemerkt und kann mit diesen argumentieren. Sie meldet sich auch dann, wenn wir große Anstrengungen vermeiden wollen. Hier stellen wir uns gerne schöne Dinge vor und überlegen, wie es wäre, wenn uns dies oder jenes in ausgezeichneter Weise gelingen würde.

    Eine andere Seite in uns weiß, dass es ohne Anstrengung einfach nicht geht. Wir kennen die Gefahren, die in mangelnder Konzentration liegen, und manche sind vielleicht mit „Murphys Gesetz vertraut: „Alles, was schiefgehen kann, geht auch irgendwann schief. Auf dieser Seite wissen wir, dass das Leben kein romantisches Märchen mit garantiertem Happy End ist, dass ohne Anstrengung sich keine guten Ergebnisse erzielen lassen und dass wir dafür Anspannung und Ärger in Kauf nehmen müssen. Hier denken wir über das nach, was schiefgehen könnte, und bereiten uns bestmöglich auf die Tücken des Lebens vor.

    Nun müssen wir aber keine Entscheidung treffen, welche die bessere Einstellung ist, der Optimismus oder der Pessimismus – denn mit beiden wir werden unser Leben lang zu tun haben. Mit beiden können und müssen wir auskommen. Auch wenn wir der einen oder der anderen Haltung mehr zuneigen, beide haben ihre Berechtigung, und beide sind durch konkrete Erfahrungen entstanden. Ohne Führung besteht die Gefahr, dass eine Seite die Regie

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