Und als ich fuhr, da war ich frei.: Die Geschichte von Ida und Emil Stingel
Von Marc Benduhn
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Über dieses E-Book
Zwischen Ritualen und Alltag, Krankheit und Liebe, Leben und Tod, blüht ein kleines Pflänzchen, dass sich den Weg in Richtung Sonne bahnt, ein Sprössling, der ein wenig Einsamkeit und einen Hauch von Freiheit in sich beherbergt.
- Und als ich fuhr, da war ich frei. -
Marc Benduhn
Marc Benduhn wurde 1988 im Erzgebirge, in Deutschland geboren. In seiner Funktion als Physiotherapeut, zog es ihn aus seiner Heimat fort und seit 2018 lebt und arbeitet er in Warnemünde, im Norden Deutschlands.
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Buchvorschau
Und als ich fuhr, da war ich frei. - Marc Benduhn
M.B.
Kapitel 1
Einstieg
Ich stamme aus einer wahrlich guten und fürsorglichen Elternstube und im Verlaufe meines nunmehr langen Lebens konnte ich eine Vielzahl mir beigebrachter Regeln und Grundsätze, die ich seitens meiner Eltern erfuhr, ganz wunderbar anwenden. Teils tat ich es unbewusst, teils ganz und gar sehr bewusst. Doch größtenteils tat ich es instinktiv.
Ich bot als Kind meinen Sitzplatz im Bus älteren Menschen an, sprach »Guten Tag« und »Auf Wiedersehen« und wusste durchaus, wann ich höflich und zuvorkommend, emphatisch, mutig oder zurückhaltend sein musste. Ich verhielt mich so, wie ich es beigebracht bekam, und so, wie ich instinktiv entschied.
Dass sich Ansichten und Meinungen im Laufe eines Lebens ändern können, brauche ich Ihnen mit großer Sicherheit nicht zu erzählen. Auch dass im Leben nicht immer alles so verläuft, wie man es sich als Kind nur allzu oft ausmalte. Doch was macht das schon? Nun bin ich sechsundachtzig Jahre alt und glauben Sie mir eins, ich bin noch lange nicht am Ende.
Kapitel 2
Rituale und Akzeptanz
Mit der Zeit hatte ich mir regelrecht abgewöhnt auszuschlafen. Mein Wecker klingelte täglich exakt um 06:19 Uhr, auch sonntags. Ich mochte den Gedanken, schon sehr zeitig zu erwachen, um möglichst viel von jedem Tag mitbekommen zu können. Außerdem bekam ich ohnehin reichlich Schlaf, denn das ist wohl einer der Vorteile am Dasein eines alten Mannes. Ich konnte mir meinen Schlaf so einteilen, wie ich ihn benötigte.
Wenn ich müde war, schlief ich, wenn ich Appetit bekam, aß ich, und wenn ich Lust auf Gartenarbeit hatte, ging ich in den Garten und werkelte ein wenig.
Mitunter musste ich mir nur genau merken, wo ich meine Brille hingelegt hatte, bevor ich einschlief, sonst konnte es passieren, dass ich nach dem Erwachen wie ein geistloses und wirres Wrack ängstlich durch meine eigenen vier Wände taumelte, da die Sicht nicht gegeben und die Panik perfekt war. Ansonsten hat so ein Dasein als alter Mann schon viele Vorteile. Auf mich wartete morgens keine gepackte Schultasche, kein erlösendes Pausenklingeln, keine nervtötenden Klassenkameraden, kein übereifriger Kommilitone, kein akribisch nach der Weltherrschaft eifernder und strebender Professor, kein immerzu nörgelnder Chef, keine neiderfüllten Kollegen, keine mitunter lästigen Weiterbildungsmaßnahmen und auch keine Montagearbeit im Ausland, ein Drei-Schicht-System und Wochenendarbeit. Einzig Ida, meine Frau, wusste es gelegentlich zu verstehen, mir den einen oder anderen Nerv zu rauben. Doch ich bin mir ziemlich sicher, sie würde Ihnen ziemlich genau dasselbe über mich berichten.
Ja, das Rentnerdasein hat schon seine Vorteile und – zumindest kann ich das von meinem augenblicklichen Aufenthalt im Ruhestand gut behaupten – es beinhaltet wunderschöne und besinnliche Rituale, die es ganz und gar zu pflegen lohnt. Natürlich und absolut logisch, gibt es auch im Ruheständlermodus einige Dinge, welche nicht unbedingt nach deliziöser Verkostung und Wiederholung schreien.
Ich denke da beispielsweise an die immer wiederkehrenden Arztbesuche, an zahlreiche Vorsorgeuntersuchungen, aber auch an die unzähligen Bestattungstermine von Freunden und Bekannten, die einem bewusst machen, dass das Altern an sich auch ein bitteres Roden im Freundes- und Bekanntenkreis darstellt.
Im Wald des eigenen Lebens fällt Tag um Tag, Woche für Woche, der ein oder andere bekannte und vertraute »Baum«.
Eifrige und strebsame Nachfahren ersetzen ihn vielleicht auf irgendeine Art und Weise, doch seine Stelle bleibt unbesetzt, einzig seine Wurzeln sind noch zu sehen. Seine Gestalt jedoch wird welk, eine andere blüht auf. Doch auch der Tod gehört nun einmal zum Leben. Obgleich hierfür die Akzeptanz sehr oft nicht gegeben ist – aus unterschiedlichen Gründen. Es gibt unzählige Beispiele hierfür.
Nehmen wir ein friedvolles Kind, welches sein ganzes Leben noch vor sich hatte, doch schlussendlich einem Krebsleiden erlag, oder aber den liebevollen Familienvater, der durch Fremdverschulden bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Wie oft geht in solch traurigen Beispielen die Ungerechtigkeit Hand in Hand mit einer unveränderbaren Tatsache. Und auch wenn die Akzeptanz der Eltern des an einem Krebsleiden verstorben Kindes oder der Ehefrau und ihrer Kinder des beim Verkehrsunfall verstorbenen Ehemannes verständlicherweise vielleicht nie im Leben eintreten wird, so hat er doch bestand – der Tod. Und sowohl die Eltern als auch die Ehefrau und ihre Kinder werden versuchen müssen, einen Weg zu finden, um mit dem Geschehenen zurechtzukommen. Vielleicht ist der Weg der Akzeptanz nicht immer der einfachste, nicht immer der schönste und ganz bestimmt auch nicht der leichteste, doch eines ist er ganz bestimmt: der hoffnungsvollste. Es heißt nicht, dass sie vergessen, es heißt nur, dass sie nicht aufgeben.
Auch ich schob früher solche »unschönen« Thematiken oft beiseite, wollte sie nicht sehen oder hören, wollte nicht darüber sprechen. Doch so sehr ich sie auch zu verdrängen versuchte, irgendwann, da waren sie wieder allgegenwärtig und mitunter mehr als vorher.
Ich bin mir sicher, auch Sie kennen solche »unschönen« Thematiken und auch in Ihnen schlummert wohl das ein oder andere »komische« Bauchgefühl, wenn Sie an die ein oder andere Sache denken, die Ihnen zu schaffen machte oder vielleicht noch immer zu schaffen macht.
Für mich war dies viele Jahre lang der Umgang mit der Akzeptanz des Todes. Ich mochte in jungen Jahren nie daran denken, einmal meine Eltern, Großeltern, Freunde oder andere geliebte Mitmenschen zu verlieren. Gerade wenn im engeren Umfeld wieder ein neuer Todesfall bekanntgegeben wurde, vielleicht der Großvater meines besten Freundes verstarb, überkam mich dieser Schauer an »unschönen« Gedanken. Ich wollte und konnte nicht akzeptieren, dass Menschen, die mir lieb und teuer waren, irgendwann einmal nicht mehr an meiner Seite weilen sollten.
Doch heute weiß ich: Diese mitunter unbestreitbaren, kindlichen und naiven Gedanken zu verdrängen, macht die Situation nur noch schlimmer. Sich zu verschließen bedeutet auch, sich zu verstecken und gewissermaßen mutlos zu sein. Sicherlich ist dies kein Vergehen und in mancher Hinsicht auch absolut menschlich, doch ich wollte nicht mehr verschlossen und mutlos sein, eher offen und restlos mutig.
Also suchte ich nach einem Weg, meine fehlende Akzeptanz in irgendeiner Weise umzuwandeln. Anfangs gestaltete sich diese Suche jedoch noch schwieriger als gedacht. Denn immer wieder schlug meine innere Nichtakzeptanz meine innere Akzeptanz k.o. Gelegentlich in der zweiten Runde, manchmal in der achten Runde, doch es dauerte eine ganze Weile, bis ich mein Akzeptanzverhalten in ein Pro statt eines Kontras umwandeln konnte.
Doch wie gelang es mir? Es gelang mir, indem ich zuließ und darüber hinaus losließ. Ich sprach mir immer wieder zu, dass es nun einmal Dinge im Leben geben wird, an denen ich nichts ändern kann, dass es wieder und immer wieder Dinge in meinem Leben geben wird, an denen ich nichts ändern kann. Ich resignierte also nicht, ich akzeptierte. Dass dieser Prozess