Am Ende des Weges: Eine kleine Erinnerung an unsere Endlichkeit
Von Hans-Jürgen Wilhelm und Tobias Kurtz
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Über dieses E-Book
Der neue Heimbewohner, Herr Bachmann, wirkt trotz oder gerade wegen seiner fast 90 gelebten Jahre gar nicht verbittert oder frustriert. In verschiedenen Alltagssituationen und Begegnungen blickt er auf sein Leben zurück – freundlich zugetan, meist mit einem Schmunzeln, manches Mal überrascht, nachdenklich, oft überwältigt. Auch wenn er vor dem Ende seines eigenen Weges steht, wendet er sich mit seiner Geschichte gerade an die Leserinnen und Leser, die noch einen großen Teil ihres Lebens vor sich haben.
Das Buch lädt ein, innezuhalten, den eigenen Lebensweg bewusster zu beschreiten und den Herausforderungen mutig zu begegnen. Wohlwollender mit sich selbst zu sein, versöhnlich auf das schon hinter sich liegende Leben zu blicken – und neugierig auf das zu sein, was noch kommt.
Die Botschaft des Buches: Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, sondern allein den Weg, den am Ende jeder für sich und mit sich gegangen ist.
Hans-Jürgen Wilhelm
Dr. Hans-Jürgen Wilhelm, Jahrgang 1967, ist Soziologe, Wirtschaftsjurist und Doktor der Philosophie und seit mehr als 30 Jahren in verschiedenen Leitungspositionen in der Pflege tätig. Dort durfte er viele Menschen auf ihrem Weg ein Stück begleiten. In seinen Büchern beschäftigt er sich vorwiegend mit den Werten und der Würde in der Pflege, mit Demenz, Sterben, Abschied und Tod. Er ist im Saarland geboren, lebt mit seiner Frau in Schleswig-Holstein und hat drei erwachsene Kinder. www.drwilhelm.org
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Buchvorschau
Am Ende des Weges - Hans-Jürgen Wilhelm
1.
Gelebte Zeit
Die Sonne scheint in mein Gesicht, und ich blicke auf meinen alten Wecker, sechs Uhr zeigt er mit seinen roten Zahlen. Er begleitet mich seit ewigen Zeiten durch mein Leben und ist nun einer der treuesten Gefährten in meinem neuen Zuhause. Ein kleines, gemütliches Zimmer, das nun wahrscheinlich mein letztes Zuhause sein wird. Wer hätte gedacht, als ich ihn damals mit Mitte zwanzig von meinem Vater bekam, dass er mich bis zum Ende begleiten wird. Von vielen und vielem hätte ich es gehofft und vor allem gewünscht. Er war nicht dabei. Doch im Gegensatz zu allem anderen ist er noch da.
Vor vielen Jahren lag ich Stunden wach und betrachtete die Minuten, die einfach nicht vergehen wollten. Im Nachhinein glaube ich, wir beide, mein Wecker und ich, haben uns da erst richtig kennengelernt. Es war eine lange Nacht. Ich habe auf meinen Wecker geschaut und mir gewünscht, dass der kleine Zeiger endlich auf der Sieben steht und ich aufstehen kann. Dass die Sonne aufgeht und der neue Tag beginnt. Dass die Nacht zu Ende ist.
Aber je verzweifelter ich auf die Zeiger schaute, desto langsamer schienen sie sich zu bewegen. Ich drehte mich weg und wartete ungeduldig. Nach einer gefühlten Ewigkeit von unzähligen Stunden wendete ich mich wieder meinem Wecker, seinen Zahlen und seinen Zeigern zu und stellte fest, es waren noch nicht einmal fünf Minuten vergangen.
Nie mehr danach habe ich ihm so genau bei seiner Arbeit zugeschaut, ihn dabei beobachtet, wie er fleißig Minute für Minute abschreitet. Immer gleich und ohne Pause dreht er sich im immer gleichen Tempo um seine Achse. Beginnt jede Stunde wieder von vorn, und das Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Das alles bis heute ohne zu murren, alles, was er benötigte, waren täglich ein paar Sekunden der Aufmerksamkeit, um seine Feder aufzuziehen, und dann drehte er sich weiter, bis heute. Und wenn wir jemanden finden, der diese Sekunden täglich für ihn auch nach meiner Zeit aufbringt, dann wird er vermutlich auch nach mir weiter seine Kreise ziehen. Eine schöne Vorstellung.
Nie wieder nach dieser Nacht habe ich so bewusst wahrgenommen, wie unendlich langsam Zeit vergehen kann, wenn man sich ihr so ausschließlich zuwendet. Meist läuft sie ja so ganz nebenbei, dezent, unaufdringlich, aber unaufhaltsam ist sie doch immer da. Es gibt keine Sekunde, in der keine Zeit vergeht. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Zeit stehen bleibt, aber sie tut es nicht, sie tut es nie.
Und heute, mit fast 90 Jahren, stehe ich am Ende meines Lebens, am Ende meiner gelebten Zeit, schaue zurück auf die vergangenen Minuten und habe das Gefühl, es sei erst gestern gewesen, als ich meinen Stern, die Liebe meines Lebens, vor mehr als 60 Jahren zum ersten Mal sah. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben doch gerade erst begonnen hat, und frage mich, wo diese fast 90 Jahre geblieben sind.
Auch am Ende meiner Zeit, nimmt sich die Zeit die Zeit, die sie braucht, ohne Eile, ohne Hast, aber beständig. Im Gegenteil, je mehr ich mich den einzelnen Minuten zuwende, umso mehr Zeit scheinen sie sich zu nehmen. Ein Geschenk oder ein Fluch? Ich weiß es nicht.
Frühstück, wann gibt es hier noch mal Frühstück? Gestern gab es doch diese Information, ich glaube ab sieben Uhr. So ist das also in einem Pflegeheim. Ich liege hier in meinem Bett, die aufgehende Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich sehe in dem kleinen Zimmer auf meinen alten Sessel, den ich mitbringen durfte. Auch von ihm hätte ich nie gedacht, dass er mich auf meinen letzten Wegen begleiten würde. Ich hatte so vieles geplant, vorbereitet, organisiert und auch erwartet, so wenig davon hatte letztendlich Bestand, und so vieles ist eingetreten, was ich nicht im Geringsten auf dem Plan hatte. Das nennt man Leben.
2.
Mein kleiner Freund
Jetzt sitze ich hier im Pflegeheim am Ende meines Lebens. Ein Leben, das sich im Rückblick vollkommen anders entwickelt hat, als ich es mir zu Beginn vorstellen konnte. Aber es war gut so, wie alles gekommen ist. Ich habe den Eindruck, es war rund. Alles, das Gute und auch das Schlechte, hatte im Nachhinein betrachtet seinen Sinn.
Ja – so passt alles zusammen, und der Kreis schließt sich. Am Ende steht ein Mensch mit fast 90 gelebten Jahren im Gepäck. 90 Jahre mit unzähligen Erfahrungen, Enttäuschungen, Überraschungen, Erfolgen und Niederlagen. 90 Jahre im unentwegten Selbstversuch, ohne Sicherungskopie, ohne die Möglichkeit des Restarts, wie man das heute aus den Computerspielen kennt. Man kann auf seinem Weg zwar die Richtung ändern, aber man fängt nie von vorn an.
Ein Wahnsinnsprojekt, ohne Plan, Budget, Meilensteine oder gar schriftlich niedergelegte Zielvorgaben. Im Rückblick wirkt das Ganze an vielen Stellen eher wie ein Zufallsprodukt, aber war es das tatsächlich? Heute kann ich mir ein Leben ohne meinen Stern nicht ansatzweise vorstellen, ohne ihn wäre es gar nicht mein Leben. Aber wenn an diesem wundervollen Abend damals, als ich meinen geliebten Stern zum ersten Mal sah, nicht noch die Sonne geschienen hätte, wären wir bestimmt nicht in den Nachbarort gewandert, sondern in die Kneipe nebenan. Dann wäre ich