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Ein Adjutant und Gentleman: Werner Strassmann - Ein Leben für die Musik
Ein Adjutant und Gentleman: Werner Strassmann - Ein Leben für die Musik
Ein Adjutant und Gentleman: Werner Strassmann - Ein Leben für die Musik
eBook445 Seiten5 Stunden

Ein Adjutant und Gentleman: Werner Strassmann - Ein Leben für die Musik

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Über dieses E-Book

Werner Strassmann - als Orchesterleiter mit seinen Musikerinnen und Musikern unterwegs in der ganzen Welt - da gibt es mancherlei zu erzählen.
Tokyo, Sydney, Chicago, Pasadena (Kalifornien), Dublin, Budapest und Rom (Vatikan) - Paraden, Konzerte, Höhepunkte und hinter den Kulissen immer wieder ein Fächer lustiger, aber auch abenteuerlicher Anekdoten.
Angefangen mit Werner Strassmanns Kindheit, seiner Studienzeit in Paris, dem Engagement als 1. Solohornist an der Opera d'Oran (Algerien), der Laufbahn als Musikinstruktor der Schweizer Armeespiele, als musikalischer Leiter der Polizeimusik Zürich Stadt und der Otmarmusik St. Gallen, gelingt es dem Autor, nicht nur eine chronologische Auflistung der Geschehnisse zu verfassen, sondern gekonnt und romanhaft kurzweiligen Lesespass zu bereiten.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum28. Aug. 2018
ISBN9783746961163
Ein Adjutant und Gentleman: Werner Strassmann - Ein Leben für die Musik

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    Buchvorschau

    Ein Adjutant und Gentleman - Kurt Nobs

    Über den Wolken

    2016 – wetterwendisch und seinem Ruf folgend, neigt sich der April dem Ende zu. Ja tatsächlich, dieser Frühlingsmonat hat es in sich. Föhntage, an denen das Thermometer über 20 Grad Celsius kletterte und dann, vorgestern eine Kaltfront mit Schnee bis in die Niederungen und nächtlichen Minusgraden.

    Die Medien berichten von einem Kälterekord seit über fünfzig Jahren.

    Im Esszimmer ihres schmucken Hauses in Arnegg, sitzen Werner und Katharina Strassmann beim Frühstück. Draussen ist es stürmisch, ein Wechselspiel von Licht und Schatten. Manchmal zeichnet ein verirrter Sonnenstrahl seine goldenen Sprenkel auf die Tischplatte, dann, wie von Zauberhand, ist alles wieder grau in grau.

    Werner beisst in die mit Butter und Erdbeerkonfitüre bestrichene Brötchenhälfte, kaut geniesserisch und nimmt einen Schluck Kaffee. Er liebt dieses Getränk – dunkel, nur ein paar Tröpfchen Sahne und ohne Zucker.

    Sein Blick schweift durchs Fenster zu der in Richtung Andwil gelegenen bewaldeten Hügelkuppe und entdeckt an den Ausläufern noch grauweisse Schneereste.

    „Verrückt, murmelt er kopfschüttelnd, „nächsten Sonntag haben wir den ersten Mai, und dieser Winter will sich einfach nicht davonmachen.

    „Ja, ja, es ist wirklich schlimm, sagt Katharina nachdenklich und klaubt ein paar Brosamen vom Tisch. „Gestern hat mir Hilde geklagt, dass sie sich grosse Sorgen um ihre Obstplantage machen. Mitte April sei schon alles im Bluest gestanden, und jetzt dieser Frost.

    Werner schmunzelt. „So, so, die Hilde, diese Jammertante."

    „Jammertante? Wie meinst du das? Hast du’s nicht gelesen, dass die Weinbauern in der Bündner Herrschaft und im Schaffhauserischen diesen Kälteeinbruch äusserst prekär finden?"

    „Doch, doch. Hab auch die Bilder mit den aufgestellten Frostkerzen gesehen. Aber besonders interessant fand ich den Bericht über die eingesetzten Helikopter und die betreffende Erläuterung, dass durch die von den Rotoren verursachten Turbulenzen, die Luft vermischt werde, sodass die Kälte sich nicht auf den Pflanzen und dem Boden absetzen kann."

    „Ja, ja, du mit deiner Fliegerei", sagt Katharina mit einem leicht sarkastischen Unterton, steht auf und beginnt den Tisch abzuräumen.

    Fliegerei? – Das muss erklärt werden.

    Werner, der im Oktober letzten Jahres seinen 80. Geburtstag feiern durfte, ist nämlich seit einiger Zeit Mitglied beim vSAF (virtual Swiss Air Force), einem Club, der mittels Computersimulation die Fliegerei betreibt. Er ist von diesem Hobby total begeistert, um nicht zu sagen: total angefressen. Als wahrhafter Perfektionist und mit seinem erstaunlich wachen Geist, hat er es in kurzer Zeit zum Flightleader, also zum Staffelführer, gebracht.

    Und darauf ist er mit Recht ungemein stolz. Unzählige Stunden verbringt er an seinem Flugsimulator im Obergeschoss, vor dem Bildschirm und an den Steuerkonsolen, übt mit Hingabe aktuell bevorstehende Staffelaufträge ein, um dann, wenn’s ernst gilt, entsprechend fit zu sein. Zwei bis drei Mal pro Woche in den Abendstunden, werden solche Staffeleinsätze vernetzt und im Verband geflogen, die von den Kommandanten – meist altgedienten Militärpiloten – aus einem reichhaltigen Szenenrepertoire befohlen werden.

    Werni, so lautet sein Club-Name, hat mich auf zwei solche virtuellen Flüge mitgenommen. Zuerst auf einer F-5E-Tiger, einem Kampfflugzeug, das im Rahmen des Rüstungsprogramms 1981 von der Schweizerarmee beschafft wurde, und dann noch auf einer einmotorigen Pilatus PC-7, dem Turboprop-Trainingsflugzeug der schweizerischen Luftwaffe.

    Eine faszinierende Welt tut sich da einem auf. Flugzeuge, Flughäfen mit ihrer Umgebung, überflogene Landschaften – virtuell zwar, doch absolut detailgetreu – da kommt man aus dem Staunen kaum mehr heraus.

    Inzwischen hat auch Hundedame Coquette, ein Kerry Blue Terrier, das Frühstück in der Ecke des Esszimmers beendet, kommt herbeigetrippelt und legt ihre Schnauze auf Werners rechtes Knie. Sie wird ausgiebig gekrault. „So, meine Schöne, hat’s geschmeckt, fragt er schmunzelnd. Und auf Katharinas Gesicht, die eben mit einem Wischlappen in der rechten Hand von der Küche zurückkommt, zeichnet sich ein Lächeln ab. „Ja, ja, Coquette-Mädchen, noch fünf Minuten, dann gehen wir auf unsere Runde.

    Dann sind die drei unterwegs. Kurz nach ihrem Haus, das sich am östlichen Dorfausgang befindet, zweigt ein Feldweg ab, der auf weitläufiges Wiesengelände führt und weiter hinten in eine Waldparzelle mündet. Ein steifer Wind weht ihnen entgegen, am Himmel ziehen die Wolkenschiffe vorbei, wie mit geblähten Segeln. Aber man sieht es, die Sonne kämpft mit heroischer Kraft, ja, sie will diesen Tag erobern.

    Schweigsam gehen sie nebeneinander her, beobachten, wie Coquette – frei von der Leine – kreuz und quer durchs halbhohe Gras jagt, plötzlich stillsteht, an einer Löwenzahnblüte schnuppert, dann ein Stück weiter einen Maulwurfshügel entdeckt und mit den Vorderpfoten ungestüm zu buddeln beginnt.

    „Coquette, daher!, ruft Werner. Doch diese reagiert nicht, buddelt eifrig weiter, verharrt und steckt ihre Schnauze in die aufgewühlte Erde. Bei Werners nochmaligem Befehl, spitzt sie kurz die Ohren und dreht den Kopf zu ihm hin, als wollte sie sagen: „Ich hab’ jetzt Wichtigeres zu tun.

    Katharina muss lächeln und legt ihre Rechte auf Werners Arm. „Ach, lass sie doch, diese Terrier sind eben echte Jagdhunde, und du siehst doch, was für einen Spass es ihr macht."

    Werner nickt zustimmend, und gemächlich setzen sie ihren Weg fort.

    Katharina ist von zierlicher Gestalt, ihr ovales Gesicht wird von der auffallenden Mundpartie und der hohen Stirn bestimmt. Die vollen rötlichen Haare sind zu einem Pagenschnitt frisiert. Ihr Teint ist hell und praktisch faltenlos, und das mit 67 Jahren. Und dann ihre Augen: zwei hellblaue Lichter unter weitgeschwungenen Wimpernbögen.

    Werner ist auch kein Riese, vielleicht ein Kopf grösser als Katharina. Kaum jemand würde ihm seine achtzig Jahre ansehen. Auffallend auch bei ihm, sind die breite Mundpartie, das markante Kinn und die hohe Stirn. Merkmale musisch veranlagter Menschen, die für beide zutreffen.

    Ja, die beiden passen gut zusammen. In diesem Jahr können sie den 41. Hochzeitstag feiern. Doch das absolut Prägende in ihrem Leben ist die Musik. Sie, eine passionierte Geigerin und er der Vollblutmusiker, Arrangeur, altgedienter Militärmusik-Instruktor und Dirigent von Weltruf. Aber davon später.

    Inzwischen ist Coquette von ihrem Wiesenabenteuer zurück, trippelt gehorsam neben Werner einher und auf ihrer Schnauze sind noch Spuren von Erdkrumen. Sie ist nun wieder an der Leine, denn ein paar Schritte weiter passieren sie den Waldrand. Der Pfad schlängelt sich durch dicht an dicht stehende Jungtannen, ist mit dürren Nadeln gepolstert und in ein schummriges Licht getaucht. Einige Sonnenstrahlen haben den Weg zwischen den engstehenden Wipfeln gefunden und fallen als silberne Schweife auf den Pfad.

    „Prächtig, gell, sagt Katharina. „Die Sonne hat ihren Kampf wohl gewonnen, könnte noch ein schöner Tag werden.

    „Ja, pflichtet Werner bei, „einfach prachtvoll diese Gegend, und denk nur, jetzt wohnen wir schon über dreissig Jahre hier.

    „Schon …, murmelt Katharina nachdenklich. „Aber eigentlich gilt das nur für mich. Du warst ja die meiste Zeit unterwegs, irgendwo in der Welt.

    „Und …, hattest du Mühe damit?"

    „Nein, nein. Ich wusste ja, was auf mich zukommt. Aber zurück zu dem, was du gesagt hast. Es ist wirklich eine prachtvolle Gegend hier. Arnegg war und ist wirklich eine gute Wahl."

    Ist es so etwas wie Heimatgefühl, das aus ihren Worten spricht? Bestimmt.

    Arnegg, dieses idyllisch kleine Dorf, das zur politischen Gemeinde Gossau gehört, haben sie schon längst liebgewonnen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts gab’s hier nur Landwirtschaft, dann hielt die Handstickerei Einzug und beschäftigte bis zu 200 Heimarbeiter. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts belief sich die Zahl der Bevölkerung auf rund 250, doch bald kam schweizweit der Trend ‘Hinaus aufs Land‘, und ein regelrechter Bauboom begann.

    Heute zählt Arnegg rund 2000 Einwohner, ist aber so gesehen, eine Streusiedlung und besitzt keinen eigentlichen Dorfkern. Der Grund dafür ist historisch. Doch einen Dorfplatz gibt es selbstverständlich, und dort steht das über 300-jährige Restaurant Ilge, Werners Stammlokal.

    Die drei sind von ihrem vormittäglichen Spaziergang zurück. Für Katharina steht nun Einkaufen in Gossau auf dem Programm, Coquette darf mit.

    Werner macht sich zu Fuss auf den Weg zu seinem Stammlokal. Dort wird er bei einer Tasse Kaffee in den Tageszeitungen herumschmökern; man muss sich ja auf dem Laufenden halten – und dann …?

    Freudige Erwartung spiegelt sich auf seinem Gesicht, der Kaffee ist in kürzester Zeit getrunken und als sonst aufmerksamer Zeitungsleser, überfliegt er heute nur eilig ein paar Schlagzeilen.

    Nach knapp einer Stunde ist er wieder zurück in seinem Heim, besser gesagt, im Obergeschoss in seinem ‘Fliegerhorst‘.

    Ja, heute ist ein ganz besonderer Tag. Abends, so gegen zwanzig Uhr, wird er mit seiner F-5E-Tiger-Staffel in Pfeilformation über den Wolken sein. Von der Basis Emmen zum Militärflugplatz Payerne. Dort werden sie eine Staffel Jungpiloten zur Brevetierung empfangen. Und Werner hat sich dazu etwas Spezielles einfallen lassen: während der Brevetierung wird er den Fahnenmarsch der Schweizer Armee abspielen. Ein Riesenspass, wie könnte es auch anders sein. Werner Strassmann, Staffelführer der vSAF und altgedienter Adjutant Unteroffizier – Instruktor und Spielleiter der Schweizer Militärmusik.

    Um Pilot bei vSAF und in eine Staffel aufgenommen zu werden, muss man zuerst die virtuelle Pilotenschule (vPilS) absolvieren, stationiert in Locarno-Magadino und unter der Leitung von Kommandant Roland Rebmann (Roli). Für Pilotenanwärter heisst dies, regelmässig an den wöchentlichen Trainings teilzunehmen, unterstützt von einem Fluglehrer, dutzende von Starts und Landungen auf einer Pilatus PC-7 auszuführen, und dann die ersten abenteuerlichen Alleinflüge zu wagen.

    Werner brachte dies alles in erstaunlich kurzer Zeit hinter sich. Aber das ist nicht weiter erstaunlich. Wer ihn kennt weiss, wie schnell er etwas begreift. Darüber werde ich noch Einiges zu berichten haben.

    Und wie als Beweis dafür, sitzt er gerade jetzt mit höchster Konzentration vor seinem Bildschirm und an den Steuerkonsolen, wählt den Militärflugplatz Emmen, macht seine F-5E-Tiger startklar und begibt sich auf den Flug zum Zielflughafen Payerne. Alles klappt reibungslos – die Vorfreude auf den heute Abend bevorstehenden Staffeleinsatz ist förmlich aus seinem Gesicht abzulesen.

    Doch vorher, um zwei Uhr nachmittags, wird er noch Besuch von mir erhalten. Dann wird er seine Schatzkiste öffnen und anfangen, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.

    Die ersten Jahre

    Noch ein paar Tage, und das Jahr 1935 ist zu Ende. Weihnachtszeit, das kleine Dorf Frasnacht, zwischen Romanshorn und Arbon direkt am Bodensee gelegen, zeigt sich in Winterpracht. Die Hausdächer tragen dicke weisse Hauben, die Strassen sind tief verschneit und die Zaunpfähle haben sich kecke weisse Pudelmützen aufgesetzt.

    Weihnachten ist für August und Ottilie Strassmann dieses Jahr ein ganz besonderes Fest. Sie feiern zu Dritt, denn vor gut zwei Monaten, am 10. Oktober, wurde ihr Sohn geboren. Getauft ist er auf den Namen Werner, und für heute, an Heilig Abend, hat Vater die Wiege ganz nahe zum prächtig geschmückten Baum gestellt. Der kleine Säugling liegt da und staunt, in seinen grossen blauen Augen spiegelt sich der Kerzenschein, und vom Grammophon her klingt es: „Tochter Zion, freue dich …!"

    Ja, tatsächlich „freue dich". Das junge Paar hat allen Grund dazu: ein Sohn wurde ihnen geschenkt, sie stehen am Beginn des grossen Abenteuers, Eltern zu sein.

    Dann pocht es an der Stubentür. Ottilies Eltern kommen auf Besuch. Sie konnten ihre Pantoffeln anbehalten, denn sie mussten nur vom Untergeschoss die Treppe hinaufkommen. Die jungen Eltern wohnen nämlich mit ihnen zusammen im Haus.

    Der Vater von Ottilie ist ein bisschen ein Raubein, ein echter Bergler, stammt von Pfäfers, wo er den Hof seiner Eltern verkaufte und hier in Frasnacht dieses Haus zusammen mit einer grossen Hühnerfarm erwarb. Seine Frau mit ihrem stillen und lieblichen Wesen ist in dieser Gegend aufgewachsen, ein echtes ‘Seemaitli‘, wie man zu sagen pflegt. Wie die beiden zusammengekommen sind, entzieht sich meiner Kenntnis, doch wahrscheinlich war sie der Grund dafür, dass der knorrige Bergbauernbub seine alpine Heimat verliess und hier ins Unterland gezogen ist.

    Ottilie begibt sich in die Küche, um aufzutragen, ihre Mutter hebt den Kleinen aus der Wiege, nimmt ihn in die Arme und herzt ihn. „Mein Goldschatz, flüstert sie, „weisst du, heute ist Weihnachten, der Geburtstag vom Jesuskindlein.

    August sitzt mit seinem Schwiegervater am gedeckten Tisch, sie prosten sich mit einem Gläschen Kirschwasser zu und warten auf das von Ottilie zubereitete Festmahl. Es gibt, wie könnte es anders sein, fein gebratene Poulets mit Kartoffelstock und Karotten, und zum Dessert Schokoladencreme mit Schlagsahne.

    Ottilies Vater langt in den mitgebrachten Korb und befördert eine Flasche Rotwein auf den Tisch. „Ein Tropfen aus der Bündner Herrschaft, zur Feier des Tages", sagt er fröhlich.

    Ein gelungener Abend, ein köstliches Mahl und Werner, der jüngste Spross, der friedlich in seiner Wiege schlummert.

    Mit dem eben zu Ende gehenden Jahr ist es jedoch nicht gerade zum Besten bestellt. Aus dem nördlichen Nachbarland kamen Meldungen, die aufhorchen liessen. Das NS-Regime beginnt den Friedensvertrag von Versailles zu unterhöhlen. Die allgemeine Wehrpflicht wird wiedereingeführt; man nennt dies: Wiedererlangung der Wehrhoheit.

    Die Nürnberger Gesetze bestimmen den Begriff „Jude" zum ersten Mal als gesetzlich gegeben; mit dem Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre werden Eheschliessungen zwischen Juden und Nichtjuden verboten und unter Strafe gestellt. Dieses Verbot der ‘Rassenschande‘ wird in der Folge auch auf Roma, Afrikaner und ihre Bastarde ausgeweitet. Aufgrund des Reichsbürgergesetzes wird Juden überdies das Bürgerrecht aberkannt.

    Wir alle wissen, dass dieser arische Rassenwahn zu einer der grössten Tragödien der Weltgeschichte führte.

    Doch es gibt auch noch anderes zu berichten. Hier noch einige inzwischen berühmte Namen, die im gleichen Jahr wie Werner auf die Welt gekommen sind: Luciano Pavarotti, Elvis Presley, Dalai-Lama, – und schliesslich ein Mann, dessen Geburtstag ebenfalls der 10. Oktober 1935 war: W. Jason Morgan, ein US-amerikanischen Geophysiker, der bahnbrechende Arbeiten zu Plattentektonik und Geodynamik leistete und dafür zahlreiche Auszeichnungen erhielt.

    Werner und die Genannten zusammen mit unzähligen Anderen, sind an diesem Weihnachtsabend alle noch kleine Säuglinge, völlig abhängig und ihr Dasein sich sozusagen abspielend zwischen Wiege und Mutterbrust. Doch dann – welch ein schöpferisches Geheimnis – heranwachsend zu reifen Frauen und Männer und einige von ihnen sogar zu Berühmtheiten mit Weltruf.

    Doch nun zurück nach Frasnacht hinein in die Familienidylle des jungen Elternpaars mit dem kleinen Werner, ihrem Stammhalter. Ihr Leben ist von Bescheidenheit geprägt, oder sollte man besser sagen: von Genügsamkeit. Augusts Lohn, den er als Hilfsarbeiter bei der Firma Saurer in Arbon verdient, ist eher schmal, doch mit Ottilies Zustupf aus der Mitarbeit auf der elterlichen Hühnerfarm, kommen sie ganz gut zurecht. Aber eben mit diesem Zuverdienst hapert es zunehmend. Für Ottilie stehen nämlich die Mutterpflichten ganz klar im Vordergrund. Und jetzt, wo der kleine Werner so langsam aus dem Krabbelalter heraus ist und anfängt, die Welt um sich herum auf eigenen Füssen zu entdecken, braucht es selbstredend einfach vermehrte Aufsicht.

    Und gerade heute, als Ottilie den inzwischen vierjährigen Knirps zur Arbeit mitnimmt, gibt’s wieder mal so einen ärgerlichen Vorfall. In einem unbeaufsichtigten Moment schafft es der Kleine, in das Freigehege zu klettern. Dort beobachtet er zuerst einige Augenblicke das eifrige Picken und Scharren des bunten Federviehs, doch dann marschiert er los und scheucht die aufgeregt gackernde und flatternde Schar in alle Himmelsrichtungen. Einer der Hähne, wahrscheinlich der ‘Obergockel‘, lässt sich das nicht gefallen. Mutig geht er zum Angriff über und versetzt Werner mit seinem Sporn einen gehörigen Schmiss an der linken Wade. Und Werner, ja, was denn? Der brüllt wie am Spiess! Grossvater und Mutter kommen eilends herbei. Und ob’s nicht schon genug wäre, poltert der Grossvater los: „Wernerli, Sakrament nochmal, hab’ ich dir nicht schon hundert Mal gesagt, du sollst die Hühner nicht herumjagen!"

    „W … wollte doch nur mit ihnen spielen", murmelt Werner mit weinerlicher Stimme.

    „Spielen, das fehlte noch! Die Hühner sind zum Eierlegen da, nicht zum Spielen, schreib dir das ein- für allemal hinter die Ohren."

    „Ja …", flüstert Werner kleinlaut.

    «Jetzt ist Grossvater sicher böse auf mich», fährt es ihm wie ein Blitz durch den Kopf, und das schmerzt ihn mehr, als die Wunde an seinem Bein. Sein Grossvater, der grosse Held in Werners kleiner Welt, der so spannende Abenteuergeschichten erzählen kann.

    Mutters Trost ist wie Balsam für sein erschrecktes Herz. Sie tupft ihm die paar Blutstropfen von der Wade und schliesst ihn die Arme. „So, mein Goldschatz, sagt sie, „tut’s noch weh?

    Dann stemmt sie ihre Hände in die Hüften und dreht sich zu Vater. Jedes Wort betonend, sagt sie: „Papa, ich hab’ dir auch schon hundert Mal gesagt, du sollst Werner nicht so anfahren. Wenn dir etwas nicht passt, sag es mir oder dem August."

    „Ja, ja, ich weiss, die Erziehung von eurem Zögling ist eure Sache", brummt dieser, steckt seine Hände in die Hosentaschen und zottelt davon.

    Für Ottilie ist das Ganze jedoch noch nicht ausgestanden. Die tägliche Mithilfe auf der Hühnerfarm und ihr Sohnemann, dieses Energiebündel, für den die Welt nur aus Bewegung zu bestehen scheint; das alles wächst ihr langsam aber sicher über den Kopf.

    Beim Abendessen spricht sie mit ihrem Mann über diese Probleme. „Ach August, klagt sie, „heute war’s wieder Mal besonders schlimm. Neben der Arbeit mit den Eiern mussten noch die zahlreichen Futter- und Trinkgefässe gereinigt und desinfiziert werden. Vater wollte das ums Verrecken, weil einige der Hühner, wie er sagte, unzeitig in der Mauser sind. Und dann wurde der Werner von ihm noch nach Strich und Faden ausgeschimpft, weil er im Freigehege einige Hühner aufscheuchte. Vater ist manchmal so übellaunig. Was kann ich dafür, dass das Eiergeschäft in letzter Zeit etwas zurückgegangen ist.

    „Ja, der hat halt auch seine Sorgen, versucht August seine Frau zu beschwichtigen. «Die Zeiten haben sich halt geändert, liebe Ottilie. Seit dieser braune Grössenwahnsinnige im letzten September einen Krieg angezettelt hat, gibt’s überall Verunsicherung; auch bei uns in der Firma. Und die vielen Männer, die an unseren Landesgrenzen im Aktivdienst sind, es sollen ja beinahe 500‘000 sein. Nur gut, dass die mich dienstuntauglich geschrieben haben, und ich bei diesem Säbelrasseln nicht dabei sein muss. Dieses an der Grenze stehen, dauert nun schon über ein halbes Jahr, und wenn du mich fragst, wird sich das noch in die Länge ziehen.

    „Da magst du Recht haben, August, aber du hast ja deine wichtige Aufgabe bei der Ortswehr, wenn du jeweils für den Nachrichtendienst unterwegs sein musst. Doch ich möchte mit dir jetzt über etwas Anderes sprechen. Ich denke nämlich, es ist nun an der Zeit, dass wir uns nach etwas Eigenen umschauen sollten." Die Sorgenfalten auf Ottilies Stirn, sagen mehr als tausend Worte.

    „Wie meinst du das?"

    „Wir sollten aus dem Haus meiner Eltern ausziehen. Fühle mich einfach so eingeengt. Und dann immer wieder diese Streitigkeiten mit Vater, das hast du ja selbst schon gesagt. Mutter ist ja mehr als recht, auf die lasse ich nichts kommen. Aber gerade gestern hat sie mir den Wink gegeben, dass es wohl besser wäre, wenn wir uns auf den Weg machen würden. Und vorgestern hat mir die Trudi vom Spezereiladen erzählt, dass in Steineloh ein Einfamilienhaus günstig zu haben sei, von einem älteren Ehepaar, das nach Arbon ins Altersheim wechseln möchte." August kaut nachdenklich an seiner Unterlippe, für ein paar Augenblicke herrscht Schweigen zwischen den beiden.

    „Ich sehe schon, murmelt er dann, „dein Plan scheint ja schon festzustehen. Und dass du’s nur weisst, ich habe ehrlich gesagt, nichts dagegen. Aber angenommen, wir kämen bei diesem Ehepaar als Käufer infrage, wie willst du diesen Hauskauf denn finanzieren? Die paar Franken, die wir auf dem Sparbuch haben und mit meinem Hungerlohn, ich weiss nicht …

    Nun solltet ihr aber Ottilie sehen! Ihre Stirn glättet sich, und auf ihrem Mund zeichnet sich ein Lächeln ab; dieses Lächeln, das August so an ihr liebt.

    „Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, sagt sie beschwingt. „Immerhin bin ich die Tochter des Hauses und mit Mutter hab’ ich schon darüber gesprochen. Vater wird das Nötige herausrücken müssen.

    „Wenn du dich nur nicht täuschst", wendet August zweifelnd ein.

    „Auf keinen Fall, mein Guter. Ottilie tätschelt liebevoll seinen rechten Arm. „Vater ist zwar ein richtiger Haudegen und manchmal auch ein unausstehlicher Polterer, doch wenn’s um solche Dinge geht, hat Mutter das Sagen, da kannst du sicher sein.

    „Wenn du meinst. August lehnt sich erleichtert zurück. „Also gut, packen wir’s an. Aber schau doch mal nach draussen. Es ist ein so schöner Sommerabend. Was meinst du, sollten wir nicht unsere Instrumente auspacken und auf der Gartenbank ein paar Kehrli spielen?

    Gesagt getan, die beiden holen ihre Instrumente, er die Klarinette, sie das Akkordeon, und Minuten später vermischt sich der lupfige Klang von ‘Es Buurebüebli mag ich nid‘ mit dem Rauschen des Abendwindes im Geäst der Linde.

    Grossmutter kommt mit Werner ebenfalls nach draussen, und sie setzen sich zu ihnen auf die Gartenbank. Und, nach einer geraumen Zeit, kommt auch Grossvater mit einem halbvollen Bierglas herbeigeschlurft, nimmt am Gartentisch Platz und zündet sich einen Stumpen an.

    Bald schon stehen auch einige Dorfbewohner am heckenbewachsenen Zaun; sie haben ihren Abendspaziergang unterbrochen und lauschen freudig den lustigen Klängen.

    Es bleibt zu erwähnen, dass August und Ottilie echte Autodidakten sind. Sie haben sich das Musizieren selbst beigebracht, brauchen keine Noten, nein, sie spielen alles nach Gehör, und das ganz gut, wie man am Beifall der Zuhörer erkennen kann.

    Ein solch friedliches Bild. Die Sonne beschliesst den Tag mit glutrotem Schweif am westlichen Horizont, und zu den Klängen gesellt sich der Abendgesang einer Amsel vom Lindenbaum.

    Aber ein paar Kilometer von hier stehen wackere Männer an der Grenze und halten Wache – lieb Vaterland magst ruhig sein.

    Und weiter nördlich. Ja, da marschieren die geschlossenen Reihen – „Heil unserem Führer!" Die Welt ist am brennen – es ist Krieg.

    Mir fallen dazu die Verse aus Schillers Lied der Glocke ein:

    „Gefährlich ist’s den Leu zu wecken, verderblich ist des Tigers Zahn.

    Jedoch der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn."

    Tintenschlecker

    Strassmanns wohnen nun seit gut einem Jahr in Steineloh, diesem kleinen Weiler unweit von Frasnacht. Der Hauskauf und der Umzug ins eigene Heim, hatten sich umständehalber dann doch noch etwas verzögert und Ottilie auf eine mühsame Geduldsprobe gestellt. Nicht etwa, dass das mit der Finanzierung nicht geklappt hätte. Nein, nach einem energischen Abwinken von Vater, aber mit dem unmissverständlichen Verdikt von Mutter, musste er sich geschlagen geben, brummte noch ein- zwei Mal, wie es halt so seine Art ist, und ging dann zur Sparkasse, um das Ganze zu regeln.

    Doch das schon Jahrzehnte auf dem Buckel habende Einfamilienhaus war in einem eher schütteren Zustand. Die Küche, verrusst und unansehnlich mit einem holzbefeuerten Kochherd, musste total renoviert werden. Und Ottilie wollte auch, dass ein Badezimmer mit Warmwasserboiler eingebaut wird. August schlug zwar mehr als einmal die Hände überm Kopf zusammen, doch von Ottilie bekam er jeweils nur das geliebte Lächeln zu sehen und die lakonische Antwort zu hören.

    „Was denkst du, jetzt wo Vater schon in die Tasche greift, dürfen wir die Gelegenheit in keinem Fall verpassen."

    Ja, Ottilie hatte den richtigen Riecher, nahm das mühselige Warten mit stoischer Ruhe in Kauf, schon allein deswegen, weil ihre Pläne ja wie gewünscht umgesetzt wurden.

    Aber trotzdem, es war eine schwierige Zeit. Nur allein schon die betreffenden Handwerker auf den Plan zu bringen, kostete einiges an Nerven. Die meisten von ihnen mussten ja immer wieder für Wochen Aktivdienst leisten, sodass die Renovationsarbeiten nur schleppend und im Schneckentempo abliefen. Zum Glück war August mit seinen geschickten Händen da, und konnte so Manches in Eigenregie erledigen. Aber auch der sechsjährige Werner half mit, wo er nur konnte. Das heisst, häufig stand er Vater und den Handwerkern einfach nur im Weg, fragte dies und das und liess sich nicht abwimmeln, bis man ihm alles erklärt hatte.

    Der Herbst 1942 zieht ins Land. Wie jedes Jahr bemalt dieser göttliche Künstler Sträucher, Bäume und Hecken in den buntesten Farben. Und wenn die Sonne die morgendlichen Nebelschwaden weggeleckt hat, leuchtet alles in sphärischem Licht.

    Strassmanns fühlen sich wohl in ihrem Heim. Im kleinen Garten vor dem Haus blühen die Astern, die späten Johannisbeeren winken mit ihrem Rot zum Pflücken, und von der Rosenhecke am Zaun leuchten die Hagebutten.

    Heute ist ein besonderer Tag, Werners siebter Geburtstag. Auf dem Geschenktisch, neben dem kerzenbekränzten Marmorkuchen, steht ein Schulranzen mit Kalbfellrücken und glänzenden Messingverschlüssen. Freudestrahlend schlüpft Werner in die Schlaufen und Vater stellt diese schmunzelnd auf die richtige Länge ein.

    „Ja, mein Lieber, sagt er, „ab nächstem Frühjahr gehörst du dann auch zu diesen Tintenschleckern, freust du dich?

    „Ja, und wie", kräht Werner und marschiert voller Stolz in der Stube umher. Es klappert. Neugierig stellt er den Schulranzen wieder auf den Tisch und öffnet ihn. Aus dem Innern befördert er eine hölzerne Griffelschachtel mit Edelweissverzierungen, eine Schiefertafel und einen blechernen Malkasten. Er lässt die Sachen auf dem Tisch liegen und verschwindet treppauf in sein Zimmer. Sekunden später kommt er, ein Malbuch in seiner Rechten schwenkend, zurück.

    „Darf ich noch etwas Malen?", fragt er.

    „Ja", antwortet Mutter. „Aber zuerst gibt’s Kuchen und für dich eine heisse Schokolade. In zwanzig Minuten muss ich zum Dienst, dann kannst du, bis ich zurück bin, deine neuen Farbstifte ausprobieren.»

    Kurz darauf durchzieht Kaffeeduft die heimelige Stube, Mutters Marmorkuchen ist einfach köstlich und die heisse Schokolade hat Werners Oberlippe mit einem dunkelbraunen Schnauz verziert.

    Es ist zwar erst kurz nach acht Uhr abends, doch es hat schon eingenachtet. Ein steifer Wind stöhnt und pfeift um die Hausecken und klappert an den Fensterläden.

    „Auch das noch, schimpft Ottilie, schlüpft in den Wollmantel und wickelt einen dicken Schal um ihren Hals. „Hoffe nur, dass es nicht zu regnen anfängt. Also tschüss ihr beiden, in gut einer Stunde bin ich wieder zurück.

    Ottilie bekleidet seit gut einem halben Jahr das Amt einer Schrankenwärterin bei der Schweizerischen Bundesbahn. Ein verantwortungsvoller Dienst, auf den sie mächtig stolz ist. Ihr Revier ist das Wärterhäuschen beim Bahnübergang in der Nähe des Arboner Strandbads. Neben dem Schliessen und Öffnen der Schranke – mit Handbetrieb, versteht sich – hat sie auch noch das Zugseinfahrtssignal für den Bahnhof in Arbon zu stellen.

    Die Häufigkeit ihrer täglichen Einsätze ist erträglich und lässt sich gut mit ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter verbinden. Morgens um 06.30 Uhr zwei Züge innert einer halben Stunde, einer von Kreuzlingen Richtung Rorschach und St. Gallen und einer in umgekehrter Richtung. Dasselbe nochmals um die Mittagszeit und dann abends zwischen 21.00 und 22.00 Uhr.

    Den Weg zu ihrem Wärterhäuschen legt sie mit dem Fahrrad zurück, etwa drei Kilometer, alles schön geradeaus ohne Steigungen, aber durch einen Wald. Und gerade heute, wo’s so stürmisch ist und der Wind sein unheimlich knarrendes und rauschendes Lied in den Tannenwipfeln spielt, läuft es ihr beileibe etwas kalt den Rücken hinunter. Doch sie reisst sich zusammen. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind", ruft sie laut und sich Mut machend in die Dunkelheit und tritt tüchtig in die Pedale.

    Werner sitzt derweil am Tisch in der wohlig warmen Stube und widmet sich seiner Malerei. Eine wahre Freude, all diese Motive in seinem Malbuch mit den passenden Farben zu versehen. Ein Baum, eine Kuh, ein Hund. Wenn man ihm zuschaut, wie er den Stift in seiner Hand mit sorgfältig runden Bewegungen führt, und wie konzentriert er darauf achtet, nur ja nicht über den jeweiligen Motivrand hinaus zu krakeln, kommt man beinahe etwas ins Staunen. Präzision scheint diesem Knirps wie angeboren zu sein. Davon wird’s in seinem Leben noch Einiges zu berichten geben.

    Doch neben dieser Präzision gibt’s bei Werner noch eine andere Seite, eine, die nicht nur staunen, sondern pure Verblüffung auslöst.

    Vater, der gerade die Nachrichten aus dem Radio zu Ende gehört hat, steht vom Sofa auf und setzt sich zu seinem Sohn.

    „So, mein Lieber, zeig mal, was du alles gemalt hast." Neugierig beugt er sich über das Malbuch.

    „Schau nur, sagt Werner fröhlich und blättert darin. Als er die Seite mit dem Hundemotiv aufschlägt, verschlägt es Vater beinah die Sprache. Er macht einen tiefen Schnaufer, tippt mit dem rechten Zeigefinger auf das Bild und sagt mit heiterem Lachen: „Aber Werner, du hast den Hund ja grün angemalt, grüne Hunde, die gibt’s doch gar nicht, die sind doch braun.

    „Das weiss ich schon, ist Werners lapidare Antwort. „Aber braun kommt für mich nicht in Frage. Ich wollte keinen wahnsinnigen Hund malen. Wenn du nämlich von diesem Hitler sprichst, nennst du ihn immer den braunen Wahnsinnigen.

    „Ach, so meinst du das!", ruft Vater und hält sich den Bauch vor Lachen. Doch aus seinen Augen leuchtet purer Stolz.

    Seit Strassmanns in Steineloh in ihren eigenen vier Wänden wohnen, gehört das gemeinsame Musizieren auch hier regelmässig dazu. Bei ihnen in der Stube auf dem Sofa, oder draussen vor dem Haus auf der Gartenbank. Und dass bei Strassmanns musiziert wird, hat sich schnellstens herumgesprochen. An einigen Samstagabenden im vergangenen Sommer gab’s – nicht übertrieben – richtige Gartenfeste bei ihnen.

    Die meisten Gäste nahmen eigene Hocker oder Campingstühle mit, andere platzierten sich an den von August aus der Gemeindescheune organisierten Tischen und Bänken. Fürs leibliche Wohl hatte man selbstverständlich auch gesorgt. Jeder leistete seinen Beitrag, Getränke, Kuchen, Fruchtwähen, einfach alles, was es für ein fröhliches Zusammensein braucht. Unter den Gästen befanden sich jedes Mal ehemalige Nachbarn von Frasnacht, und sogar Ottilies Eltern waren einmal mit dabei.

    Für Werner, den Dreikäsehoch, ist solches Musizieren ein Hochgenuss, nein, vielmehr: sein Ein und Alles.

    Das ‘dua, dua, dua, gar so nett von Vaters Klarinett – der sanfte Schmeichelton von Mutters Akkordeon …’, was gibt’s Schöneres auf der Welt? Da jubelt die Seele und nicht nur das, Werner kann dann nicht anders, als mitsummen, und beileibe, er kennt all die Melodien schon längst auswendig.

    Doch zurück zu den beiden in die warme Stube, die auf die Rückkehr von Ottilie von ihrem Dienst warten. Vater hat sich wieder auf das Sofa zurückgezogen und liest Zeitung. Aus dem Radio rieselt leise Musik, aber draussen klappert der Wind immer noch gehörig an den Fensterläden und gegen die Scheiben klatscht der Regen. Werner ist vertieft in seine Malerei, vor sich das Motiv eines Bauernhofs – da braucht er die ganze Auswahl seiner Buntstifte.

    „Scheisswetter", murmelt Vater, „jetzt hat’s

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