Lass uns nach Hause gehen!: Mami 2053 – Familienroman
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Marie erwachte lange vor dem Weckerklingeln. Sie beobachtete den ersten Sonnenschein, der durch die geschlossenen Vorhänge drang und verschwommene Muster auf die Dachschräge zeichnete, unter der sie mit ihrer kleinen Tochter schlief. Lilys weißes Eisenbett, das am anderen Ende des Dachraumes stand, war leer. Nachts hatte es das Tappen von nackten Füßchen auf Holzfußboden gegeben. Geraschel mit einem Kopfkissen und ein leises Stimmchen, das flüsterte: »Mami, ich kann nicht einschlafen!« »Ich auch nicht, Lily-Kind, ich auch nicht!« Dann ein zufriedener Seufzer, mit dem das kleine Mädchen sich in das Bett seiner Mutter kuschelte. Marie legte die Arme um ihre Tochter, zog die Decke über ihnen beiden zurecht, und dann spielten sie ihr Lieblingsspiel: sie verwandelten sich in jemand anderen. Jetzt lebten sie nicht mehr in einem winzigen Häuschen in der Stadt, sie kannten keine modernen Jeans und T-Shirts, und sie hießen auch nicht mehr Marie und Lily Körber. Das Mädchen hieß jetzt Sarah, trug altmodische braune Schnürstiefel und ein apfelgrünes Kleid. Ihre Mama war Betty, die Frau von John und außerdem die Mutter von dem Baby William. Sie alle waren eine Familie und fuhren auf einem rumpelnden, knarrenden Planwagen durch Amerika, immer weiter, immer weiter in den wilden Westen hinein. Die leise Stimme ihrer Mutter verwandelte die Dachschräge in eine dunkle Wagenplane, durch die riesengroße Sterne funkelten, und während das ferne Heulen der Präriewölfe immer leiser wurde, schlief das kleine Mädchen sicher und geborgen ein. Jetzt waren sie wieder in der Wirklichkeit, und ein schöner, warmer Spätsommermorgen verlockte zum Aufstehen. Noch ein bisschen im Bett bleiben, die Geschichte vom Vorabend weiterspinnen, dazu war an diesem Samstagmorgen keine Zeit. Denn heute war endlich der große Tag gekommen! Der Tag aller Tage, vor dem Lily zitterte, den sie sehnsüchtig erwartete: heute wurde sie eingeschult! Zärtlich tupfte Marie einen sanften Schmetterlingskuß auf die Nasenspitze ihrer Tochter. »Aufwachen, Lily, die Sonne scheint, die Vögel lärmen im Garten, und wenn du genau zuhörst, dann erkennst du, dass sie rufen: Lily-Schulkind, Lily-Schulkind, aus den Federn mit dir!« »Mami, ich bin sooo aufgeregt.«
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Buchvorschau
Lass uns nach Hause gehen! - Louisa Rosenhagen
Mami
– 2053 –
Lass uns nach Hause gehen!
Bei Hannes haben Marie und Lily das Glück gefunden
Louisa Rosenhagen
Marie erwachte lange vor dem Weckerklingeln. Sie beobachtete den ersten Sonnenschein, der durch die geschlossenen Vorhänge drang und verschwommene Muster auf die Dachschräge zeichnete, unter der sie mit ihrer kleinen Tochter schlief. Lilys weißes Eisenbett, das am anderen Ende des Dachraumes stand, war leer. Nachts hatte es das Tappen von nackten Füßchen auf Holzfußboden gegeben. Geraschel mit einem Kopfkissen und ein leises Stimmchen, das flüsterte: »Mami, ich kann nicht einschlafen!«
»Ich auch nicht, Lily-Kind, ich auch nicht!« Dann ein zufriedener Seufzer, mit dem das kleine Mädchen sich in das Bett seiner Mutter kuschelte. Marie legte die Arme um ihre Tochter, zog die Decke über ihnen beiden zurecht, und dann spielten sie ihr Lieblingsspiel: sie verwandelten sich in jemand anderen. Jetzt lebten sie nicht mehr in einem winzigen Häuschen in der Stadt, sie kannten keine modernen Jeans und T-Shirts, und sie hießen auch nicht mehr Marie und Lily Körber.
Das Mädchen hieß jetzt Sarah, trug altmodische braune Schnürstiefel und ein apfelgrünes Kleid. Ihre Mama war Betty, die Frau von John und außerdem die Mutter von dem Baby William. Sie alle waren eine Familie und fuhren auf einem rumpelnden, knarrenden Planwagen durch Amerika, immer weiter, immer weiter in den wilden Westen hinein. Die leise Stimme ihrer Mutter verwandelte die Dachschräge in eine dunkle Wagenplane, durch die riesengroße Sterne funkelten, und während das ferne Heulen der Präriewölfe immer leiser wurde, schlief das kleine Mädchen sicher und geborgen ein.
Jetzt waren sie wieder in der Wirklichkeit, und ein schöner, warmer Spätsommermorgen verlockte zum Aufstehen. Noch ein bisschen im Bett bleiben, die Geschichte vom Vorabend weiterspinnen, dazu war an diesem Samstagmorgen keine Zeit. Denn heute war endlich der große Tag gekommen! Der Tag aller Tage, vor dem Lily zitterte, den sie sehnsüchtig erwartete: heute wurde sie eingeschult!
Zärtlich tupfte Marie einen sanften Schmetterlingskuß auf die Nasenspitze ihrer Tochter. »Aufwachen, Lily, die Sonne scheint, die Vögel lärmen im Garten, und wenn du genau zuhörst, dann erkennst du, dass sie rufen: Lily-Schulkind, Lily-Schulkind, aus den Federn mit dir!«
»Mami, ich bin sooo aufgeregt.«
Gerührt betrachtete Marie Körber ihre Tochter, die im Zimmer auf und ab hüpfte, die feinen silberblonden Haare vom Schlaf zerzaust, das zarte Gesicht vor Aufregung gerötet. In ihrem langen weißen Nachthemd, das wie viele ihrer Kleidungsstücke vom Flohmarkt stammte, sah Lily mehr denn je wie eine kleine Elfe aus. Marie unterdrückte einen Seufzer. Wie mochte die Schule wirklich sein? Wie würde es werden für ihre kleine vaterlose Tochter, die so zart und zerbrechlich wirkte? Die Geschichten in ihrem Herzen trug, die sang und deren schönste Beschäftigung das Spielen mit ihren Freundinnen war? Die ohne Handy und Playstation aufgewachsen war, ohne eigenen Fernseher im Zimmer, ja, genau genommen sogar ohne eigenes Zimmer?
Jetzt mach aber mal einen Punkt, Marie Körber, rief sie sich in Gedanken selbst zur Ordnung. Heute ist ein Freudentag! Wir wohnen in einem winzigen, süßen Häuschen, ich habe Arbeit, und das Geld hat sogar für genau den Schulranzen gereicht, den Lily am liebsten haben wollte! Schluss jetzt mit dem sinnlosen Grübeln!
»Wer zuerst am Frühstückstisch ist!« Mit wehendem Nachthemdchen rannte Lily vor ihr die steile Treppe nach unten, zu dem festlich geschmückten Essplatz unter dem Fenster. Rosenblüten und Buchsbaumzweige aus dem Garten lagen auf der weißen Tischdecke verstreut, es gab Erdbeerjoghurt, Rosinenbrötchen und frischen Orangensaft. Der blaue Ranzen mit den Tiermotiven wartete fix und fertig gepackt neben der Haustür, und war denn das zu fassen? Auf ihrem Teller lag ein Geschenk, eingewickelt in himmelblaues Sternchenpapier. Als Lily die Schachtel geöffnet hatte, stieß sie einen Schrei aus: sie hielt die allerschönste Uhr in der Hand, die sie sich nur denken konnte. Der Untergrund des Zifferblattes zeigte eine roséfarbene Rose, Zeiger und Ziffern waren hellgrün, und auch das geflochtene Armband war aus dem gleichen Grün.
»Eine Armbanduhr, Mami! Ich habe eine eigene Uhr bekommen! Danke, danke, danke!« Lily umarmte ihre Mutter ganz fest. Die Schule, eine eigene Uhr – jetzt gehörte sie wirklich zu den Großen!
»Jetzt aber los, mein Schatz, waschen, anziehen, Betten machen. Wenn wir noch weiter trödeln, kommen wir zu spät!«
Keine halbe Stunde später machten Mutter und Tochter sich Hand in Hand auf den Weg in einen neuen, großen Lebensabschnitt. Lily trug eine leichte Strickjacke und ein Sommerkleid in ihren Lieblingsfarben, unter dem eine weiße Leggins mit einer zierlichen Lochstickereikante hervorblitzte. In den französischen Zopf hatte ihre Mutter ein weißes Band eingeflochten. Marie trug schmale Jeans, ein zartblaues Top, darüber eine selbst genähte Tunika
aus transparentem türkisfarbenem Stoff. Filigrane Ohrringe aus Silber, winzigen Perlen und wasserblauen Glassteinchen waren ihr einziger Schmuck. Ihr feines Haar, so silbrig-blond und eigensinnig geringelt wie das ihrer Tochter, hatte sie mit kleinen Spangen am Hinterkopf festgesteckt.
»Da ist Aline!« Mit einem freudigen Ruf ließ Lily die Hand ihrer Mutter los und rannte zu dem kleinen Mädchen, das gerade mit ihren Eltern, Großeltern und der jüngeren Schwester Sophia über den Kirchenvorplatz auf sie zukam. Die Einschulungsfeier begann mit einem Gottesdienst in der alten Schifferkirche ihres Viertels, und Marie und Lily hatten sich mit Aline, der allerbesten Freundin aus dem Kindergarten, und deren Familie verabredet.
Aline und Lily waren Freundinnen von dem Tag an, als die Kindergärtnerin in die Gruppe kam, die Hand auf die Schulter eines finster dreinblickenden Jungen gelegt, und verkündete: »Und das ist Kevin, er wird ab heute in eurer Gruppe sein.« Kevin sagte nichts, stapfte zum Ecktisch, an dem die Kinder frühstückten, riss Lily ihren Joghurtbecher aus der Hand und kippte ihn wortlos über ihrem Kopf aus. In dem folgenden Tumult saß Lily wie erstarrt, sie konnte keine Hand rühren. Anders Aline. Nach der ersten Schrecksekunde sprang sie auf, ihre dunklen Augen funkelten böse. »Du Doofer!«, schrie sie, und ehe jemand sie hindern konnte, leerte sie ihren eigenen Joghurtbecher über dem Kopf des Jungen. War das ein Theater! Bei der Abholzeit am Mittag gab es Gespräche mit den Müttern, und leider musste sich auch Frau Winter, Alines Mutter, ein paar Worte über das ungestüme Verhalten ihrer Tochter anhören. Sie ließ sich die Situation schildern, blickte von Lily zu Aline, dann zur milde empörten Kindergärtnerin, nahm die Hand ihrer Tochter und sagte ungerührt: »Das hast du gut gemacht!« Dann wandte sie sich an Lilys Mutter und lachte über das ganze Gesicht. »Unsere Mädels kennen sich ja schon. Ich bin Anja Winter. Wie wär’s, wenn wir jetzt alle zusammen ein Eis essen gehen?« Und damit war die Freundschaft besiegelt.
Die Kirche füllte sich rasch
mit Erwachsenen und aufgeregt schnatternden Erstklässlern, größeren und kleineren Geschwistern, Kinderwagen – und hatte sie da nicht eben ein kleines Fellbündel mit blitzenden Augen gesehen, das von einem kleinen Jungen erschrocken wieder unter seine Jacke geschoben wurde? Marie musste lachen und zeigte ihrer Tochter den Jungen mit dem Engelsgesicht, der seinen Hund eingeschmuggelt hatte.
»Wie süß, Mami!«
»Pst, nicht so hingucken, sonst merkt noch jemand etwas!«
Lily verrenkte sich so unauffällig wie