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Manisch-Depressiv - Ein Mann sieht rot
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Manisch-Depressiv - Ein Mann sieht rot
eBook503 Seiten7 Stunden

Manisch-Depressiv - Ein Mann sieht rot

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Über dieses E-Book

Peter Plunger ist manisch-depressiv und lebt ein unauffälliges Leben im sozialen Mittelstand. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Neun Jahre lang hat er seine Freizeit dem Ausbau des gemeinsamen Zweifamilienhauses gewidmet, bis ihm seine Frau erklärt, dass sie die Scheidung will. Für ihn bricht eine Welt zusammen, plötzlich soll er ohne Frau, Kinder und familiäres Umfeld sein Leben fristen.
Nach einem acht Monate andauernden Rosenkrieg, steckt er voller Verzweiflung und innerer Wut das Haus in Brand, als seine Frau mit den Kindern im Urlaub ist.
Nach seiner Festnahme wird er zuerst in eine psychiatrische Unterbringung verbracht, da er suizidgefährdet ist, danach wird er in U-Haft verlegt.
Der Romanheld vermittelt seinen Leidensweg durch diese beiden Institutionen im Ich-Erzähler Stil und schwenkt immer wieder auf seine Kindheit und Jugend zurück die er in einem äußerst autoritärem Elternhaus verbrachte und dort von seinem tyrannischen Vater misshandelt und geprägt wurde.
Ein Buch für all diejenigen, welche die Tristesse anderer ertragen können.
SpracheDeutsch
Herausgeberwinterwork
Erscheinungsdatum5. Sept. 2013
ISBN9783864684999
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    Buchvorschau

    Manisch-Depressiv - Ein Mann sieht rot - Jürgen Wirth

    Kapitel 1 

    Der Tag Zero 

    Bei schönem Wetter machte ich, Peter Plunger, manchmal schon frühmorgens einen kleinen Spaziergang durch die Nachbarschaft, um Klarheit in meinen Kopf zu bekommen. Es war jetzt August, Hoch- sommer, und ich genoss es, das sommerliche Licht und den morgend- lichen Duft in mich aufzunehmen, zu beobachten, wie ein neuer Tag mit seiner Kraft begann und die Strahlen der Sonne langsam über den Hügel spitzten, um vorsichtig das Tal, in dem ich wohnte, zu berühren. Wohin mich auch immer meine Schritte trugen, es erfüllte mich stets mit einer geradezu euphorischen Stimmung, die mir für die nächsten Stunden niemand mehr nehmen konnte. 

    Es war ein Dienstag, ein wunderschöner Sommertag kündigte sich an, Grund genug, sich Gedanken für die abendliche Grillparty zu machen oder sich sonst irgendwie in der Natur auszutoben und sich von der Sonne verwöhnen zu lassen. 

    Für mich aber wurde es ein Tag, der mein Leben verändern sollte, und zwar nachhaltig. 

    Von dem, was in diesen Morgenstunden geschah, weiß ich nur noch wenig. Einzelne Fragmente sind noch da, aber die ergeben nur ein vages Ganzes, nichts, was ich mit seiner inhaltlichen Geschlossenheit vertreten kann. 

    Langsam wurde das Laufen, Reden und das Geplätscher der Feu- erspritzen wieder von der gaffenden Meute vor dem Haus übertönt. Immer wieder lief von Zeit zu Zeit ein Feuerwehrmann an der Kel- lertür vorbei und versuchte sie zu öffnen. Ich aber hatte sie von innen verschlossen und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich war zu- sammengekauert unter den Bettdecken auf das Sofa gekrochen und hoffte, hier nicht gefunden zu werden. Langsam wurde es unerträglich heiß unter der Decke und mir lief übel riechender Schweiß den Körper hinunter. Ich fühlte mich wie eine Ölsardine im eigenen Saft, nur mit dem Unterschied, dass ich noch nicht ganz so tot war wie diese. Ich traute mich kaum unter der Decke hervorzuspitzeln, denn die Tür mit der Milchglasscheibe war gerade einmal einen Meter von mir entfernt. 

    Jeder Zweite, der an der Tür, hinter der ich mich versteckt hatte, vorbeilief, presste seine Nase an die Scheibe und so mancher leuchtete mit seiner Taschenlampe in den Raum, in dem ich schmorte. 

    Ich wartete auf einen günstigen Moment, an dem ich meinen Brut- kasten verlassen konnte, um mich in die angrenzende Garage zu retten. Wozu eigentlich? Um meine Entdeckung möglichst lange hinauszu- schieben oder um endlich den Mut und die Verzweiflung so zu ver- einen, das Messer, welches ich schon seit beinahe zwei Stunden in der Hand hielt, endlich seiner Bestimmung zu übergeben und es mir mit dem Akt der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in mein unruhig schlagendes Herz zu stoßen? 

    Die Schritte, welche momentan zu hören waren, hörten sich eini- germaßen entfernt an, so schlüpfte ich vorsichtig unter der Decke hervor, um mich in kühlere Gefilde in den Nebenraum zu retten. Schon war ich mit beiden Beinen, Oberkörper und einem Arm unter der Decke hervorgekrochen, da durchfuhr das Geräusch der Klinke meinen Körper wie ein Blitz. Mir blieb nur noch, mich so nah wie möglich an die Tür zu pressen, um nicht durch einen flüchtigen Blick gesehen zu werden. Diese Nervensäge drückte den Türgriff vier Mal, um dann endlich zu begreifen, dass sie verschlossen war. Endlich trabte er davon und ich traute mich wieder zu atmen. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen 100-m-Lauf hinter mir, so war ich außer Atem. 

    Wofür eigentlich dieser ganze Stress mit meinem Versteckspiel, hatte ich Angst vor den Gaffern vor dem Haus oder vor der Ernüchterung der Realität? Ich wusste es nicht, ich war unfähig, mir einen Reim aus all dem zu machen, in dem ich mich befand. Ich wusste nur noch, dass ich noch lebte, aber was das in der Konsequenz für mich bedeutete, dessen war ich mir absolut im Ungewissen. Die Stresssituation mit den ständigen Versuchen, die Kellertür zu öffnen, zehrte an meinen Nerven und brachte meine Suizidabsicht durcheinander. Da ich so nah an der Tür klebte, konnte ich nicht erkennen, ob gerade jemand durch das Fenster sah, so konnte ich also nur nach Geräuschen gehen und hoffen, dass mein zweiter Versuch von mehr Erfolg gekrönt sein würde. 

    Mit einem beherzten Sprung pfiff ich um die Ecke, in die Garage, in der ich dann mit Schrecken erinnert wurde – ich hatte das Fenster selbst erst vor drei Monaten eingebaut –, dass es klare Fensterscheiben hatte. Unmittelbar vor der Scheibe stand ein Feuerwehrmann mit dem Rücken zu mir und riss einen seiner Witze, den er sicher schon x-mal von sich gegeben hatte. Für die Jungs war das meiste nun vorbei, und sie konnten zum gemütlichen Teil übergehen. Mir zerriss es beinahe das Herz, als ich die Fröhlichkeit der Männer da draußen hörte. Diese Gemütsstimmung hatte so gar keinen Platz mehr in meiner Welt, der Depression, in der ich mich trotz einer Überdosis eines Antidepressiva- Präparates befand. Wie konnte man nur fröhlich sein oder gar lachen. Ich dachte, dass ich nicht einmal die Energie dazu aufbringen könnte, um mir das Lachen zu leisten. 

    Bei all meinen dunklen Gedanken fiel mir wieder mein Messer ein, wo hatte ich es gelassen? Irgendwie musste ich es wohl bei meiner Tür- aktion liegen gelassen haben. Was jetzt? Noch einmal zurück, um das Messer für den „final cut" zu holen, oder weiter in Lethargie verharren? Mir fehlte jegliche Energie, um überhaupt noch etwas Entscheidendes tun zu können, vielleicht war ich auch nur froh, dass ich meinen Suizid einmal mehr nicht durchführen konnte oder wollte. Wie sehr wünschte ich mir eine leichte Manie, in der alles so einfach, so leicht von der Hand ging und so etwas wie Probleme nicht zu existieren schienen. Die erträgliche Leichtigkeit des Seins erschien mir so unerreichbar wie die Sterne am Himmel. 

    Ich fühlte mich erbärmlich und feige dazu. Alles, was ich zu tun ge- habt hätte, wäre, mir das Messer zu holen und einmal platziert und beherzt zuzustechen, damit wären für mich auf einmal alle Probleme für alle Zeiten aus der Welt geschafft, und für viele meiner Mitmen- schen sicher auch. Aber nicht einmal das brachte ich fertig. In meinem Gehirn gab es im Moment keinen rationalen Gedanken, nichts stand mir zur Verfügung, um mir das zu erklären, was ich getan hatte, oder gar, was ich jetzt tun sollte. Alles, was ich wollte, war, nicht vorhanden sein, weder für andere noch für mich selbst. 

    Zusammengekauert saß ich zwischen der Garagentür und den Schreibtischen und wartete, bis die Welt über mir zusammenbrach. Das aber tat sie nicht, sie drehte sich sehr wohl auch ohne mich gemütlich weiter, denn in dem Zustand, in dem ich mich befand, war ich schon längst nicht mehr unter den rational Lebenden. 

    Warum um alles in der Welt konnte ich an diesem Leben nicht so teilhaben wie die meisten Menschen? Ich hatte doch lange Jahre diese manisch-depressiven Stimmungsschwankungen durch die Medika- mente gut im Griff gehabt. Was in Gottes Namen brachte mich dies- mal so aus der Spur? 

    Jedes Mal, wenn ich die depressive Phase irgendwie überlebt hatte, glaubte ich, es sei das letzte Mal gewesen, fürchtete aber, dass es erst das letzte Mal war, wenn es auch das letzte Mal gewesen war. Das Ein- zige, was mich wirklich stabil halten konnte, war eine Familie in Ver- bindung mit einem brauchbaren Arbeitsplatz. War ich doch sieben Jahre bei einer Firma beschäftigt und hatte es dort mit viel Engagement und Spaß bis zu einer leitenden Position gebracht. Dies war die beste Zeit meines Lebens. Viel Arbeit, viel Erfolg, gute Arbeitskollegen und ein intaktes Ehe- und Familienleben, fein gewürzt mit Sport und guten Freunden. Nichts konnte mich da aus der Bahn meines Planeten- systems werfen und keiner meiner Freunde hatte je etwas von meinen Stimmungsschwankungen bemerkt. 

    Nach der Insolvenz der Firma, vor sechs Jahren, wurde es dann immer schwieriger. Da ich relativ viel Geld verdienen musste wegen der hohen Darlehensbelastung unseres Hauses, war ich gezwungen, leitende Positionen anzunehmen, die auch entsprechend dotiert waren. In den letzten Jahren seit der Insolvenz meiner geliebten Firma ging es mit den Anstellungen rapide bergab. Die erste Firma war so rudimentär, dass ich mir einfach nicht vorstellen wollte, dort bis zum Sankt-Nimmerleinstag zu bleiben. Also ging ich nach zwei Jahren zu einem anderen mittelständischen Betrieb, um dort als Einkaufsleiter Karriere zu machen. Das aber wurde nach einem halben Jahr zu einem totalen Flop, da der Technische Leiter menschlich einer von der miesesten Sorte war. Obwohl meine fachlichen Leistungen aus- gesprochen gut und auch messbar waren, konnte ich keinen Fuß fassen. Er gängelte mich, wo er nur konnte, und machte mir das Leben so schwer, dass wir uns nach neun Monaten, wie man so sagt, in beiderseitigem Einvernehmen trennten. Das war eine neue Erfahrung für mich. Noch nie wurde ich aus einer Firma hinauskomplimentiert, im Gegenteil, mein letzter Chef schrie mich bei meiner Kündigung an: 

    „Sie haben nicht das Recht, bei mir zu kündigen, das steht Ihnen nicht zu." 

    Diese neue Situation katapultierte mich innerhalb von wenigen Wochen in ein absolutes Loch, in eine Leere von nicht gekanntem Ausmaß. Die Situation, in der ich mich plötzlich befand, ließ nur noch Kälte und Angst zu. Anstatt mich neuen Bewerbungen zu widmen, zog ich mich immer mehr zurück. Das Einzige, was ich noch tun konnte und wollte, war lesen, mich in einem Buch zu vergraben und abzu- tauchen in die im Buch dargestellte Welt, die mit meiner Realität nicht das Geringste zu tun hatte. So verschlang ich ein Buch nach dem anderen, saß stundenlang zuhause im Sessel und bewegte mich nur zur Nahrungsaufnahme oder wenn ich zur Toilette musste. Obwohl ich mir besonders gegenüber meinen Kindern sehr armselig vorkam, konnte ich meine Situation nicht ändern. Schon der Gedanke an irgendwelche Aktionen wie Holz für den Ofen zu holen oder mich an den Computer zu setzen und mich endlich um eine neue Stelle zu be- mühen schreckte mich zurück. Nichts, absolutes Vakuum belegte meine Gefühls- und Aktionswelt. Glück war, dass ich noch drei Monate mein Gehalt fortbezahlt bekam, aber wie schnell war diese Zeit vorbei und damit die Geldnot akut. 

    Schweren Herzens ließ ich mich bei meinem Psychiater blicken und erzählte ihm von dem Drama, meiner Hoffnungslosigkeit, meiner Leere und der von innen strahlenden Kälte, die mich wie ein Monster befiel. Ich fror eigentlich den ganzen Tag, obwohl die Wohnung warm genug war. Was er mir mit auf den Weg gab außer dem Rezept, war der Rat, möglichst viel hinauszugehen und mich gefälligst um die Be- werbungen zu kümmern. Wenn das doch alles so einfach gewesen wäre. 

    In den Phasen meiner Depression wünschte ich mir immer, einen Schalter am Kopf zu haben, den ich einfach umzulegen bräuchte, und schon wäre alles vorbei, all diese Anstrengungen, mit denen ich konfrontiert wurde, wären dann ein für alle Mal nicht mehr relevant, nicht mehr existent. Während all dieser Jahre nach der Pleite meiner geliebten Firma hatte ich beinahe einmal im Jahr eine kräftige De- pression und danach eine leichte, herrliche Manie, und ohne meine geliebten Kinder wäre ich vielleicht den letzten Schritt gegangen, den Schritt in eine Welt, aus der es keinen Weg mehr zurück gab. 

    Der kalte Schweiß stand mir auf der Stirn und meine Muskeln verkrampften sich mehr und mehr, da ich nun schon etwa dreißig Minuten in derselben Stellung zusammengekauert dasaß und hoffte, dass die Menschen, welche im Haus immer noch hektisch hin- und herliefen, sich langsam, aber sicher wieder in Luft auflösten und ich mich endlich aus meiner unbequemen Stellung befreien konnte. Aber was dann, wie sollte es dann eigentlich weitergehen? Plötzlich hoffte ich, dass die Feuerwehr ihren Job gut gemacht und ich das Feuer möglichst schlecht gelegt hatte. Ich hatte keine Ahnung vom Ausmaß meiner Tat und wünschte, es wäre nie geschehen. Hätte ich je die Möglichkeit, den von mir angerichteten Schaden wiedergutzumachen, ich hätte alles dafür getan. Würden meine Frau und meine Kinder mir je verzeihen? Welche Freunde würde ich verlieren? Gab es für mich überhaupt ein Leben danach? Fragen über Fragen, und das war sicher nur die Spitze des Eisberges. Mein Suizid hätte alle Probleme mit einem Mal behoben, ich aber kauerte von verkrampften Muskeln geplagt am Boden und wollte nur noch eins, ich wollte einfach nicht mehr existent sein, stattdessen das Rad der Zeit noch einmal zehn Jahre zurückdrehen, ja, in diese Zeit sehnte ich mich so zurück. Jetzt aber war jetzt, und in diesem Jetzt wurden die Stimmen im Heizungskeller wieder lauter. 

    Wieder wurde die Klinke an der Tür zum Vorraum, in den ich mich zuerst geflüchtet hatte, mehrmals gedrückt. Dann hörte ich die Stimme eines Bekannten, der bei der Feuerwehr war, Franz Sieger. Ich kannte ihn, er war ein Mann der Tat, und kaum hatte ich diesen Gedanken produziert, hörte ich schon ein lautes Gehämmer am Türschloss. Nicht einmal eine Minute dauerte es, bis die Tür offen stand. Jetzt trennten mich nur noch lächerliche fünf Meter von meinen „Befreiern". Franz, den ich vom Vereinsleben her kannte, war als Erster bei mir und ich hörte ihn fragen: 

    „Peter, was machst du da? Was hast du nur gemacht?" 

    Ich öffnete die Augen, sah ihn an, brach in Tränen aus und sagte irgendetwas wie: 

    „Sie hat mir alles genommen, was ich hatte ..." 

    Weiter kam ich nicht, da ich vor lauter Heulen kein Wort mehr aus mir herausbrachte. Inzwischen war der Raum überfüllt von Feuer- wehrleuten und Zivilisten, die ich noch nie gesehen hatte. Ich war total aufgelöst und heulte weiter hemmungslos vor mich hin. Plötzlich be- merkte ich, wie eine Stimme auf mich eindrang. 

    „Kriminalpolizei, stehen Sie bitte auf!" 

    Erst beim dritten Mal, nachdem die Stimme aufdringlicher und lauter wurde, bemühte ich mich aufzustehen. Aber es ging nicht, denn meine Muskeln waren inzwischen eingeschlafen. Mittlerweile waren so viele Leute im Raum, dass man sich kaum noch bewegen konnte. Irgendwie schaffte ich es doch, aus meiner Hocke hochzukommen, und spürte, wie mir alle Knochen und Muskeln im Beinbereich schmerzen. Langsam fing ich an, Stück für Stück die Realität schemenhaft zu be- greifen, was mehr und mehr dazu beitrug, mich völlig aufgelöst an einem Schrank festzuhalten, damit ich nicht wieder in mich zusammen- sank. Irgendwelche Stimmen drangen auf mich ein und ich versuchte, so gut ich konnte, darauf zu reagieren. Ich heulte mehr, als ich reden konnte, und bekam dabei kaum noch Luft, brachte keinen vernünftigen Satz zusammen. Einer der in Zivil gekleideten Männer sagte zu mir, ich solle meine Kleidung komplett ausziehen. Was wollte er nur von mir, dachte ich, und zu meiner Überraschung hielt er mir einen Sack hin mit dem Kommentar: 

    „Zur Beweisaufnahme." 

    So entledigte ich mich meiner Hose und meines Hemdes, und gerade als ich mich mit meinen bereitgelegten Klamotten wieder anziehen wollte, fauchte mich der Kerl an: 

    „Alles!" 

    Er war also mit seiner Beute noch nicht zufrieden, so zog ich mich, umringt von Kripo und Feuerwehrleuten, splitternackt aus und war froh, dass ich wieder in meine Kleider schlüpfen konnte. Fragen der Kripobeamten brachen über mich herein, welche ich mit meinem besten Bemühen kaum beantworten konnte, dazu war ich einfach zu aufgelöst. Das Einzige, was ich jetzt wollte, war, dass all diese Leute verschwinden sollten und ich endlich schlafen konnte. Ich war von einer bleiernen Müdigkeit befallen, die ich so noch nicht gekannt hatte. Ich befand mich in einer totalen körperlichen und seelischen Er- schlaffung, inmitten von fremden, durcheinander redenden Menschen, die mir ständig unverständliche Fragen stellten oder mich nur be- gafften. Der Aufforderung, meine Arme auszustrecken, konnte ich folgen und es machte zweimal klick, und schon wurde mir wenigstens diese Situation bewusst. Ich war wieder in einem Teil der um mich herum geschehenden Realität angekommen. Spätestens jetzt wurde mir bewusst, dass ich großes Unheil angerichtet haben musste. Geschah all das „nur", weil mich meine Frau mit den Kindern verlassen hatte? Hatte sie mir mit dieser Entscheidung nicht meinen Lebensmittelpunkt genommen? Plötzlich hatte ich keine Familie, keine Frau und keine Kinder mehr, ich befand mich im totalen Vakuum, ich war herauskata- pultiert aus meiner Mitte in eine ungewisse Umlaufbahn. 

    Vor einem guten halben Jahr hatte sie mir eröffnet, dass sie die Scheidung wollte. Von da an hatten wir unseren Rosenkrieg pur. Sie ließ keine Gelegenheit aus, bei Nachbarn und Freunden schlecht über mich zu reden. Sie betrachtete die Kinder als ihr Eigentum und achtete stets darauf, dass sie möglichst wenig mit mir in Kontakt kamen. Schließlich bezahlte sie auch ihren Anteil an unserem gemeinsamen Haus nicht mehr, sodass alles an mir hängen blieb. All diese Ereignisse der letzten Monate, gepaart mit meiner täglich wachsenden Depression, führten schließlich zu meiner Schreckenstat, die niemandem etwas nutzte und nur Verzweiflung, Ratlosigkeit, Tränen und Kosten hinter- ließ, deren Ausmaß mir zu dieser Zeit noch nicht im Geringsten klar war, ja, mehr noch, ich war nicht einmal ansatzweise in der Lage, auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Durch meine Depression, in der ich mich von sozialen Kontakten mehr und mehr zurückzog, fühlte ich mich so allein auf dieser Welt, wie man nur sein konnte. 

    Mein Gott, wo war ich jetzt nur gestrandet? Von jetzt ab ging meine Reise ins Ungewisse. Ich fühlte mich in einem Fahrstuhl, der nur noch nach unten fuhr, eine Fahrt, welche ich ohne fremde Hilfe nicht mehr anhalten konnte. 

    Einer der Kripobeamten eröffnete mir, dass wir erst einmal zu meiner Vernehmung aufs Revier fahren würden. Damit begann mein Spießrutenlaufen durch die Gaffer und sensationsgeilen Reporter vor dem Haus. Freundlicherweise legte mir einer der Beamten meinen Pullover über die Handschellen, damit ich nicht ganz so leidend auf die Straße vor die Meute treten musste. 

    Das Fahrzeug war relativ weit vom Haus entfernt geparkt. Anfangs gingen wir langsam durch die Räumlichkeiten im Untergeschoss, um dann durch die Garage ins Freie zu gelangen. Dort angekommen sah ich auf den Boden, sodass ich niemanden ansehen musste. Ich schämte mich bis auf die Knochen und wünschte mir, dass ich doch den Mut gehabt hätte, mich umzubringen. Könnte ich mich je wieder in dieser kleinen Gemeinde sehen lassen oder würden fortan die Menschen mit Fingern auf mich zeigen? Eilenden Schrittes versuchte ich den Weg zwischen der Garage und dem Fahrzeug so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. 

    Nun, da die Hauptperson endlich ihren Auftritt hinter sich hatte, sah ich noch beim Zurückblicken, dass sich der Mob langsam auflöste und kopfschüttelnd seiner Wege ging. Wie aufregend es doch war, dass in einem solch kleinen Kaff einmal etwas „Richtiges" geschah. 

    Kapitel 2 

    Als ich mit meinen Handschellen im Fahrzeug so vor mich hin- dämmerte, wünschte ich mir, dass das alles nur ein böser Traum ge- wesen war, aus dem ich nun endlich wieder aufwachen wollte. Aber es sollte erst das Intro zu einer abgrundtiefen Leidensphase werden, aus der ich entweder gebrochen oder gefestigt hervorgehen sollte. 

    Wir fuhren also zu meiner Vernehmung in die nächst größere, etwa dreißig Kilometer entfernte Stadt. Wir, das waren zwei Kripobeamte und ich mit meiner Armbereifung. Betretenes Schweigen erfüllte den Raum. Die vertraute Landschaft zog an mir vorbei und ließ in mir den Wunsch wachsen, das alles ungeschehen zu machen. 

    Diese unsinnige Tat, aus der ich als Verbrecher hervorging, isolierte mich noch mehr, als ich das in meinem Dasein für möglich gehalten hatte. Der Beamte, der neben mir auf der Rückbank saß, versuchte mich noch einmal zum Reden zu bringen. Ich wollte auch antworten, aber ich brachte immer noch kein verständliches Wort heraus, so erregt und aufgelöst war ich. Er aber versuchte es auch nicht weiter, und so sank ich einfach in mich zusammen und döste vor mich hin. Ein Wasserfall von salzigen Tränen lief mir plötzlich die Wangen herunter und ich beobachtete, wie sie auf die Handschellen tropften. An meinem Bestimmungsort angekommen, ging es hinauf in den ersten Stock, in einen Raum, in dem ich erst noch gewogen, vermessen und abgelichtet wurde. Zuvor wurden noch meine Personalien aufgenommen und bis dahin ging alles recht freundlich und entspannt seinen Gang. 

    Inzwischen war es früher Nachmittag und ich wurde einen Stock höher zur Vernehmung gebracht. Dort wurde ich gefragt, ob ich einen Kaffee oder ein Wasser zu trinken möchte. Ich sagte: 

    „Beides." 

    Dabei fiel mir ein, dass ich noch nicht einmal ein Frühstück zu mir genommen hatte, und so fragte ich nach etwas Essbarem. 

    „Im Moment nicht, später dann, jetzt müssen wir erst einmal schauen, dass wir mit der Vernehmung vorankommen." 

    Die beiden Beamten, die mich verhörten, machten einen umgäng- lichen Eindruck, so fiel es mir nicht schwer, mich zu öffnen und über mein Leben, meine Ehe und schlussendlich über die Tat selbst zu sprechen. Nach vier Stunden Verhör und fünf Tassen Kaffee sowie einer Flasche Sprudel waren alle Beteiligten sichtlich erledigt und das Verhör war abgeschlossen. 

    Danach wurde ich ins Untergeschoss geführt und einer der Beamten eröffnete mir, dass nun eine sehr harte Nacht auf mich zukommen würde. Wir kamen in einen vergitterten Gang, der mit einem großen Schlüssel zugänglich wurde. Nach etwa dreißig Metern kam ein weiteres Gitter und danach sah ich an der linken Wandflucht fünf Metalltüren, hinter denen sich Zellen befanden. Mir wurde die letzte Zelle zu- gewiesen, und nachdem ich bei meiner Festnahme ja schon alles Persönliche wie Uhr, Ring und Halskette abgegeben hatte, wurde mir in der Zelle gesagt, ich solle alles bis auf die Unterhose ausziehen. Das aber ging nicht, da ich keine Unterwäsche trug, ich konnte diese Enge einfach nicht ausstehen. Gnädigerweise – ich hätte sonst nackt in der ebenso nackten Zelle verbleiben müssen – durfte ich meine Jeans an- behalten. 

    Da stand ich nun in einer dreimal drei Meter großen, bis an die Decke dunkelbraun gefliesten Zelle. In einer Ecke neben der Tür war eine Kamera installiert, unter dieser eine Toilette. Die Tür selbst war noch mit einem Spion versehen und an der gegenüberliegenden Seite war ein vergittertes Fenster, dessen Sims bis auf circa zwei Meter herunterreichte. Von dort aus konnte man, wenn man auf das Bett stieg, den Innenhof des gesamten Komplexes einsehen. Unter dem Fenster war das sogenannte Bett, eine Holzkonstruktion, auf der eine mit Gummi überzogene Matratze lag. Was mich sehr erstaunte und ebenso abschreckte, waren die beiden Edelstahlplatten, welche am Kopf- und Fußbereich in die Wand eingelassen waren, wobei an jeder Platte ein zum U gebogener Rundstahl angeschweißt war und dieser jeweils einen massiven Eisenring beherbergte. Hier also war die Möglichkeit, besonders widerspenstige Gesellen zu fixieren. In Ge- danken malte ich mir die schlimmsten Foltergeschichten aus. Allein die Vorstellung, an ein solches Bett gefesselt zu sein, manifestierte in mir den Entschluss, mich nicht in dieses Bett zu legen, dagegen bevorzugte ich den gefliesten Boden mit all seiner Härte, bewaffnet mit zwei Decken als Nachtlager. 

    Langsam meldete sich der Kaffee und Sprudel und ich musste, wenn auch widerwillig, auf die Toilette, welche aus humanitären Gründen im toten Winkel der Kamera lag. Zum Spülen musste ich auf die Klingel neben der Tür drücken, damit die Aufsicht von dort ein Ventil frei- schaltete. Als die Beamten mich in dem Verlies allein ließen, war mir noch gesagt worden, dass mein Essen demnächst kommen sollte, das war vor einer Stunde gewesen. Inzwischen meldete sich einmal mehr mein Magen, hatte ich doch außer Kaffee und Wasser den ganzen Tag noch nichts bekommen. 

    Jetzt, mit mir und meinen Gedanken allein gelassen und außer meinen beiden Decken nichts Wärmendem, weder für den Körper noch für meine Seele, stellte sich für mich eine große Leere ein. Ich war in meinem Leben noch nie so allein und hilflos gewesen wie in diesen Momenten. Erst jetzt wurde mir meine ausweglose Situation bewusst, und ich war so frustriert, dass ich nicht einmal mehr heulen konnte. Kam ich mir doch vor wie in einer Folterkammer, deren nackte Wände mit den Folterwerkzeugen an der Wand um die Gunst ihres Betrachters buhlten. Um etwas mehr von der Freiheit außerhalb meiner vier Wände zu sehen, stieg ich auf das Bett. Noch war es hell und sonnig draußen, es war schließlich Hochsommer und die Sonnenstrahlen schienen mich geradewegs auszulachen. Was mir besonders auffiel, waren die Vögel, die, als wollten sie mich strafen, vor dem Fenster in einem großen Busch ihr buntes Spiel trieben. Besonders weh tat mir die Tatsache, dass die Schallschutzfenster von solch guter Qualität waren, dass sie es nicht zuließen, dass auch nur das kleinste Geräusch zu mir herunter drang. Ich war total isoliert von dieser Welt, gehörte praktisch nicht mehr dazu. Verlassen, allein, abgenabelt von allen sozialen Kontakten, mit knurrendem Magen und einer unbeschreiblichen Sehnsucht nach meinen Kindern, drehten sich meine Gedanken um das „Warum". 

    So begann ich wie ein Tiger in der Zelle hin und her zu gehen, un- fähig, auch nur einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen; so ver- suchte ich an meine Kinder zu denken, die jetzt mit meiner Frau am Tegernsee bei einer Familienfeier waren, unbeschwert Blödsinn machten und sich freuen konnten. 

    Ich wollte versuchen, mir die Realität vor Augen zu führen, mir ein Konzept zu erarbeiten, wie ich diese Situation, in der ich mich nun befand, so gut wie nur möglich meistern konnte. Es ging aber nicht, meine Ratio funktionierte nur an der Oberfläche, sodass ich mehr gedankenlos jeweils meine sieben Schritte vor und wieder zurück ging, und das in einer schier endlosen Schleife. Hatte ich doch denen, die ich am meisten liebte, mit meiner Tat jetzt den Mittelpunkt ihres Lebens genommen. 

    Eigentlich hätte am nächsten Tag meine Hüftoperation auf dem Plan gestanden, eine Maßnahme, die schon längst fällig war, die ich nun aber auf unbestimmte Zeit verschieben musste. Stattdessen sollte ich am darauf folgenden Tag dem Haftrichter vorgestellt werden, und wenn ich den Aussagen der Kripobeamten Glauben schenken sollte, dann würde dieser eine entsprechende U-Haft in die Wege leiten, bis meine Verhandlung auf dem Plan stand. Mit einer Freilassung bis zur Ver- handlung sei eigentlich nicht zu rechnen, da es sich um eine Be- ziehungstat handelte. Diese Verhandlung könne dann frühestens im November stattfinden, bis dahin, so wurde mir versichert, wären die Untersuchungen abgeschlossen. 

    Langsam begann sich mein Magen massiv zu melden, es durfte nach der Helligkeit jetzt so gegen halb neun sein und ich war nicht bereit, länger passiv an meiner Versorgung teilzuhaben. Ruhelos ging ich den mir zur Verfügung stehenden Raum ab, den Kopf auf den Boden ge- senkt, mit der einzigen Abwechslung, ab und zu auf die Folterbank zu steigen, um zu sehen, was mir die Natur dort wohl bieten würde. Meine Geduld war zu Ende und ich entschloss mich, bei der Aufsicht zu klingeln, um nach meiner Verpflegung und dem Wasser zu fragen, welches ich vor weit mehr als einer Stunde bereits bestellt hatte. Anstatt sich zu entschuldigen, dass es so lange dauerte, wurde ich auch noch zurechtgewiesen mit der Bemerkung, dass das hier nicht das Hilton sei. Na danke, darauf wäre ich jetzt nicht gekommen. Trotzdem wurde mir versichert, dass das Wasser mit dem Klopapier demnächst kommen würde und das Essen bald. Die Beamten seien eben alle im Einsatz. 

    Ich überlegte, was ich tun könnte, um in der Zelle nicht in ein tiefes mentales Loch zu fallen, wie Steve McQueen in dem Film „Papillon", der sich dann in Kilo vierzig, so nannte man das Strafgefangenenlager in Französisch Guyana, schlussendlich mit einem Käfer anfreundete, dem einzigen Lebewesen in seiner Dunkelhaft. Da herrschten zwar ungleich härtere Zustände, aber für mich war der Weg dahin nicht mehr allzu weit, sicher hervorgerufen durch meinen jämmerlichen Seelenzustand. 

    Was jetzt, mein Junge? Warum muss sich deine Seele immer so ver- letzt fühlen, wenn man dich ablehnt oder verlässt? Loslassen ist sicher- lich für viele Menschen nicht ganz einfach, aber der Verlust meiner Frau, meiner Kinder, ja meines gesamten sozialen Familienlebens, zu- dem die unsichere Jobsituation, das alles auf einmal war eben doch etwas zu starker Tobak. Ich war nicht in der Lage, mir zu sagen: Na ja, das musst du eben so hinnehmen und jetzt nach vorne schauen, ein- fach neues Spiel, neues Glück, fertig, abhaken. 

    Nein, so einfach war es nicht, und schon gar nicht in meiner der- zeitigen mentalen Stimmungslage. War ich doch durch die Vorkommnisse der letzten acht Monate in einen bedenklich depressiven Zustand geraten, nicht wissend, wie ich da wieder herauskommen sollte. Das war auch der Grund, warum ich die von meinem Psychiater verordneten Antidepressiva um das Doppelte erhöht hatte. Seit elf Jahren schon wurde mir ein Medikament gegen die manisch- depressiven Stimmungsschwankungen verschrieben, welches ich auch all die Jahre in mich hineingestopft hatte und so einen erträglichen Zustand erreichte. Ich fühlte mich stabil, bis dieser Scheidungswahnsinn mit nachfolgendem Rosenkrieg über mich hereinbrach. Wie also kam es zu dem, was nun gekommen war? Wann begann mein einst so balanciertes, ausgewogenes und klar strukturiertes Leben außer Kontrolle zu geraten wie eine Raumsonde die plötzlich nicht mehr den Gesetzen der Gravitation gehorchte, unmanövrierbar ihre Kreise durch das All zog und von der Nähe eines schwebenden Himmelskörpers angezogen wurde, um dann auf dessen Oberfläche zu zerschellen und in abertausend Stücke zu zerbersten? Wann genau war der Moment, als meine Ehe in Millionen kleine Stücke zerbarst, die niemand mehr im Stande war zusammenzufügen? Diesen Moment aber gab es natürlich nicht. Auch wenn ein Teil meines Lebens sich rettungslos in tausend Stücken darstellte, saß der Rest meines Lebens nicht einfach tatenlos da und wartete geduldig auf bessere Zeiten. Das Leben ließ mir nicht den Raum, die Muße, mich erst einmal zu fassen, mich erst einmal auf die neue Situation einzustellen, nein, es fuhr ein- fach fort, eine Gegebenheit auf die andere anhäufend wie ein Brief- träger, der von Briefkasten zu Briefkasten eilt, um sich von der Last 

    seiner Fuhre zu befreien. 

    Täglich bröckelte etwas mehr von meinem Ich, von meinem Selbst- vertrauen, und täglich wurde ich mehr von meiner Frau in die Enge gedrängt. Gegen eine solche Situation helfen eben keine Pillen und keine Medizin, da half trotz allem nur Augen zu und durch, und genau das konnte ich in meiner Lage nicht mehr realisieren. 

    Plötzlich herrschte wieder diese Ruhe, diese eisige Stille, welche nur durch meine barfüßigen Schritte unterbrochen wurde. Die dabei ge- wonnene Erkenntnis, dass das erst das Intro dessen war, was mich noch erwartete, trieb mich annähernd an den Rand der Verzweiflung. Wie nur sollte ich das überleben? So konnte ich nur hoffen, dass die U- Haft lockerer, ja menschlicher gestaltet sein würde als das, was ich hier vorfand. 

    Inzwischen war es schon Nacht geworden und ich war froh, dass das Licht in der Zelle angelassen wurde. Was sollte ich nur tun? Ich war plötzlich alles andere als müde, wollte mich auch nicht hinlegen; ich fühlte mich zwar schlapp, aber in meinem Kopf drehte sich alles kreuz und quer durcheinander, ich war viel zu überdreht, um auch nur einen Gedanken an Ruhe zu verschwenden. Ich musste mich mit irgendetwas beschäftigen, meiner Existenz einen wenn auch noch so kleinen, aber sinnvollen Zeitabschnitt präsentieren. Alles, was im Raum war, waren drei Kunststoffbecher, eine Rolle Klopapier, eine Matratze mit Gummiüberzug, zwei Decken und ich, bekleidet mit einer Hose. 

    Wie ich so mit gesenktem Kopf durch die Zelle ging, fiel mein Blick auf die quadratischen Fliesen. Mir fiel dabei sofort auf, dass sie eine gute Basis für ein Brettspiel waren, die Brettspiele Dame und Schach, das Spiel der Könige. Ich entschied mich, Dame zu spielen, da die Figuren für mich viel einfacher herzustellen waren. Die Fliesen waren schwarzweiß gesprenkelt und die Figuren stellte ich aus Toilettenpapier her, die Weißen aus runden Scheiben und die Schwarzen machte ich zu Würsten, welche ich dann zu einem V abknickte. Es dauerte nicht lange und schon konnte ich gegen mich antreten. Dann änderte ich noch die Regeln dahingehend, dass jede Partei gerade fahren, aber nur diagonal schlagen konnte. Da ich auf jeder Seite mit zwölf Figuren spielte und alle Felder gleich aussahen, wurde es bald relativ verzwickt und unüber- sichtlich, aber das war es ja gerade, was ich wollte: Flügel für meine Seele. Das Einzige, was zählte, war die Ablenkung, das Vorantreiben der Zeit und der Versuch, sich möglichst viel zu beschäftigen. Die Ab- lenkung war so gut, dass ich die Schergen erst bemerkte, als sie schon kurz vor meiner Zellentür standen. Wieder dieses durch Mark und Bein gehende Schlüsselrasseln, und schon stand die Tür offen, in der Tür stand ein Beamter mit seiner Kollegin. Trocken vernahm ich: 

    „Ihr Abendessen." 

    Der Beamte drückte mir ein in Alufolie gewickeltes Etwas in die Hand und forderte mich auf, ihm die Folie aus Gründen eines mög- lichen Suizids wieder zurückzugeben. Was mir blieb, waren zwei Doppelstullen mit Käse, welche ich, obwohl sie ziemlich trocken waren, mit Heißhunger verschlang. Das tat richtig gut. Seine Kollegin füllte mir noch einmal meine drei Plastikbecher, leider wieder nur mit Wasser; wäre ich jetzt in Frankreich, so würde ich zum Abendbrot wenigstens ein Glas Wein gereicht bekommen. Aber ich war nur im spartanischen Schwarzwald, da musste ich froh sein, mit dem bedient zu werden, was ich eben bekam. Beim Hinausgehen sagte mir die Lady noch, dass ich, wenn ich möchte, den Rufknopf drücken könne, um mit ihr zu reden. Wieder schenkte sie mir ein Lächeln, was mir das Gefühl gab, nicht ganz allein auf dieser Welt zu sein. Ich war froh über jedes Wort, das mit mir gesprochen wurde, selbst wenn es nur aus dem Mund des Blödmanns kam, und selbst wenn er noch solch ein Unsympath war, es lenkte ab von der Monotonie, der Einsamkeit, der trostlosen Situation, in die ich mich hineinkatapultiert hatte. 

    Ich bedankte mich noch bei der Lady für das nette Angebot und dachte mir, dass ich es sicher gegen später annehmen würde. Nachdem ich mit Genuss die beiden Stullen gegessen hatte, widmete ich mich wieder meinem Spiel. Im Moment sah es gar nicht so rosig aus für mich, da ich den Fehler, den ich in der ersten Spielphase gemacht hatte, bisher nicht kompensieren konnte. Im Prinzip war es zwar nicht von Wichtigkeit, wer dieses Spiel gewann, nur wollte ich so neutral wie nur irgend möglich die beiden Spieler am Brett vertreten. Wichtig war nur, dass ich meinen Kopf anstrengte und die Zeit mit etwas möglichst Sinnvollem verstrich. Als ich in einer Spielpause so vor mich hindachte, kam ich zu der Überzeugung, dass in einer solchen Umgebung, in der ich mich derzeit befand, sicher der Begriff „die Zeit totschlagen" ge- boren worden sein musste. 

    Inzwischen war es sicher schon weit über zehn Uhr, und je später es wurde, umso mehr stieg meine innere Unruhe. Wieder beschlich mich diese absolute drohende Stille. In meiner Zelle war nicht das geringste Geräusch zu hören, kein Rascheln, kein Rauschen oder gar Pfeifen, nichts, absolut nichts. Noch nie hatte ich erfahren, wie schmerzhaft eine solche Stille sein konnte, diese Stille, die für mich gleichbedeutend war mit Einsamkeit, Ausgestoßensein von einer Gesellschaft, der ich fortan für unbestimmte Zeit nicht mehr angehören würde. Und plötzlich war meine ganze Welt eine riesige Gefahrenzone, ein böser Alptraum aus Fallen und unüberwindbaren Labyrinthen. Die Einsamkeit der Stille vermittelte mir das Gefühl des Lebendig- Begrabenseins. Also galt es, dieser Stille den Kampf anzusagen, was in dieser Arena ein sehr ungleicher war, da die Waffen sehr ungerecht verteilt waren. So musste die Stille nur stillhalten, wogegen ich mit irgendetwas in Aktion treten musste, und das tat ich auch, wenn auch in begrenztem Maße. So versuchte ich vor mich hinzusummen, während ich stetig auf und ab ging. Selbst pfeifen versuchte ich, aber das erforderte von mir ein Maß an Energie, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht aufbringen konnte. Nach einer ganzen Weile setzte ich mich wieder zu meinem Spiel, das mir langsam richtig Spaß machte, war es doch nun in eine Phase gekommen, in der es eine Unmenge von Möglichkeiten gab. 

    Gehörte ich doch zu den Menschen, denen ständig etwas anderes einfällt, während sie mit etwas beschäftigt sind; so konnte ich mich nicht einfach hinsetzen und ein Stück auf der Gitarre üben, ohne zwischendurch ein Schachproblem zu durchdenken, ich konnte nicht Schach spielen, ohne gleichzeitig über den Verlauf meines letzten MTB-Rennens nachzusinnen, im Fußballstadion grübelte ich über irgendeinen Film, den ich tags zuvor gesehen hatte, und wenn ich schließlich nach Hause kam, konnte ich keine längere Zeit mit dem Buch still sitzen, weil es mich nun wieder zu meinen Kindern hinzog. Wo immer ich also war und wohin ich auch immer ging, stets hinterließ ich eine unruhige Spur. 

    Ich stand also wieder auf und begann meine Wanderung auf bekannten Pfaden, ohne mir noch weitere Gedanken zu machen, wie spät es war. Danach folgten drei Mal zwanzig Liegestützen und unzählige Kniebeugen. Plötzlich meldete sich wieder meine Hüfte mit Schmerzen und ich setzte mich auf den Boden vor mein Spiel. Ich war nicht fähig, irgendeinen konstruktiven Gedanken zu produzieren, und wischte die Papierfetzen mit einem Handstreich voller Wut durch die Zelle. 

    Ich musste mich irgendwie ablenken. Wieder tigerte ich in der Zelle so lange hin und her, bis ich es leid wurde, dann setzte ich mich in eine Ecke des nackten Raumes und warf mir die Decken über die Schulter. So saß ich da wie ein Indianer, einsam mit einem kleinen Schimmer Hoffnung in mir, der hieß Zeit. Die Zeit sollte im Verlauf meiner Haft noch mein bester Verbündeter werden, denn sie tickte für mich, unaufhaltsam. 

    Was wohl morgen auf mich zukommen würde, würde alles der Haft- richter entscheiden, dieser allmächtige Diener des Staates, der über Freiheit und Inhaftierung richtete. 

    Ich wollte und konnte nicht schlafen. Wenn ich tot war, konnte ich noch genug schlafen, und im Moment war ich viel zu überdreht und unruhig, um nur einen Gedanken an Schlaf zu verschwenden. Mein Geist war ins Treiben geraten, und wenn es einmal so weit war, besaß ich nicht mehr die Kraft, ihn aufzuhalten. Irr und wirr flogen meine Gedanken durch mein aufregendes Leben, von dem außer verbrannter Materie und Asche, vermischt mit Angst und Hoffnungslosigkeit, nicht mehr allzu viel übrig geblieben war. Das Einzige, was mir noch blieb, waren meine Kinder, von denen ich nicht wusste, ob sie mir jemals verzeihen konnten. Die nächsten Stunden verbrachte ich mit der Marterung meiner Seele, mit Selbstmitleid, Zukunftsangst und der Erinnerung an fröhliche Tage mit meiner Familie; ich dachte an meine geliebten Kinder, wie sie lachten, weinten, tobten und sich fröhlich durch ihr noch junges Leben bewegten, und die unerträgliche Schwierigkeit des Seins, in der ich mich nun befand. Irgendwann legte ich mich auf den Boden, auf den ich die beiden Decken gelegt hatte, damit ich die Härte des Bodens

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